Netanjahu betreibt ein Spiel auf Zeit
Sozialproteste in Israel gehen weiter / Regierung hofft auf Abflauen am Ende der Ferien
Von Oliver Eberhardt *
Die israelische Protestbewegung hat für den heutigen Sonnabend zu neuen Aktionen gegen hohe
Lebenshaltungskosten und soziale Ungleichheit aufgerufen. Anders als bisher sind aber keine
Demonstrationen in Jerusalem und Tel Aviv geplant, sondern in zwölf kleineren Städten, wie eine
der Anführerinnen der Protestbewegung, Stav Schafir, am Freitag sagte.
Die Sozialproteste in Israel werden von Tag zu Tag größer, die Liste der Forderungen länger: Nach
Jahren des Wirtschaftsliberalismus fehlt es den Menschen an allen Ecken und Enden. Die Politik
reagiert hilflos und spielt auf Zeit.
Zeit. Es sind Sommerferien, Semesterferien. Das Wetter ist schön, noch. »Warten Sie ab«, sagt Alex
Miller, Abgeordneter der rechtspopulistischen Partei Jisrael Beitenu von Außenminister Avigdor
Lieberman: »Wenn der Universitätsbetrieb wieder anfängt und der erste Regen kommt, sitzen die
Leute tagsüber wieder im Hörsaal und abends in der Sushi-Bar, und keiner spricht mehr über die
Wohnungspreise.«
Wirklich? »Man darf es bezweifeln«, sagt Professor Ascher Arian, Meinungsforscher an der
Universität Haifa: »Ja, am Anfang waren es Studenten in den großen Ferien. Aber schauen Sie sich
die Kundgebungen an: Junge Leute machen nur noch einen Bruchteil der Demonstrierenden aus. In
diesen Tagen gehen die Großeltern genauso auf die Straße wie die Enkel, und viele dieser
Menschen stehen mitten im Berufsleben. Die Studenten haben nur einen Vulkan zum Ausbruch
gebracht, der seit Jahren brodelte.«
Eine Eruption, die die Politik nach wie vor ratlos macht: In Jerusalem, wo Regierung und Parlament
ihren Sitz haben, verweist man auch heute noch auf Statistiken, die sagen, dass es den Menschen
gut gehe. »Wir haben eine Arbeitslosenquote von 5,7 Prozent – so niedrig wie nie zuvor. Die
Inflation liegt bei 2,3 Prozent. Und die internationale Finanzkrise ist an uns so gut wie vorbei
gegangen«, erläutert ein Sprecher von Finanzminister Juwal Steinitz und nennt die Demonstrationen
kontraproduktiv: »Es kann nicht jeder einen Mercedes fahren und am Meer wohnen – wenn wir das
wollen, dann werden wir zu einem neuen Griechenland.«
Eine Aussage, die der Wirtschaftswissenschaftler Gabriel Goldberg von der Universität Be'er
Schewa als »blanken Hohn« bezeichnet: »Die Zahlen waren immer schon geschönt; das weiß das
Finanzministerium auch – man wollte damit die Folgen der Privatisierungspolitik verdecken, die von
Premierminister Benjamin Netanjahu in seiner ersten Amtszeit Ende der 90er Jahre eingeleitet
wurde.«
Der Staat habe sich seit damals auf Kosten der Bevölkerung saniert, erklärt Goldberg. »Als
arbeitslos wird nur gezählt, wer sich arbeitslos meldet – die Ehefrau, die die Arbeitssuche
aufgegeben hat, obwohl sie arbeiten müsste, die Wehrdienstleistenden, die Mini-Beträge als Sold
bekommen, tauchen in der Statistik nicht auf. Und die Inflationsrate sagt nichts über das
Missverhältnis zwischen Einkommen und Lebenshaltungskosten aus.«
Es sei dieses Missverhältnis, das nun auch eigentlich Besserverdienende auf die Straße gebracht
habe, erläutert Jonathan Levi, der so etwas wie ein Sprecher der ansonsten ziemlich unorganisierten
Protestbewegung ist: »Die meisten Leute wollen keinesfalls Meer und Mercedes, sondern sind in
ihren Ansprüchen durchaus realistisch – aber sie richten sich eben auch nach Ausbildung und Beruf.
Die alleinerziehende Mutter will einfach nur eine bezahlbare Wohnung, damit sie den Einkaufswagen
mal richtig voll machen kann. Und der Akademiker will, dass sich die jahrelangen Entbehrungen
während des Studiums auszahlen. Deshalb werden die Proteste weiter gehen, bis die Regierung
eine Lösung vorlegt.«
Die allerdings nicht in Sicht ist. Zwar hat Netanjahu einen 18-köpfigen Ausschuss ins Leben gerufen,
der Lösungskonzepte ausarbeiten soll. Doch die Skepsis in der Bevölkerung ist groß: In dem
Gremium sitzen bis auf den Wirtschaftswissenschaftler Professor Manuel Trachtenberg, einem der
Väter der Privatisierungspolitik, ausschließlich Regierungsvertreter. Ein Spiel auf Zeit, urteilten die
Kommentatoren in den Medien. »Netanjahu«, so die größte Tageszeitung »Jedioth Ahronoth«, »hofft
wohl darauf, die Zeit bis zum ersten Herbststurm zu überbrücken, der die Menschen nach Hause
treibt.«
* Aus: Neues Deutschland, 13. August 2011
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