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Netanjahu "bei seinen Wurzeln"

Israels Premier erhebt Anspruch auf gesamtes Westjordanland

Von Oliver Eberhardt *

Nach der Aufwertung Palästinas zum Beobachterstaat bei den Vereinten Nationen will Israels Regierung den Siedlungsbau vorantreiben; außerdem sollen Transferzahlungen zurückgehalten werden. Die Entscheidung ist selbst in der Koalition umstritten - doch die Rechte, die Premierminister Netanjahu als Wähler gewinnen will, applaudiert.

Der Regierungschef hat viel geredet zu Beginn der wöchentlichen Kabinettssitzung am Sonntag. Darüber, dass die Palästinenser keinen Frieden wollen, auch darüber, dass man weiter in Jerusalem und auch überall dort bauen werde, wo es im »strategischen Interesse« Israels sei, solange es keine Verhandlungsergebnisse mit den Palästinensern gebe - Dinge also, die Israels Vertreter bereits sagen, seit die palästinensische Führung versucht, Palästina zum Mitglied der Vereinten Nationen zu machen.

Doch als die Medienvertreter den Raum verlassen hatten, beschloss das Kabinett auf Antrag von Premierminister Benjamin Netanjahu eine Resolution, der ein Satz vorangestellt ist, »der alles, was davor und danach gesagt worden ist, zur Lüge macht«, wie Israels größte Zeitung »Jedioth Ahronoth« am Montag zusammenfasste: »Das jüdische Volk hat ein natürliches, historisches und juristisches Recht auf seine Heimstatt und dessen ewige Hauptstadt Jerusalem als den Staat des jüdischen Volkes und ein Anrecht auf Gebiete im Land Israel, deren Status umstritten ist.«

Ein Satz, der für Jubel bei Israels Rechten und noch viel mehr Applaus bei der Siedlerbewegung sorgte. Es sei das erste Mal, dass eine Regierung »Judäa und Samaria«, die biblische Bezeichnung für das Westjordanland, zum Teil des Staates Israel erkläre, heißt es beim Jescha-Rat, einem einflussreichen Siedlergremium, das die Resolution als »historische Erklärung« feiert. Netanjahu sei »endlich zu seinen Wurzeln zurückgekehrt«.

Die Wurzeln: Der sogenannte »Revisionismus«, eine Richtung innerhalb der zionistischen Bewegung, die ein Groß-Israel propagiert, das das Westjordanland und Gaza einschließt. Netanjahus Vater Professor Ben Zion Netanjahu, ein Historiker, war einer der Vordenker des Revisionismus; sein Sohn hat sich bisher nie öffentlich dazu geäußert - und wurde deshalb vom rechten Rand des Likud-Blocks, einem Bündnis aus Parteien, deren Ideologie zum Teil auf dem Revisionismus fußt, stets misstrauisch beäugt.

Israels Medien gehen deshalb allgemein davon aus, dass der Premierminister durch die Resolution - aber auch durch die Forcierung des Siedlungsbaus und die Einstellung der Steuerzahlungen an die Palästinenser - diesen rechten Rand gnädig stimmen und Wähler aus dem ultrarechten Lager auf die Seite des Likud bringen möchte. Denn dort wird ihm der plötzliche Waffenstillstand mit der Hamas im Gaza-Streifen als »Einknicken« zur Last gelegt. Schon vor einer Woche rächten sich die Likud-Mitglieder dafür, indem sie beim Parteitag die Wahlliste für die Parlamentswahlen im Januar mit rechten Kritikern Netanjahus besetzten, womit seine politische Handlungsfähigkeit weiter eingeschränkt wurde.

