Mythos und Wahrheit
Der Historiker Shlomo Sand über die Erfindung des jüdischen Volkes und des Landes Israel
Ob die Parlamentswahlen in Israel zu
einem Kurswechsel führen, ist dahingestellt.
Klar ist: Israel muss sich neu
finden, neu erfinden. Shlomo Sand,
Vertreter der Generation der sogenannten
Neuen Historiker in Israel,
gehört zu den schärfsten Kritikern der
Politik Tel Avivs insbesondere gegenüber
den Palästinensern. Nach
seinem Bestseller »Die Erfindung des
jüdischen Volkes« (s. ND vom 22./23.
Mai 2010) wendet er sich in seinem
neuen Buch »Die Erfindung des Landes
Israel. Mythos und Wahrheit«
(Propyläen, 396 S., geb., 22,99 €; aus
dem Hebräischen von Michael Lemke)
dem aus seiner Sicht zweiten
Gründungsmythos des vor 65 Jahren
ins Leben gerufenen jüdischen Staates
zu: dem »angestammten Land«,
Eretz Israel. Mit Shlomo Sand, geboren
1946 als Kind polnischer ShoahÜberlebender
in einem DP-Lager in
Linz, seit 1949 in Israel, Dozent für
Geschichte an der Universität Tel
Aviv, sprach Karlen Vesper.
Was hat Sie bewogen, Ihrem
Buch »Die Erfindung des jüdischen
Volkes« noch ein zweites Buch
»Die Erfindung des Landes Israel«
folgen zu lassen. Ist nicht im ersten
schon alles gesagt?
Nein. Damals ging es mir um die
imaginierte Ethnie. Es gibt nicht
»das jüdische Volk«. Das ist ein
biblischer Mythos. Auch nicht die
jüdische Nation. Als sich in Europa
Nationalstaaten bildeten, haben
jüdische Intellektuelle eine Identitätsgeschichte
konstruiert, die sich
aus der Theologie speist.
Im »nd« Interview vor über zwei
Jahren erzählten Sie, israelische
Forscher versuchten gar ein »jüdisches
Gen« nachzuweisen.
Ein krudes Spektakel. Die Juden
sind keine Rasse. Das ist eine Erfindung
des Antisemitismus, von
Zionisten aufgegriffen. Sie suggerieren,
die Juden gehörten einem
antiken Volksstamm an, einer
ewigen »Ethnie«, die in einer
schicksalhaften Stunde, als sie
vernichtet werden sollte, ins »Land
der Väter« zurückkehrte, aus dem
sie vor über 2000 Jahren verjagt
wurde. Doch die Römer haben
keine Vertreibungspolitik betrieben.
Der Mythos diente den Zionisten
zur Eroberung Palästinas
und Vertreibung der dort ansässigen
Bevölkerung. Gegenfrage:
Fühlt sich denn die Mehrheit der
Deutschen dem antiken teutonischen
Volksstamm zugehörig?
Das glaube ich nicht.
»Eretz Israel« ist eine Chimäre.
Wahr ist, dass die Universität, an
der ich lehre, auf den Trümmern
eines ausgelöschten arabischen
Dorfes steht. Kein Professor vor
mir auf dem Lehrstuhl hat dies je
erwähnt. Ich widmete mein zweites
Buch den Dorfbewohnern von
Al-Scheich Muwannis, die vertrieben
und entwurzelt wurden.
Ihr erstes Buch hatte heftige
Debatten ausgelöst. Antworten Sie
mit dem zweiten auf die Kritik?
Nein, weil die Kritik zumeist nicht
ernsthaft war. Vor allem die aus
dem Ausland. In Israel war mein
Buch wochenlang auf der Bestsellerliste,
es wurde an den Universitäten
diskutiert. Und es kann
wahrlich keiner bestreiten, dass es
doch kein jüdisches Volk und keine
jüdische Nation gibt, wie es auch
kein christliches, buddhistisches,
hinduistisches oder muslimisches
Volk und keine christliche, buddhistische,
hinduistische oder
muslimische Nation gibt.
