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Der Nahe Osten steht vor einem großen Krieg

Eine Analyse aus Russland - Und neueste Meldungen

Israel handelt genau wie das jähzornige Genie des französischen Fußballs. Der Staat ging in eine Falle, die ein Dritter gelegt hatte.

Von Wladimir Simonow *

MOSKAU, 14. Juli - Israel muss sich jetzt buchstäblich zerreißen. Der Staat hat einen Zweifrontenkrieg vom Zaun gebrochen, um im Gazastreifen die Freiheit für den am 25. Juni gefangen genommenen Korporal Gilad Shalit bei der Hamas zu erkämpfen, und bombardiert außerdem Südlibanon, wo die Hisbollah zwei weitere, etwas später verschleppte israelische Soldaten versteckt hält.

Plötzlich scheint sich im Nahen Osten ein großer Krieg zusammenzubrauen. An einem einzigen Tag, dem 12. Juli, einem Mittwoch, haben israelische Bomben das Gebäude des palästinensischen Außenministeriums in einen Trümmerhaufen verwandelt, und aus den gleichen Gründen hat Libanon seinen einzigen internationalen Flughafen verloren. Die nächtlichen Luftangriffe Israels kosteten 27 friedliche Libanesen das Leben. Aus Gaza wird über Dutzende Opfer berichtet, unter ihnen neun Kinder, denen es nicht mehr beschieden ist, erwachsen zu werden.

Das an sich ist schon ungeheuerlich. Bei aller Bewunderung für Israel, das um der Rettung des Lebens von drei seiner Bürger bereit ist, Zerstörung zu säen, springt das Unverhältnismäßige der Vergeltung direkt ins Auge. Hierbei macht die Reaktion der internationalen Gemeinschaft dieser keine Ehre, weil absolut nicht ausbilanziert reagiert wird. Man denke sich, welcher Zorn den UNO-Wolkenkratzer packen würde, wenn neun israelische Kinder ums Leben kämen. Steht der Preis eines Menschenlebens etwa in seinem nationalen Ausweis geschrieben?

Aber am furchtbarsten ist der Verdacht, dass wahrscheinlich ein gewisser kaum auffälliger Teufel existiert, der, wie es in einem chinesischen Sprichwort heißt, "auf einem Berg sitzt und dem Kampf zweier Tiger zusieht". In diesem Fall des israelischen und des arabischen Tigers. Der Eindruck entsteht, als würde jemand den neuen Krieg im Nahen Osten mehr brauchen als die Hisbollah-Kämpfer die Befreiung aller libanesischen und palästinensischen Häftlinge aus Israels Gefängnissen.

In der Tat, diese Häftlinge sitzen dort bereits seit Jahren. Es ist nichts geschehen, was die Hisbollah zwingen würde, gerade jetzt sofortige Befreiung für sie im Austausch gegen die israelischen Gefangenen zu verlangen. Hinzu kommt, dass das große Schlachten, das Israel in Gaza veranstaltet hat, keinen Zweifel daran aufkommen lässt, wie das im Falle Libanon enden würde.

Also wollte die Hisbollah nichts so sehr, als dass Israel ihr einen recht schweren Schlag versetze.

Das war eine internationale Variante der Provokation von Materazzi gegen Zidane. Israel handelt genau wie das jähzornige Genie des französischen Fußballs. Der Staat ging in eine Falle, in der mit Hamas und Hisbollah gleich zwei Schneiden zugeschnappt sind, wobei die Falle selbst von einem Dritten gelegt wurde.

In der Tat gab es für die Hisbollah keinerlei sichtbaren Gründe, ihre heutige Lage - eine mächtige Militärorganisation und zugleich eine autoritative politische Partei der libanesischen Schiiten - aufs Spiel zu setzen. Die Hisbollah hat eine solide Vertretung im libanesischen Parlament. Das ganze Volk weiß ihre Programme der sozialen Unterstützung und medizinischen Hilfe zu schätzen. Schließlich besitzt die Hisbollah den populären TV-Sender Al-Manar, der täglich für den Ruf der Partei sorgt. All diese Gunst des Schicksals kam über die Hisbollah, nachdem sie im Mai 2000 ihr Versprechen eingelöst hatte, die israelischen Truppen aus Libanon zu verdrängen.

Warum musste Hisbollah-Führer Scheich Hassan Nasral in dieser rosigen Situation plötzlich keinen sehnlicheren Wunsch haben, als seine Partei und ihren paramilitärischen Flügel "Islamischer Widerstand" dem Hagel israelischer Bomben auszusetzen?

Eine Antwort darauf gibt uns vielleicht ein Blick in die Geschichte. Der Keim der Hisbollah entstand 1982 auf Initiative einer Gruppe von schiitischen Geistlichen. Die Organisation erstarkte und erhöhte ihr Menschenpotential im Bekaa-Tal, Seite an Seite mit den 2000 "Wachen der iranischen Revolution", die Teheran nach Libanon entsandte, um diesem im Kampf gegen die israelische Okkupation zu helfen.

Seitdem waren die Verbindungen der Hisbollah mit Iran beinahe ebenso eng wie die mit Syrien. Der Wunsch der iranischen Gönner und finanziellen Sponsoren mag bei dieser dermaßen provokatorischen und für die Hisbollah selbst so gefährlichen Aktion wie der Entführung der israelischen Soldaten die entscheidende Rolle gespielt haben.