Aber das Zugeständnis an die Rechte könnte von Netanjahu mit der Macht bezahlt werden müssen: Die Kritik an seinem Handeln ist sehr viel größer als die Zustimmung. Erste Umfragen deuten darauf hin, dass dem Likud die Wähler der Mitte weglaufen könnten. Denn für sie ist das Westjordanland ein Land, von dem man sich gerne trennen würde.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 04. Dezember 2012


+ Flut an Provokationen

Internationale Kritik an israelischer Reaktion auf Anerkennung Palästinas als UN-Beobachterstaat

Von Karin Leukefeld **


Weltweit ist die Ankündigung des Baus neuer Siedlungen in den palästinensischen Gebieten auf scharfe Kritik gestoßen. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte am Montag in Berlin, die Bundesregierung sei »äußerst besorgt« über die Ankündigung der israelischen Regierung. Der fortgesetzte Siedlungsbau würde das Land für die Palästinenser weiter verkleinern und eine Zwei-Staaten-Lösung – die auch die Bundesregierung wolle – erschweren. Schweden, Großbritannien und Frankreich bestellten die israelischen Botschafter ein und dachten öffentlich über den Rückzug ihrer Botschafter aus Israel nach.

Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte unmittelbar nach der Abstimmung bei den Vereinten Nationen über die Anerkennung Palästinas als Beobachterstaat am vergangenen Donnerstag angekündigt, den illegalen Siedlungsbau auszuweiten. 3000 Häuser und Wohnungen sollen demnach in Ostjerusalem und in dem als »E-1« bezeichneten Gebiet in der von Israel besetzten Westbank gebaut werden. Ziel sei nach Angabe des israelischen Finanzministers Yuval Steinitz, Jerusalem mit der Siedlung Maale Adumim zu verbinden. Die palästinensischen Gebiete der Westbank wären damit von Ostjerusalem abgeschnitten. Nach Angabe von Steinitz wird Is¬rael außerdem 120 Millionen US-Dollar an palästinensischen Steuergeldern einbehalten. Steinitz bezeichnete die UNO-Entscheidung, Palästina den Beobachterstatus zu geben, als »Provokation«, auf die von Israel entsprechend reagiert werde. Yasser Abd Rabbo, ein Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde, beschuldigte Israel der »Piraterie und Diebstahls«.

Die feindselige Reaktion der israelischen Regierung auf die internationale Anerkennung Palästinas durch die UNO-Vollversammlung spiegelt sich in einer wahren Flut von Repressionsmaßnahmen und Provokationen gegen Palästinenser durch die israelischen Armee- und Sicherheitskräfte und Siedler wieder. Zehn Palästinenser, darunter einige Fatah-Funktionäre, wurden am Montag in verschiedenen Orten der Westbank ohne Angaben von Gründen festgenommen. Vor der Küste von Gaza wurden 13 Fischer von der israelischen Marine verhaftet, obwohl nur wenige Tage zuvor den Palästinensern im Gazastreifen die Rücknahme der israelischen Seeblockade auf sechs Seemeilen zugesagt worden war. Bei Nablus wurde ein Palästinenser von Agenten des israelischen Geheimdienstes Shin Bet erschossen, und in Hebron wurde das Fahrzeug eines Palästinensers von Siedlern in Brand gesetzt, Häuser wurden mit Haßparolen besprüht.

Fatah und Hamas sind derweil weiter aufeinander zugegangen. Beide Organisationen kündigten die Freilassung von Gefangenen der jeweils anderen Organisation an. Die Hamas stimmte zudem zu, daß Fatah-Mitglieder in den Gazastreifen zurückkehren könnten, und erklärte zudem, daß Personen, die mit Israel kollaboriert hätten und sich stellen würden, mit einer Begnadigung und Stillschweigen über ihre Kollaboration rechnen könnten. Während des einwöchigen Krieges Israels gegen den Gazastreifen waren sieben der Kollaboration Verdächtige ohne Gerichtsverfahren öffentlich erschossen und teilweise hinter Motorrädern durch die Straßen von Gaza City geschleift worden. Das Vorgehen war auf scharfe Kritik des stellvertretenden Hamas-Vorsitzenden, Mousa Abu Marzouq, gestoßen. Taha al-Nunu, ein Sprecher der Organisation, kündigte nun Gerichtsverfahren gegen die Verantwortlichen der Lynchjustiz an.