Sie argumentieren rein säkular.
Es ist meine Pflicht als Historiker,
falsches Bewusstsein aufzubrechen.
Ich übersehe nicht die Affinität
vieler Juden zum sogenannten
Heiligen Land. Ihre Beziehung
zu Jerusalem ist vergleichbar jener
der Muslime zu Mekka. Aber nicht
alle Muslime leben in Mekka. Übrigens:
Selbst Stammvater Abraham
und Moses sind erst ins spätere
»Gelobte Land« eingewandert.
Juden sind in den USA, Frankreich,
Deutschland, Ägypten, Jemen,
Syrien etc. zu Hause, teilen
die Sprache, Kultur, Mentalität der
dortigen Bevölkerung. Sie rekrutierten
sich aus dieser und sind
keine, wie Antisemiten behaupten,
fremde »Ethnie«, die von weit her
kam und das »eigene« Volk infiltrierte
und »infizierte«.
Aber sie sind auch oft erst in jene
Staaten emigriert, die zu ihrer
Heimat wurden, so russische Juden,
bedrängt durch die Pogrome
im Zarenreich. Und später auf der
Flucht vor den mörderischen Antisemitismus
der Nazis.
Das ist richtig, widerlegt aber nicht
meine Theorie. Diese Leiderfahrung
erschwert es, die Wahrheit zu
akzeptieren. Die Selbstwahrnehmung
als »auserwähltes Volk« hat
den Überlebenswillen und den
Widerstand gegen Erniedrigung
und Verfolgung durch die Jahrhunderte
bewahrt und gestärkt.
Aber deshalb kann ich doch nicht
schweigen, wenn Zionisten und
Pro-Zionisten Palästina für sich
reklamieren. Auch die Kreuzritter
hatten kein historisches Recht, sich
des Landes zu bemächtigen, trotz
starker religiöser Bindungen an
ihre heiligen Stätten dort.
Aber Sie leugnen nicht, dass für
Juden die mythsiche Erinnerung
an das »Gelobte Land« wirkungsmächtiger
ist als irgendein anderer
Mythos für andere Religionsgemeinschaften?
Die jüdische Sehnsucht nach Zion
verführte die Mehrheit der Juden,
auch strenggläubige, nicht dazu,
ein Eigentumsrecht zu artikulieren.
Das »Eretz Israel« zionistischer
und israelischer Autoren ist
nicht identisch mit dem Heiligen
Land meiner Vorväter, die tief in
der jiddischen Kultur Osteuropas
verwurzelt waren. Und erst durch
die einwanderungsfeindliche Gesetzgebung
der USA in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts gelangten
größere Flüchtlingsströme
in den Nahen Osten. Hätte es diese
restriktive Immigrationspolitik der
USA und anderer Staaten nicht
gegeben, wäre der Staat Israel
womöglich niemals entstanden.
Neben der Heiligen Schrift dient
der zionistischen Historiographie
die Belfour-Deklaration von 1917
als Legitimation des Anspruchs der
Juden auf »Eretz Israel«.
Die nach dem damaligen britischen
Außenminister genannte
Deklaration versprach den Juden
eine »nationale Heimstätte« im
noch unter der Herrschaft der Osmanen
befindlichen Palästina.
Ich frage Sie: Warum hat Lord Belfour
die Opfer der Pogrome in Osteuropa
nicht nach Großbritannien
eingeladen? Nach Karl Marx wiederholt
sich Geschichte zwei Mal:
Zunächst tritt sie als Tragödie auf,
dann als Farce. Anfang der 80er
Jahre beschloss US-Präsident Ronald
Reagan, den Juden im »Reich
des Bösen«, wie er die Sowjetunion
nannte, die Einreise in die USA zu
gestatten. Viele ergriffen die
Chance. Doch das passte der israelischen
Regierung nicht, sie übte
Druck auf Washington aus, damit
sich die Tore wieder schließen.
