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"Nicht nur der Preis des Krieges"

Israels Wirtschaft in der Krise

Nachfolgend eine Analyse der wirtschaftlichen Lage Israels. Wir haben sie der Schweizer Wochenzeitung WoZ entnommen und dokumentieren sie leicht gekürzt.


Zvi Schuldiner, Jerusalem

... Nicht nur Fussballfans kommen nicht mehr nach Israel. In der ersten Augusthälfte sank die Zahl der internationalen BesucherInnen um 9 Prozent. Im Badeort Eilat liegt die Zahl der internationalen Ankünfte im Juli um 56 Prozent tiefer als im Vorjahr. Zehntausende verlieren in der Tourismusindustrie – einem der wichtigsten Sektoren der israelischen Wirtschaft – ihre Stelle. In der ersten Jahreshälfte 2002 ging die Zahl der vom Industrieministerium genehmigten ausländischen Investitionen um 65 Prozent zurück. Die Wirtschaft schrumpfte erneut um 0,4 Prozent, nachdem sie in der gleichen Periode des Vorjahres um 1,8 und in der zweiten Hälfte des Jahres 2001 um 5,3 Prozent zurückgegangen war. Die Wachstumsprognose für das nächste Jahr ist schon wieder negativ: etwa minus 1,5 bis minus 2,5 Prozent. Die Zentralbank warnt, dass die Menschen das Vertrauen in die nationale Wirtschaft verlieren, und verlangt von der Regierung Sofortmassnahmen.

Mit ihrer für dieses Jahr prognostizierten Inflationsrate von 3 Prozent liegt die Zentralbank weit daneben. Die Rate erreichte mit 8 Prozent eine Höhe, die man in Israel für ein Phänomen der Vergangenheit hielt. Die hohen Zinssätze vermögen die Teuerung nicht zu mildern, die Arbeitslosigkeit wächst, und die Preise sind mitten in der Rezession hoch. Stagflation heisst diese Mischung von fehlendem Wirtschaftswachstum und steigenden Preisen.

Die einzige florierende Branche ist die Sicherheitsindustrie. Die Anschläge gegen Cafés und Restaurants brachten den privaten Firmen, die «Sicherheit» anbieten, mehr und mehr Aufträge. Nur in dieser Branche werden jeden Tag neue Leute angestellt, fast überall sonst werden Beschäftigte gefeuert. ... Nicht nur die PalästinenserInnen bezahlen einen hohen wirtschaftlichen Preis – selbst die naivsten Israelis müssen erkennen, dass Krieg wirtschaftliche Belastungen mit sich bringt. Noch vor einigen Monaten taten die meisten PolitikerInnen und Medien so, als ob die Wirtschaftslage in keinem Zusammenhang mit der «Situation» stünde. «Situation» heisst in der Regel das, was manchmal sehr konkret wird: Zahlen, Statistiken, getötete und verletzte Israelis; und manchmal, eher vage, Besetzung und getötete PalästinenserInnen. ... Die letzten sechs Jahre waren – mit Ausnahme von neun Monaten während der Regierung von Ehud Barak – Jahre der Rezession. Doch die Krise ist nicht allein durch den Krieg entstanden. Eine genauso wichtige Rolle spielen die Resultate der in Israel angewendeten Rezepte des Internationalen Währungsfonds: die Sozialausgaben reduzieren und auf Investitionen verzichten. Diese politökonomischen Glaubenssätze machten sich sowohl die rechte Likud-Partei als auch die Arbeitspartei über viele Jahre hinweg zu Eigen. Als Advokatinnen des freien Marktes unterscheiden sich beide Parteien nur in geringem Mass. Selbst wenn die Sozialausgaben in den letzten zwanzig Jahren stiegen, vergrösserte sich der Graben zwischen Reich und Arm in Israel. Die sozialen Brüche werden deutlicher. Zum Teil waren die steigenden Ausgaben Folge der grossen Zahl neuer ImmigrantInnen nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus.

Inflationsbekämpfung war das wichtigste Ziel der PolitikerInnen – um den Preis von Rezession und Arbeitslosigkeit. Die Krise der Technologiebranche und die Anzeichen einer weltweiten Rezession beeinflussten auch die israelische Wirtschaft. Und seit Beginn der Intifada im September 2000 verschärfte sich die wirtschaftliche Isolation und verschlimmerte die Folgen der Wirtschaftspolitik. In Israel lebt der Thatcherismus weiter. Arbeitslose und ausländische ArbeiterInnen wurden zu den Feinden der israelischen Wirtschaft gemacht. Regierung und rechtsgerichtete Medien entwickelten eine richtiggehende Phobie gegen diese Menschen, die – gemeinsam mit den PalästinenserInnen – an der miesen Lage schuld sein sollen.

Gegen den Sozialstaat in Israel läuft einer der schwersten Angriffe in seiner Geschichte. Die Regierung kürzt die Unterstützung für Arbeitslose und Arme brutal. Nur das Kriegsbudget leidet kaum unter den Streichungen, und privilegierte Gruppen werden weiterhin von grosszügigem Umgang mit öffentlichen Geldern profitieren. Obwohl angeblich kein Geld vorhanden ist, stimmte die Regierung kürzlich einer Reform der Grundstücksteuergesetze zu. Rund 700 Millionen Schekel, umgerechnet etwa 230 Millionen Franken, bleiben dadurch in den Portemonnaies der Reichen. Religiöse Parteien und ihre Gefolgschaft werden weiterhin grosse Teile des Budgets beanspruchen; und riesige Summen werden auch fürderhin in die Siedlungen in den besetzten Gebieten fliessen – in das Haupthindernis für Frieden. Ohne eine Lösung der zentralen Frage – das Ende der Besetzung – können auch die wirtschaftlichen Probleme nicht gelöst werden. ...

Aus:WoZ, 22. August 2002


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