Israel lehnt Waffenruhe ab
Nach vier Tagen Krieg 369 palästinensische und vier israelische Opfer
Die israelische Regierung stellt sich offenbar auf länger andauernde
Kämpfe im Gazastreifen ein. Auch die Palästinenser setzten ihren
Raketenbeschuss auf Südisrael am Dienstag (30. Dez.) fort.
Tel Aviv/Gaza (dpa/ND). Israel hat am vierten Tag seiner Offensive im
Gazastreifen alle Aufrufe zu einem Waffenstillstand zurückgewiesen und
stellt sich auf lange Kämpfe ein. Israel sei zu »langen Wochen des
Kampfes« bereit, sagte der stellvertretende Verteidigungsminister Matan
Vilnai. Bei den schweren Angriffen der Luftwaffe auf Ziele der Hamas
starben am Dienstag mindestens zehn Menschen, darunter zwei Schwestern
im Alter von vier und elf Jahren. Ungeachtet des Bombardements und der
hohen Opferzahlen zeigt auch die Hamas weiterhin keine Anzeichen zum
Einlenken. Militante Palästinenser feuerten wieder mehr als 20 Raketen
und Mörsergranaten auf Israel ab. Damit deutete immer mehr auf eine
israelische Bodenoffensive hin, um den Raketenbeschuss zu minimieren.
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier schlug derweil eine
»humanitäre Waffenruhe« vor. Solch eine Waffenruhe würde nicht nur
Hilfslieferungen für die Menschen im Gazastreifen erleichtern, sondern
auch Raum für die diplomatischen Bemühungen um einen dauerhaften
Waffenstillstand bieten. Die EU-Staaten wollten am Dienstagabend in
Paris über die jüngste Eskalation der Gewalt im Nahen Osten beraten.
Als Folge der Militäroffensive »Gegossenes Blei« sind nach Angaben der
Gesundheitsbehörde in Gaza seit Samstag 369 Palästinenser getötet und
mehr als 1700 verletzt worden. Israel beklagt nach mehr als 200
Raketenangriffen den Tod von vier Menschen. Allein in der Grenzstadt
Sderot schlugen am Dienstag vier Raketen ein. Ungeachtet der
fortwährenden Raketenangriffe ließ Israel 100 Lastwagen mit humanitären
Hilfsgütern in den Gazastreifen passieren.
Nach Einschätzung der Armee verfügt die Hamas noch über mehrere hundert
Raketen. Die Stärke von Hamas schwinde jedoch allmählich, sagte Vilnai
dem israelischen Rundfunk. Israel werde die Operation »bis zum Ende
ausschöpfen«. Der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak
formulierte drei Ziele der Militäroffensive: Danach will Israel der
Hamas einen schweren Schlag versetzen, die Situation im Gazastreifen
grundlegend verändern und einen Stopp der Raketenangriffe auf Israel
bewirken.
Hamas-Sprecher Ismail Radwan sieht hingegen eine wachsende Unterstützung
der Bevölkerung im Gazastreifen seit Beginn der Offensive. Zugleich
stellte Radwan klar, dass seine Organisation Israel weder anerkennen
noch irgendwelche Konzessionen machen werde.
Ägyptens Präsident Hosni Mubarak sagte in einer Fernsehansprache, er
werde an seiner Entscheidung festhalten, den Grenzübergang zwischen
Ägypten und dem Gazastreifen nicht zu öffnen. Nur Hilfsgüter und
Verletzte dürften passieren. Wenn Ägypten in der jetzigen Situation die
Grenze zu dem von der Hamas kontrollierten Gebiet öffnen würde, könnte
Israel versuchen, den Gazastreifen vom Westjordanland »abzutrennen« und
die Verantwortung für das Gebiet Ägypten zuzuschieben, begründete
Mubarak seine Position. Zugleich setzte er sich gegen Anschuldigungen
arabischer Kritiker zur Wehr. Diese hatten ihn als »Verräter« geschmäht.
Die israelische Marine hinderte am Dienstag ein Schiff der
internationalen Friedensorganisation »Free Gaza« daran, medizinische
Hilfsgüter in den Gazastreifen zu bringen. Nach Angaben von Aktivisten
und Reportern an Bord der »Dignity« wurde das Schiff von einem
israelischen Patrouillenboot gerammt. Das Schiff der Hilfsorganisation
traf am Mittag im libanesischen Hafen Tyrus ein.
* Aus: Neues Deutschland, 31. Dezember 2008
Bodentruppen vor Gaza
Israel setzt seinen Überfall am vierten Tag ungehindert fort. Merkel: Schuld und Verantwortung allein bei Hamas
Von Karin Leukefeld **
Ermuntert durch internationales Schweigen und deutliche Zustimmung
seiner Bündnispartner hat Israel seinen als »Selbstverteidigung«
deklarierten mörderischen Überfall auf Gaza auch am Dienstag
fortgesetzt. Bei erneuten Luftangriffen auf »Regierungsgebäude« der
Hamas seien nach Augenzeugenangaben mindestens 16 Bomben abgeworfen
worden. Zehn Palästinenser seien dabei getötet, 40 verletzt worden,
berichteten palästinensische Rettungskräfte. Damit stieg die Zahl der
getöteten Palästinenser auf 364. Rund 1400 Verletzte warten in den
völlig überfüllten Krankenhäusern auf Versorgung.
Das Boot »Dignity« der Organisation »Free Gaza«, das am Montag abend den
Hafen von Larnaka (Zypern) in Richtung Gaza verlassen hatte, um
medizinische Hilfsgüter und Ärzte dorthin zu bringen, wurde von elf
israelischen Kriegsschiffen zum Abdrehen gezwungen. Dabei sei das kleine
Boot erheblich beschädigt worden, berichteten Passagiere der »Dignity«.