Man wollte, dass die Juden aus der
Sowjetunion und anderen kommunistischen
Staaten nach Israel
einwandern. Dabei ging man sogar
eine Kumpanei mit Rumäniens
Diktator Ceausescu und seinem
Geheimdienst Securitate ein. Mit
Bestechungsgeldern erreichte
man, dass mehr als eine Million
Juden in ein Land reisten, in dem
sie eigentlich nicht leben wollten.
Aber Sie leben gern in Israel?
Natürlich! Das ist meine Heimat.
Und die von Henryk M. Broder ist
Deutschland. Er hat nicht für Israel
gekämpft, sein Leben riskiert wie
ich. Ich lebe seit meinem dritten
Lebensjahr in Israel, bin ein Israeli
mit Wurzeln in der jüdischen Kultur.
Mein Vater gab mir universale
Werte und Sinn für Gerechtigkeit
mit auf den Weg. Das Land soll allen
gehören, die darauf leben, ihre
Häuser gebaut haben, den Boden
beackern, hier Kinder zeugen und
großziehen. Die angebliche jüdische
Heimkehr nach 2000 Jahren
diente der Kolonialisierung und
Verdrängung einer indigenen Bevölkerung,
wie es die Puritaner in
Nordamerika oder die Buren in
Südafrika taten.
Nun ist aber durch den Massenmord
der Nazis an den Juden Europas
eine andere, unvergleichbare
Situation entstanden.
Die Shoah kann nicht mehr alles
entschuldigen. Das wäre nicht nur
für den Staat Israel gefährlich,
sondern für alle Juden rund um
den Globus. Man kann generell mit
den großen Verbrechen in der Geschichte
Revisionismus nicht begründen.
Dann müssten wir die
politische Landkarte gründlich
umgestalten, so wie sie vor Tausenden
oder Hunderten von Jahren
aussah. Das würde ein Chaos
geben, Gewalt und Wahnsinn inklusive.
Man müsste die Reconquista
rückgängig machen, die
Araber dürften sich wieder auf der
Iberischen Halbinsel ansiedeln.
Die Indianer erhalten Manhattan
zurück, alle Weißen und Schwarzen
müssten New York verlassen.
Und die Serben, Nachfahren der
Sieger in der Schlacht auf dem
Amselfeld 1389, dürften sich wieder
im Kosovo ansiedeln dürfen.
Übertreiben Sie da nicht?
Überhaupt nicht. Geschichte ist
nicht nur eine Welt der Ideen, sondern
konkret Zeit und Raum
menschlichen Handelns. Die Juden,
die in den 20er Jahren Hollywood
gründeten, kamen aus dem
osteuropäischen Schtetl, nicht aus
Palästina. Rabbi Nachman von
Bratslav, dessen Grab im ukrainischen
Uman Pilgerort der chassidischen
Juden ist, und der selbst
1789/99 nach Palästina pilgerte,
als dort gerade auch Napoleon
weilte, hat das Land nie als nationales
Eigentum angesehen, sondern
als ein spirituelles Zentrum.
Er kehrte demütig in sein Geburtsland
zurück, wo er hoch geachtet
starb und ehrenvoll beigesetzt
wurde. Die ersten Siedler in der
Ukraine waren jüdisch. Und ich
sage Ihnen noch etwas: Ende des
19. Jahrhunderts war unter Zionisten
auch Uganda im Gespräch.
Wie kann der Nahostkonflikt
gelöst werden? Was halten Sie von
der neuerdings wieder diskutierten
Ein-Staat-Lösung?
Sie wäre optimal, aber ich bin nicht
so infantil, zu glauben, das würde
jetzt oder in naher Zukunft funktionieren.
Auch eine Konföderation
ist derzeit irreal. Die Mehrheit der
jüdischen Israelis denkt rassistisch
und favorisiert eine Art Apartheid.
Doch wir können nicht in ständiger
Feindschaft und im ewigen Krieg
leben. Unser Militär muss sich aus
den besetzten Gebieten zurückziehen.
