Junge Israelis ohne Lobby
Kontroverse Gesetzesvorlagen stürzen Israels Regierung in eine tiefe Krise
Von Oliver Eberhardt *
Eine Reihe kontroverser Gesetzesvorlagen der rechtspopulistischen Koalitionspartei Jisrael Beitenu
(Israel ist unser Haus) hat Israels Regierung in eine tiefe Krise gestürzt. Baldige Neuwahlen sind
nicht ausgeschlossen.
Es war ein langer Donnerstagabend (21. Juli) im Büro von Premierminister Benjamin Netanjahu: Seit dem
Nachmittag saß er bereits mit seinen Beratern zusammen, immer wieder wurden am Eingang
Funktionäre und Abgeordnete seines rechtskonservativen Likud-Blocks, der stärksten Fraktion im
Parlament, gesichtet. Die Gesichter: grimmig, ausdruckslos – stets ernst.
Am Mittag hatte Netanjahu mit seinem Außenminister Avigdor Lieberman zusammengesessen. Es
sei dabei lauter geworden, berichteten die Medien: Lieberman, Vorsitzender der
rechtspopulistischen Jisrael Beitenu, habe dem Regierungschef die Pistole auf die Brust gesetzt:
Entweder er verpflichte die Abgeordneten aller Regierungsparteien dazu, geschlossen für alle
Vorlagen der Lieberman-Partei zu stimmen und unterstütze zudem seine Außenpolitik, oder Jisrael
Beitenu – mit 15 Abgeordneten die zweitgrößte Fraktion in der Knesset – werde das Kabinett
verlassen.
Forderungen, die selbst für den Falken Netanjahu starker Tobak sind: Die Gesetze, die Jisrael
Beitenu zur Zeit einbringt, zielen nach Ansicht vieler Israelis auf demokratische Grundwerte, und
Netanjahu scheint geneigt, dem zuzustimmen. So war der Regierungschef gemeinsam mit vielen
anderen Koalitionsabgeordneten dem Parlament fern geblieben, als es in der vergangenen Woche
darum ging, Boykottaufrufe gegen Israel justiziabel zu machen. Zwar wurde das Gesetz am Ende
trotzdem angenommen, allerdings mit einer ausgesprochen schwachen Mehrheit. Und als es an
diesem Mittwoch um einem Gesetz über die parlamentarische Untersuchung linker Organisationen
ging, einen weiteren Jisrael-Beitenu-Entwurf, hielt der Regierungschef in einer Schule eine Rede
über demokratische Werte – nachdem er die Koalitionsdisziplin außer Kraft gesetzt hatte. Der Antrag
wurde abgelehnt.
Die Koalition sei nicht in Stein gemeißelt, wütete Lieberman direkt danach in die Kameras der
israelischen Fernsehsender, man werde den Antrag immer wieder einbringen – so lange, bis er
angenommen werde.
Doch noch viel problematischer als diese Gesetze, die ohnehin nicht die Chance eines Schneeballs
in der Hölle haben, eine Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof zu überleben, ist für
Netanjahus Lager die Außenpolitik Liebermans. Seit ein israelisches Militärkommando im
vergangenen Jahr ein türkisches Schiff gestürmt hat, das die Seeblockade des Gaza-Streifens
durchbrechen wollte, ist das Verhältnis zur Türkei und damit zu einem sehr wichtigen Verbündeten
Israels in der Region gestört. Mühsam haben Netanjahu und sein Amtskollege Recep Tayyip
Erdogan ein Versöhnungsabkommen ausgehandelt, in dem auch stehen soll, dass sich Israel für die
Stürmung des Schiffes entschuldigt – ein Schritt, den Lieberman mit allen Mitteln zu verhindern
sucht.
Und so wurde an diesem Donnerstagabend nach Lösungen gesucht. »Das Problem, vor dem
Netanjahu steht, ist kein Richtungsstreit, sondern ein Konflikt der Denkweisen«, gibt Aluf Benn eine
Ansicht wieder, die momentan viele Kommentatoren in Israel teilen: »Lieberman steckt gedanklich
immer noch in der Sowjetunion fest, aus der er einst eingewandert ist. Er glaubt ein Mandat dafür zu
haben, den öffentlichen Diskurs nach seinen Vorstellungen zu formen. Er will die öffentliche Debatte
nach seinen Vorstellungen gestalten, und das ist für viele Israelis, die mit drei Meinungen geboren
wurden und damit aufgewachsen sind, diese Meinungen jederzeit ohne Angst zu sagen,
inakzeptabel.«
Dennoch fällt es Netanjahu nicht leicht, sich von Jisrael Beitenu zu trennen, auch wenn Neuwahlen
über kurz oder lang unausweichlich zu sein scheinen. Umfragen zufolge steht eine zunehmende
Zahl der mittlerweile über eine Million zählenden Einwanderer aus den ehemaligen Sowjetrepubliken
hinter Lieberman, und selbst im Likud hat er einige, wenn auch wenige Unterstützer. Die Lieberman-
Partei kann deshalb bei Neuwahlen darauf hoffen, bis zu zehn der derzeit 27 Likud-Mandate zu
übernehmen.
* Aus: Neues Deutschland, 23. Juli 2011
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