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Junge Israelis ohne Lobby

Protestzelten gegen unbezahlbare Wohnungen in den Großstädten

Von Oliver Eberhardt *

Arbeiten vor allem für den Vermieter: Viele junge Israelis leiden unter kaum bezahlbaren Mieten. Aus Protest dagegen sind einige Hundert von ihnen nun in Zeltlager mitten in Israels Städten gezogen.

Jonathan Hass ist frustriert. »Ich habe mir gestern Abend eine Wohnung angeschaut«, erzählt der 27-jährige Juraabsolvent: »Zwei Zimmer, Küche, Bad, nicht ganz so toll gelegen, aber es ging noch, für um die 3500 Schekel (715 Euro). Doch dann kam's: Der Vermieter wollte zwei Monatsmieten Kaution, plus, plus, plus – ich hätte für die Wohnung auf einen Schlag 15 000 Schekel (3060 Euro) auf den Tisch legen müssen. Wer hat so viel Geld herumliegen?«

Die jungen Israelis, die seit einigen Tagen gemeinsam mit Jonathan Hass auf einem Grünstreifen in der Mitte des Tel Aviver Rothschild-Boulevards zelten, haben solche Summen jedenfalls nicht zur Verfügung: Sie sind einem Aufruf bei Facebook gefolgt, hier, im Herzen des Bankenviertels der israelischen Finanzmetropole, für bezahlbare Wohnungen zu demonstrieren.

»Ich hatte mich gerade ganz furchtbar geärgert«, berichtet die 25-jährige Filmemacherin Daphni Leef, die den Aufruf in das soziale Netzwerk gesetzt hat: »Ich hatte mein Juli-Gehalt bekommen und musste sofort die Hälfte davon an meinen Vermieter überweisen. Ich habe mich gefragt, ob ich eigentlich die Einzige bin, die dieses Problem hat.«

Die Antwort kam sofort: Innerhalb von Minuten hatten die ersten den Aufruf unterstützt; innerhalb von Stunden waren ein paar Dutzend daraus geworden. Am nächsten Tag standen die ersten Zelte auf dem Rothschild-Boulevard; ein paar Tage später waren es ein paar Hundert. Inzwischen sind auch in so gut wie allen anderen israelischen Großstädten Zeltstädte entstanden. Das Motto: »Wir bleiben, bis die Mieten sinken«, sagt Leef.

Doch ob das so bald geschehen wird, ist fraglich. »Zu allererst gibt es nicht genug von den Wohnungen, die die jungen Leute suchen«, sagt der Stadtplaner Israel Goldberg von der Universität Tel Aviv, »und dann ist der Markt für diese Wohnungen weitgehend unreglementiert. Die Vermieter haben weitestgehend freie Hand bei der Festsetzung von Mieten und Kautionen. Sie haben diese Wohnungen irgendwann gekauft, um in Zukunft eine Einnahmequelle zu haben, nachdem sie selbst in eine größere Wohnung gezogen sind. Selbstverständlich fordern sie dann, was der Markt hergibt. Um das Problem zu lösen, müsste der Markt stärker reguliert werden – und es müssten mehr kleine Wohnungen gebaut werden.«

Nur: Es gibt niemanden, der dazu bereit wäre. Private Bauträger haben sich schon vor Jahren ausschließlich auf zahlungskräftige Neueinwanderer aus Westeuropa und Nordamerika konzentriert und ziehen an jeder Ecke Luxus-Appartements hoch. Die werden von den Kommunen gerne genehmigt, sie versprechen sich davon eine Aufwertung ihrer Schmuddelecken. Der öffentliche Wohnungsbau konzentriert sich derweil auf Großfamilien, die einen beträchtlichen Teil der israelischen Bevölkerung ausmachen und im Parlament eine starke Lobby haben.

Eine Lobby, auf die junge Israelis nicht zurückgreifen können. Zwar gaben sich die Politiker von links bis rechts die Klinke in die Hand, nachdem die ersten Medien über den Zeltprotest berichtet hatten. Aber wirkliche Lösungsvorschläge konnte keiner anbieten. »Es ist ein komplexes Problem«, sagt Nitzan Horowitz, Abgeordneter der linksliberalen Meretz-Partei, »wir werden versuchen, das Wohnungsbauministerium zu verpflichten, Wohngemeinschaften bei der Vergabe von Sozialwohnungen zu berücksichtigen. Gerne würde ich auch Bauinvestoren dazu verpflichten, dass sie 30 Prozent ihrer Wohnungen zu bezahlbaren Preisen anbieten, und private Vermieter dazu, Bankbürgschaften als Kaution zu akzeptieren – aber das kriegen wir nicht durchs Parlament.«

Denn Vermieter und Investoren haben vor allem im wirtschaftsliberalen Likud-Block von Premierminister Benjamin Netanjahu großen Einfluss, weshalb die Regierung auch immer wieder erklärt, man sehe keinen Handlungsbedarf: »Alle jungen Leute wollen in Tel Aviv leben«, sagt ein Sprecher Netanjahus. Dabei gebe es doch am Rande ausreichend Wohnungen zu anständigen Preisen. Eine Aussage, die Daphni Leef und Jonathan Hass wütend macht. »Was um Himmels Willen soll ich an der Peripherie?«, fragt Hass. »Ich bin Anwalt, habe gerade meinen ersten Job bekommen, und der ist nun mal hier. Soll ich meine Karriere für eine bezahlbare Wohnung aufs Spiel setzen?«