Palästinensische Gefangene haben derweil einen neuen Hungerstreik für den heutigen Dienstag angekündigt. Damit wollen sie die Gefangenen Ayman Sharawna, Samer Issawi und Odai Kilani unterstützen, die seit Monaten mit Hungerstreiks gegen ihre Haftbedingungen protestieren. Sharwana ist seit 156 Tagen, Issawi seit 125 Tagen im Hungerstreik. Ihr gesundheitlicher Zustand ist schlecht. Beide waren 2011 im Rahmen des Gefangenenaustausches freigelassen, kurz darauf aber erneut verhaftet worden. Kilani protestiert seit 43 Tagen mit Hungerstreik gegen die Erneuerung seiner Administrativhaft. Alle drei Gefangenen befinden sich ohne Anklage in israelischer Haft.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 04. Dezember 2012


Diplomatische Rüffel für Israel

Netanjahus Siedlungsbau in besetzten Gebieten wird nicht toleriert

Von Oliver Eberhardt ***


Mit der geplanten Ausweitung des Siedlungsbaus im Westjordanland und der Einstellung der Steuerzahlungen an die Palästinenser hat Israels Regierung für massive internationale Kritik gesorgt. Sie steht nun endgültig isoliert da.

In London, Stockholm, Paris, selbst in Berlin, Washington, Prag, den drei Hauptstädten, wo Israel bisher am nachdrücklichsten unterstützt wurde – überall war die Kritik an der Entscheidung der Regierung in Jerusalem groß, nach der Aufwertung Palästinas zum Beobachterstaat bei den Vereinten Nationen den Siedlungsbau voranzutreiben und die Transferzahlungen nach dem Steuerabkommen zwischen beiden Seiten einzustellen. Hatte Bundesaußenminister Guido Westerwelle am Sonntag noch vage erklärt: »Die Diskussion um eine Ausweitung der Siedlungspolitik macht uns große Sorgen«, um dann festzustellen, dass die Bemühungen um Frieden im Nahen Osten am »seidenen Faden « hingen, wurde Bundeskanzlerin Angela Merkel am Montag sehr viel deutlicher: Die Bundesregierung sei über die Pläne »äußerst besorgt«, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Israel untergrabe damit das »Vertrauen in seine Verhandlungsbereitschaft«.

Zudem telefonierte der deutsche Vizebotschafter in Tel Aviv am Montag mit dem stellvertretenden Außenminister Danny Ajalon – ein Gespräch, das von beiden Seiten als »unfreundlich« beschrieben wird.

Kritik äußerte auch US-Außenministerin Hillary Clinton: Die Entscheidung sei ein »Rückschritt für die Friedensbemühungen«, sagte sie bereits am Freitagabend.

Anderswo ist der seidene Faden allerdings längst gerissen: Unter anderem in Frankreich, Schweden und Großbritannien wurden die israelischen Botschafter einbestellt. Französische und britische Medien meldeten zudem, die beiden Regierungen erwögen die Abberufung der Botschafter »zu Konsultationen« – ein Schritt, der bisher im Verhältnis zu Israel einzigartig wäre. Der Chefunterhändler der palästinensischen Regierung, Saeb Erekat, erklärte, er hoffe, dass sich die beiden Regierungen dazu bereit fänden: »Es ist notwendig, dass die Welt Israels Regierung zeigt, dass sie sich nicht alles herausnehmen kann.«

Doch zumindest die britische Regierung beschloss am Nachmittag, dieses diplomatische Mittel »vorerst«, wie ein Sprecher von Premier David Cameron dem »nd« sagte, nicht anzuwenden: »Wir verurteilen die Beschlüsse der israelischen Regierung in aller Schärfe, werden aber zunächst alle anderen Wege versuchen.« Die französische Regierung hat sich derweil noch nicht öffentlich zu einer Abberufung geäußert.

Deutlich wurde auch die Regierung Tschechiens, des einzigen EU-Staats, der in der Vollversammlung der Vereinten Nationen mit Nein gestimmt hatte: »Wenn die israelische Regierung ihre Handlungen nicht überdenkt, ist es möglich, dass wir künftig bei internationalen Abstimmungen nicht mehr auf ihrer Seite stehen werden«, sagte ein Sprecher der dortigen Regierung.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 04. Dezember 2012


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