Teheran weiß sehr wohl: Sein Katz-und-Maus-Spiel um sein nukleares Programm kann nicht ewig dauern. Die einlullenden Erklärungen von Ali Laridschani, Sekretär des Obersten Nationalen Sicherheitsrates Irans, seine Versicherungen, dass "wir uns am Anfang eines langen Weges befinden", haben inzwischen ihre Frische und somit auch ihre Wirkung verloren. Die internationale Gemeinschaft ist müde, darauf zu warten, dass auf ihr Paket von Vorschlägen eine klare Antwort kommt. Am Mittwoch versammelten sich die sechs Staaten - Russland, die USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und China - in Paris und schickten das iranische Dossier an den UN-Sicherheitsrat.

Das will keineswegs heißen, dass Russlands und Chinas Einstellung zu möglichen Sanktionen gegen Iran mit der Position der übrigen Mitglieder der Sechsergruppe zusammenfallen wird. Doch die heutige Gesinnungsgleichheit im Lager der "Giaurs" müsste die besten Köpfe in Teheran zur Suche nach einem behelfsmäßigen Ausweg motivieren.

Was könnte aber in dieser Hinsicht besser zupass kommen als ein abermaliger großer Krieg im Nahen Osten?

* Moskau; Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti; http://de.rian.ru

Agenturmeldungen

Israel setzt chemische und radioaktive Kampfstoffe gegen Palästina ein

DAMASKUS, 11. Juli (RIA Novosti). Israel setzt beim Beschuss des Gaza-Streifens chemische und radioaktive Kampfstoffe ein. Das geht aus einer Studie hervor, die das palästinensische Gesundheitsministerium von arabischen Massenmedien veröffentlichen ließ. Demgemäß würden bei der laufenden Militäroperation im Gaza-Streifen neuartige Sprengstoffe eingesetzt, die bisher unbekannte physische Verletzungen hervorrufen können.
Die Studie beruht auf der Untersuchung von Verletzten in palästinensischen Krankenhäusern. Seit Beginn der israelischen Operation im Gaza-Streifen am 27. Juni sind 249 Menschen verletzt worden. Die meisten von ihnen wurden von Geschoss-Splittern verwundet. Beim Eindringen solcher Splitter wird ein Mensch buchstäblich von innen zerrissen und verbrannt. Wie die Ärzte feststellten, kann die verheerende Wirkung der Waffe auch während der medizinischen Behandlung nicht neutralisiert werden. Die Splitter zerstören Knochen und anderes Gewebe, darunter auch innere Organe, und bilden große Schnittwunden. Die untersuchten Splitter waren mit geringen Mengen chemischer und radioaktiver Stoffe versehen.
Das palästinensische Gesundheitsministerium bittet die Völkergemeinschaft und die Menschenrechtsorganisationen, eine medizinische Kommission in den Gaza-Streifen zu entsenden, die die Verletzten erneut untersuchen und die Tatsache, dass beim Beschuss des Gaza-Streifens Kampfstoffe angewendet werden, bestätigen könnte. Außerdem fordert die palästinensische Seite, den jüdischen Staat unter Druck zu setzen und dazu zu bewegen, den Einsatz der weltweit verbotenen Waffen gegen die Zivilbevölkerung der palästinensischen Gebiete einzustellen.

Russischer Zivilschutz bringt in Palästina lebende Landsleute in Sicherheit

MOSKAU, 16. Juli (RIA Novosti). Ein Flugzeug des russischen Ministeriums für Zivilschutz fliegt am Montag nach Jordanien ab, um in Palästina lebende Staatsbürger in Sicherheit zu bringen, hat RIA Novosti im Informationsdienst des Ministeriums erfahren. Vorgesehen sei die Evakuation von 74 Staatsangehörigen Russlands und anderer GUS-Staaten, hauptsächlich von Frauen und Kindern, wird mitgeteilt. Es wird davon ausgegangen, dass diese Personen bei Unterstützung durch das russische Außenministerium mit Autobussen aus Palästina nach Jordanien gebracht werden.

Russland bereitet Evakuation seiner Staatsbürger aus Libanon vor

MOSKAU, 16. Juli (RIA Novosti). Das Außenministerium und das Ministerium für Zivilschutz Russlands koordinieren für den Extremfall den Plan zur Evakuierung russischer Staatsbürger aus Libanon, hat der Sprecher des russischen Außenministeriums, Michail Kamynin, der RIA Novosti mitgeteilt. Sollte die Evakuation beschlossen werden, werde es eine operative Mitteilung geben, sagte er. "Die russische Botschaft in Beirut befindet sich mit der Landesführung und den diplomatischen Vertretungen, deren Bürger für eine Evakuation in Frage kommen, im ständigen Kontakt", stellte er fest. Er teilte mit, dass sich in Libanon nicht nur die dort tätigen Diplomaten befinden, sondern auch deren Ehefrauen und Kinder.

Iwanow: Kontakte mit Hamas zum Abbau von Spannungen nötig

STRELNA, 15. Juli (RIA Novosti). Russland nutzt seine Kontakte mit der Hamas, um Spannungen im Nahen Osten abzubauen. Das erklärte Russlands Vizepremier und Verteidigungsminister Sergej Iwanow am Sonnabend vor der Presse am Rande des G8-Gipfels in Strelna.
"Russland nutzt die bestehenden Kontakte zur Hamas, um seine Position zur Nahostregelung zur erläuten, u. a. was die Verhinderung der Anwendung terroristischer Kampfmethoden anbelangt, und u. a. im Interesse einer diplomatischen Anerkennung der Nachbarstaaten und der Respektierung der Rechte der Nachbarn", sagte Iwanow. Darauf angesprochen, ob er mit dem Aufruf der USA einverstanden ist, die Bewegung Hisbollah zu entwaffnen, sagte Iwanow: "Vielleicht wird jemand einen Ratschlag geben können, wie sie zu entwaffnen ist? Ich wäre dankbar dafür." Journalisten nahmen Iwanows Worte mit Gelächter auf.




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