* Aus: Neues Deutschland, 22. Juli 2011


Tel Avivs Empörte

Proteste in Israel: Teurer Wohnraum läßt Siedlungsbau boomen

Von Karin Leukefeld **


Aus Protest gegen steigende Wohnungspreise haben Hunderte Demonstranten im Zentrum von Tel Aviv eine Zeltstadt errichtet. Begonnen hatte die Aktion Ende letzter Woche (17. Juli), als Hunderte junge Leute ihre Zelte auf dem Rothschild-Boulevard aufschlugen, der durch eines der Reichenviertel in Tel Aviv verläuft.

Seit dem Wochenende erhalte das Lager enormen Zulauf, heißt es auf der Webseite »Sustainable City Blog«, die sich kritisch mit der Stadtentwicklung von Tel Aviv auseinandersetzt. Der Stadtrat hätte offenbar erkannt, daß das Protestcamp schlecht für sein Image sei, zumal die internationale Presse ausführlich über das Geschehen berichtete. Der Versuch, eine bereits erteilte polizeiliche Genehmigung rückgängig zu machen, schlug fehl. Der Besuch der beiden Bürgermeister Ron Huldai und Assaf Zamir in der Zeltstadt endete mit Pfiffen, Getränkeduschen für die beiden und der Aufforderung, die »Bürgermeister für die Reichen« sollten verschwinden. Die Demonstranten auf dem Rothschild-Boulevard wollen so lange bleiben, bis ein Gesetz verabschiedet wird, das bezahlbaren Wohnraum garantiert.

Unterstützt wird die Protestaktion vom Nationalen Studierendenverband, der zu ähnlichen Aktionen in anderen Teilen des Landes aufrief. Geplant sind demnach Aktionen an der Universität von Beerscheba und im nahe der libanesischen Grenze im Norden gelegenen Kiriat Schmona. Erste Stimmen sprechen schon davon, daß der »Arabische Frühling« nun auch Israel erreicht habe.

Hintergrund der Proteste sind massive Preiserhöhungen bei Mieten, die vor allem in Tel Aviv jungen Menschen das Anmieten, geschweige denn den Kauf von eigenem Wohnraum fast unmöglich machen. Für eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung in Tel Aviv oder Jerusalem müssen Käufer bis zu 350000 Euro bezahlen. Allein im vergangenen Jahr stiegen die Immobilienpreise um 16 Prozent, eine höhere Teuerungsrate wurde auf dem internationalen Immobilienmarkt nur in Hongkong und Singapur verzeichnet. Selbst der Chef der israelischen Zentralbank, Stanley Fischer, sprach kürzlich von einer gefährlichen »Immobilienblase«, die Israels Wirtschaft in eine tiefe Krise stürzen könne. Da junge Paare und Familien sich keinen Wohnraum mehr in der Stadt leisten können, weichen viele auf die Gebiete in der palästinensischen West Bank aus, wo Israel den Siedlungsbau immer mehr ausweitet. Bauland dort wird kostenlos oder sehr günstig angeboten, es gibt subventionierte Kredite, Eigenkapital wird kaum verlangt.

Nicht nur die Preise auf dem Immobilienmarkt sind in Israel in schwindelnde Höhen geschossen. Auch die Preise für Grundnahrungsmittel und Transportkosten sind für normale Familien mit einem durchschnittlichen Einkommen von etwa 1800 Euro kaum noch zu schultern. Vor einigen Wochen waren bereits Proteste am gestiegenen Preis für Hüttenkäse entbrannt, der in Israel zu den Grundnahrungsmitteln zählt. Aus Ärger über die Teuerung – pro Becher (250 g) von umgerechnet etwa 1,40 Euro auf mehr als zwei Euro – hatten Verbraucher zu einem Boykott des Käses aufgerufen. Während einer Debatte über die hohen Lebenshaltungskosten in der Knesset, dem israelischen Parlament, hatte ein Abgeordneter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu einen Becher mit Hüttenkäse überreicht und gesagt, es handele sich um rin »besonders kostbares Geschenk«. Milchprodukte sind in Israel generell teuer. Laut einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) liegt das Land beim Preis für diese Erzeugnisse hinter Japan und Norwegen auf dem dritten Platz. Allerdings sind die Kosten erst angestiegen, nachdem die staatliche Preiskontrolle 2010 aufgehoben worden war. Benzin in Israel kostet derzeit 1,50 Euro pro Liter, für Autos muß man im Vergleich zu europäischen Preisen das Doppelte zahlen. Textilien sind um bis zu 30 Prozent teurer, ebenso die Gebühren für Mobiltelefone und Kabelfernsehen.

** Aus: junge Welt, 22. Juli 2011


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