Wir dürfen keine neuen Siedlungen
bauen. Sonst schüren wir
immer nur neuen Judenhass, der
neue Gewalt gebiert. Die Palästinenser
haben Israel anerkannt.
Israel muss auf die Palästinenser
zugehen – und zwar nicht in Besatzungsstiefeln.
Sind Sie für eine UN-Mitgliedschaft
der Palästinenser?
Aber natürlich. Eine Vollmitgliedschaft
ist eine wichtige Voraussetzung
für endlichen Frieden.
Wie viele Israeli denken wie Sie?
Nicht genügend. In Tel Aviv aber
gibt es viele, die wie ich denken.
Was entgegnen Sie dem Vorwurf,
Sie würden Wasser auf die
Mühlen der Antisemiten gießen?
Ich weiß, in Deutschland gilt jede
Kritik an Israels Politik als Antisemitismus.
Ich bin Antisemiten wie
Zionisten und Pro-Zionisten ein
Ärgernis. Ich schreibe mit Sympathie
für die Palästinenser, glaube
an ihr Recht auf ihre nationale
Heimstätte und verteidige das
Existenzrecht des Staates Israel.
Dessen Gründung vor nunmehr
65 Jahren Sie als Akt der Vergewaltigung
bezeichnen.
Aber die Kinder einer Vergewaltigung
sind doch nicht illegitim. Ich
möchte, dass alle Menschen, die in
Israel leben, gleich behandelt werden,
egal welcher Herkunft oder
Religionszugehörigkeit sie sind.
Können Araber Antisemiten
sein, wenn sie selbst Semiten sind?
Ein solcher Vorwurf wäre in der
Tat problematisch. Deshalb bevorzuge
ich den Begriff »Phobie«,
Islamophobie oder Judenphobie.
Es gibt unbestreitbar heftige Judenphobie
in der arabischen Welt.
Und diese wurde mit der Gründung
des Staates Israel 1948 geweckt
oder befördert?
Eigentlich erst mit dem 1967er
Krieg. Trotz der Nakba, der Vertreibung
der Palästinenser 1948,
war die Judophobie unter Arabern
anfangs nicht so stark wie ab 1967.
Und in den letzten Jahren wurde
sie schlimmer und schlimmer. Wir
müssen endlich den palästinensischen
Staat anerkennen.
Sie waren im Sechstage-Krieg.
Wir wurden in den Kampf um Jerusalem
geschickt. Meine Kameraden
fühlten sich als »Heimkehrer
« in die Stadt des Königs David,
ich nicht. Und ich erschrak über
die Brutalität gegen Palästinenser.
Was haben Sie erlebt?
Nach dem Krieg, im September
1967, stand ich Wache vor einer
Polizeistation eingangs von Jericho.
Plötzlich hörte ich furchtbare
Schreie. Ich rannte ins Gebäude
und sah, wie die Kameraden einen
alten, gefesselten Palästinenser
schlugen und mit brennenden Zigaretten
traktierten. Ich stolperte
hinaus und übergab mich. Kurz
darauf kamen meine Kameraden
mit der Leiche raus, warfen sie auf
einen Wagen und riefen mir zu, sie
würden zum Jordan fahren. Vielleicht
haben sie ihn an der Stelle
ins Wasser geworfen, wo nach
mythologischer Überlieferung die
»Kinder Israels« den Jordan überquerten
auf dem Weg in das ihnen
von Gott verliehene Land? Es war
für mich ein traumatisches Erlebnis,
über das ich lange nicht sprechen
konnte.
Wie sehen Sie die Zukunft des
Staates Israels?
Als Historiker scheue ich zwar
Prophezeiungen, doch diese wage
ich: Der Mythos von der Exilierung
und der Heimkehr der Juden, der
im 19./20. Jahrhundert als Folge
nationalistischen Antisemitismus
in Europa unter Juden virulant
war, wird im 21. Jahrhundert
sukzessive verschwinden.
* Aus: neues deutschland, Montag, 21. Januar 2013
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