Es seien auch Warnschüsse aus Maschinengewehren abgegeben worden. Am
Dienstag (30. Dez.) erreichte das Boot Libanon.
Keine Verhandlungen
Das UN-Flüchtlingshilfswerks UNRWA erklärte derweil, die Palästinenser
im Gazastreifen seien von den Luftangriffen am Samstag überrascht
worden. Man sei davon ausgegangen, daß Israel die Lage erstmal 48
Stunden lang bewerten wolle, sagte UNRWA-Kommissarin Karen Abu Zayd.
Israel habe dies so angekündigt. Sie erklärte weiter, die
palästinensische Bevölkerung gehe davon aus, daß die Hamas die
Waffenruhe weitgehend eingehalten, im Gegenzug aber nichts von Israel
erhalten habe. So seien die Grenzübergänge nicht geöffnet worden, obwohl
die Hamas zunächst praktisch keine Raketen auf Israel abgefeuert habe.
Palästinensische Militante haben seit vergangenem Samstag (28. Dez.) mit mehr als 200 Raketen auf die israelischen Luftangriffe reagiert. Dabei wurden
vier Israelis getötet und acht verletzt. Die Geschosse trafen die Stadt
Aschdod, die Gemeinde Nahal Os in der Wüste Negev und die Stadt
Aschkelon. Nach israelischen Militärangaben war unter den Getöteten auch
ein Soldat.
Der israelischen Botschafterin bei den Vereinten Nationen zufolge will
die Regierung in Jerusalem die Angriffe im Gazastreifen solange
fortsetzen, bis die Hamas vollständig vernichtet ist. Die Offensive
werde andauern, bis dieses Ziel erreicht sei, erklärte Gabriela Schalew
am Montag in New York. Die Regierung in Jerusalem sei angesichts der
internationalen Kritik an den Angriffen zwar besorgt, »aber zuallererst
haben wir das Recht, uns zu verteidigen«, sagte die UN-Botschafterin,
die eine Wiederaufnahme von Verhandlungen über einen Waffenstillstand
ablehnte. Der Tod von Zivilpersonen sei bedauerlich, für das
Blutvergießen sei aber die Hamas verantwortlich. Die radikalislamische
Organisation benutze Zivilpersonen als menschliche Schutzschilde.
Die israelischen Bodentruppen sind nach Angaben der Armee zum Einmarsch
in den Gazastreifen bereit. Die Soldaten hätten ihre Stellungen bezogen.
Die Möglichkeit einer Bodenoffensive bestehe, sagte eine Sprecherin. »Im
Moment jedoch greifen wir ausschließlich aus der Luft oder vom Meer aus an.«
Parteinahme und Protest
Bundeskanzlerin Angela Merkel ließ nach einem Telefonat mit dem
israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert durch einen Sprecher
erklären, Schuld und Verantwortung für den Angriff Israels auf Gaza
liege allein bei der Hamas; Israel habe das Recht auf
Selbstverteidigung. Der israelische Friedensaktivist Uri Avnery äußerte
sich in einem WDR-Interview entsetzt über die Stellungnahme der
Kanzlerin. Deutschland ergreife einseitig Partei für den Kriegstreiber
Israel.
Die britische Initiative BRICUP verglich derweil den Angriff Israels auf
Gaza mit dem deutschen Luftangriff auf die spanische Stadt Guernica 1937
und rief zu Boykottmaßnahmen gegen Israel auf. Weil die eigene und
andere europäischen Regierungen den Palästinensern nicht zu Hilfe kämen,
werde man, individuell und kollektiv, keine Waren aus Israel kaufen,
keinen Urlaub dort machen, weder israelische Theater-, Tanz oder
Filmvorführungen besuchen und sich dafür einsetzen, daß Bürger des
eigenen Staates keinen Militärdienst für Israel absolvieren dürften.
Im Libanon hat Hisbollahführer Hassan Nasrallah die
israelisch-US-amerikanische Allianz in der Region kritisiert, die auf
eine Demütigung Palästinas, Libanons und Syriens ziele. Der
Hisbollah-Verantwortliche für Internationale Beziehungen, Nawaf
Al-Mousawi, sprach von Geheimvereinbarungen, die Israel mit den USA
gegen die Palästinenser getroffen hätten. »Was in Gaza geschieht, ist
ein israelisch-US-amerikanischer Krieg«, erklärte Al-Mousawi. »Er wird
von arabischen Regimen unterstützt, um den Palästinensern ihre Rechte zu
nehmen.«
In der jemenitischen Hauptstadt Sanaa stürmten am Dienstag (30. Dez.) Hunderte
Demonstranten aus Protest gegen die Rolle Kairos bei dem Angriff auf
Gaza die ägyptische Botschaft und verwüsteten sie. Computer wurden aus
den Fenstern geworfen und die ägyptische Flagge auf dem Dach des
zweistöckigen Gebäudes in Aden angezündet.
Die EU-Außenminister wollen bei einem Sondertreffen ein sofortiges Ende
der Gewalt fordern. Bei dem kurzfristig angesetzten Treffen am
Dienstagabend (30. Dez.) in Paris gehe es darum, »Ideen für einen Ausweg aus der
Krise« zu sammeln, teilten Diplomaten in der französischen Hauptstadt
mit. Neben dem Aufruf zur Einstellung der israelischen Luftangriffe und
des Raketenbeschusses durch die radikalislamische Hamas werde die EU
auch Hilfe zur Versorgung der Bevölkerung im Gazastreifen und bei der
Versorgung von Verletzten anbieten. Die EU sei weiter bereit, bei der
Öffnung des Gazastreifens an den Kontrollposten Beobachter einzusetzen.
** Aus: junge Welt, 31. Dezember 2008
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