Kritik an der israelischen Armee
Übermässiger Gewalteinsatz in den besetzten Gebieten - Ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Btselem
Die israelische Menschenrechtsorganisation Btselem hat einen Bericht
vorgestellt, worin den israelischen Sicherheitskräften ein übermässiger
Gewalteinsatz gegen palästinensische Demonstranten vorgeworfen wird.
Die Armee rechtfertigt den Waffengebrauch mit der kriegsähnlichen Lage
in den palästinensischen Gebieten.
Das israelische Zentrum für Menschenrechte in den besetzten Gebieten,
Btselem, hat die israelischen Sicherheitskräfte in einem kürzlich vorgestellten
Bericht beschuldigt, tödliche Verletzungen von unbewaffneten Demonstranten
durch übermässige Gewaltanwendungen bei Unruhen in Kauf zu nehmen. Israels
Armee breche dabei internationales Recht, das die Anwendung von Waffengewalt
nur in dem Masse erlaubt, wie es zur Selbstverteidigung notwendig ist. Zwar
würden auch Angehörige der palästinensischen Autonomiebehörde zu den
Unruhen beitragen, jedoch sei vor allem die israelische Seite für die schweren
und in vielen Fällen tödlichen Verletzungen unter den steinewerfenden
Demonstranten verantwortlich. Btselem fordert eine Verschärfung der Regeln für
den Schusswaffengebrauch sowie die Einsetzung einer internationalen
Kommission zur Untersuchung der Unruhen. Die israelischen Verteidigungskräfte
(IDF) wiesen diese Vorwürfe zurück und begründeten den Waffeneinsatz mit dem
Recht auf Notwehr und Abschreckung in einer kriegsähnlichen Situation.
Unkontrollierter Schusswaffengebrauch
Der 50 Seiten starke Bericht basiert nach eigenen Angaben unter anderem auf
eigenen Recherchen sowie auf Zeugenaussagen, darunter auch solche
israelischer Soldaten. Danach seien Schusswaffen mit potenziell tödlicher
Munition auch bei Unruhen zum Einsatz gekommen, während deren es keine
Schüsse von palästinensischerSeite gegeben habe. Nach Angaben der
israelischen Armee kamen bei etwa einem Drittel derUnruhen Schusswaffen von
palästinensischer Seite zum Einsatz.
Die Verletzungen der Opfer sprechen zudem dafür, dass nicht auf die Beine,
sondern oft auf den Oberkörper und den Kopf gefeuert werde. Dies verstosse
gegen internationales Recht über den Einsatz von Waffengewalt. Nach Aussagen
israelischer Soldaten werden die Regeln sehr variabel ausgelegt, abhängig vom
Ort und von der politischen Situation. Nach den Lynchmorden von Ramallah
seien Schusswaffen häufiger zum Einsatz gekommen. Die IDF verlautbarten,
dass die Einsatzregeln der jeweiligen Lage angepasst und nicht öffentlich
gemacht würden, um für den Gegner nicht berechenbar zu werden. Btselem
kritisierte ausserdem, dass es keine Sanktionen gegen Soldaten gebe, die die
Regeln brechen. Der israelische Oberst Daniel Reisner hatte vor einem Monat
bestätigt, dass es keine Untersuchungen gegen Soldaten gebe und in einer
kriegsähnlichen Situation auch nicht geben werde. Laut einer Pressemitteilung
der IDF zum Btselem-Bericht ist aber mittlerweile in einem Fall eine
Untersuchung eingeleitet worden, weitere werden geprüft.
Btselem kritisiert die Sicherheitskräfte zudem, dass sie es versäumt hätten,
nichttödliche Waffen zur Vertreibung gewalttätiger Demonstranten zu entwickeln.
Stattdessen würden häufig sogenannte Gummigeschosse abgefeuert, das sind
Geschosse aus Stahl mit dünnem Gummimantel. Laut einer Untersuchung der
Organisation Ärzte für Menschenrechte deute die Schwere der Verletzungen im
Kopfbereich durch diese Geschossedarauf hin, dass die Verwendungsregeln
nicht eingehalten werden. Dabei werden laut Btselem die Dreier-Geschosse in
Einzelpatronen aufgebrochen, aus Distanzen von unter 40 Metern auch auf
Kinder abgefeuert.
Kinder werden instrumentalisiert
Oberst Reiser sagte vor einigen Wochen, dass man lange nach Mitteln gesucht
habe, gewalttätige Demonstrationen ohne den Einsatz von Schusswaffen
aufzulösen - jedoch ohne Erfolg. Herkömmliche Mittel wie Wasserwerfer und
Tränengas seien aus einer Entfernung von mehr als 100 Metern ineffektiv. Trotz
Schutzausrüstung müssten Soldaten diese Distanz einhalten, da sie sonst ein
zu hohes Risiko eingingen, erschossen zu werden. Er unterstrich, dass die
Sicherheitskräfte beim Waffeneinsatz grösstmögliche Vorsätze walten liessen,
mochte aber gelegentliche Überschreitungen nicht ausschliessen. Die Schuld an
der Eskalation trage aber die palästinensische Seite, da sie - im Gegensatz zu
der Intifada von 1987 bis 1992 - den Gebrauch von Schusswaffen billige und
fördere. Die Opfer, insbesondere Kinder, würden als Mittel zur Umstimmung der
Weltöffentlichkeit in Kauf genommen und damit für die eigenen politischen
Zwecke instrumentalisiert.
Auch Btselem kritisiert, dass die palästinensischen Sicherheitskräfte zu wenig
unternehmen, um Kinder an der Teilnahme an Ausschreitungen zu hindern.
Dasselbe gelte für den Schusswaffengebrauch aus den Wohnhäusern
unbeteiligter Palästinenser heraus, die danach Opfer von israelischen
Vergeltungsangriffen werden. Dennoch will Btselem dies nicht als
Entschuldigung für die Anwendung übermässiger Gewalt gelten lassen. Auch im
Krieg hätten Menschenrechte zu gelten, und nicht jedes Mittel sei zur Erreichung
eines Zieles gerechtfertigt.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 19. Dezember 2000
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