"Wer durchbrach die Waffenruhe? Israel, Israel, Israel"
Jüdische Stimmen zum Krieg im Gazastreifen: Rolf Verleger und Evelyn Hecht-Galinski
Der israelische Krieg gegen den Gazastreifen, der am 27. Dezember 2008 mit andauernden Luftangriffen israelischer Kampfflugzeuge und mit zahlreichen Raketeneinschlägen auf israelischem Gebiet begann, fordert auch die Juden in Deutschland heraus. Im Folgenden dokumentieren wir zwei prominente Stimmen gegen den Krieg.
Rolf Verleger: Internationale Politik sollte Israel Grenzen zeigen
Ex-Vorsitzender der jüdischen Gemeinschaft Schleswig Holstein fordert israelisches Einlenken
Rolf Verleger im Gespräch mit Tobias Armbrüster *
Rolf Verleger, heute Professor für Neurophysiologie an der Universität
Lübeck, kritisiert die Haltung von Bundeskanzlerin Angela Merkel im
Gaza-Konflikt. Die Verantwortung allein der Hamas zuzuschieben sei
aufgrund der komplexen Vorgeschichte zu einfach.
Rolf Verleger: Da macht es sich unsere Bundeskanzlerin zu einfach. Die
Vorgeschichte ist komplex, ich würde sie gern anhand von vier Fragen
verdeutlichen. Erste Frage wäre: Die Tatsache, dass keiner meiner
Großeltern das Dritte Reich überlebt hat, gab das 1947/48 den jüdischen
Freischärlern und der israelischen Armee das Recht, hunderttausende
Araber aus Israel zu vertreiben? Eine zweite Frage: Die Arisierung des
Berliner Grundstücks meines Urgroßvaters unter Hitler, gab sie dem Staat
Israel das Recht, Anfang der 50er-Jahre den Boden und Besitz der
arabischen Vertriebenen zu konfiszieren? Drittens: Die Ermordung meiner
Onkel und Tanten durch die SS, gibt sie dem Staat Israel das Recht, seit
40 Jahren die Diktatur eines Besatzungsregimes auszuüben? Oder: Die
Erschießung meiner Großmutter Hannah dafür, dass sie in Berlin ohne
gelben Stern zum Frisör ging, gibt sie dem Staat Israel aktuell das
Recht, die Bevölkerung Gazas auszuhungern und zu bombardieren?
Allgemein: Gibt die Tatsache, dass wir europäischen Juden Opfer eines
großen Unrechts wurden, dem jüdischen Staat vor Gott und den Menschen
das Recht, nun anderen Unrecht zu tun? Das ist doch die Frage. Und da
macht es sich Frau Merkel ein bisschen einfach, wenn sie sagt, Israel
hat immer Recht.
Tobias Armbrüster: Nun sagt die israelische Seite: Wir haben eigentlich
überhaupt kein Interesse an Krieg, wir würden gerne in Frieden mit allen
unseren Nachbarn leben, auch mit den Palästinensern, und die Hamas sagt
genau das nicht. Dort heißt es nach wie vor: Wir akzeptieren den Staat
Israel nicht. Kann man vor diesem Hintergrund nicht die israelische
Reaktion und die gegenwärtige Militäroffensive gegen die Hamas verstehen?
Verleger: Der Friedensplan für Nahost liegt längst auf dem Tisch. Die
besteht in der Zwei-Staaten-Lösung auf den Grenzen von 1967, in einer
einvernehmlichen Regelung des Problems der palästinensischen
Flüchtlinge, in einer einvernehmlichen Regelung über Jerusalem. Das ist
alles längst klar. Das haben die arabischen Staaten Israel 2002
vorgeschlagen und noch mal bekräftigt. Israel ist damit nicht
einverstanden, weil Israel sich nicht entscheiden kann, was es will, ob
es nämlich das besetzte Land nicht lieber behalten will im
Westjordanland. Da geht eine fortwährende Besetzung und Landnahme vor
sich. Und solange Israel nicht sagt, ja, wir wollen lieber Frieden, wir
geben das Besatzungsregime auf, so lange wird es keinen Frieden geben.
Und solange Gaza blockiert wird - mein Gott, das wird hier so
runtergespielt! Die Blockade Gazas ist das Gleiche wie die Blockade
Sarajewos in den 90er-Jahren durch die jugoslawische Armee. Da kam auch
keiner durch, da wurde auch niemand reingelassen. Das geht in Gaza seit
über zwei Jahren, und die führenden Leute, die das damals gemacht haben,
sind in Den Haag als Kriegsverbrecher verurteilt worden.
Armbrüster: Jetzt höre ich da deutliche Kritik von Ihnen an der
israelischen Regierung heraus, im Zentralrat der Juden hat man da eine
etwas andere Meinung. Dort wird vor allem der Terror der Hamas betont.
Was würden Sie sagen: Verfolgen Ihre Kollegen im Zentralrat da den
falschen Kurs?
Verleger: Meine Kollegen im Zentralrat sagen das, was die überwiegende
Mehrheit der Juden in Deutschland so denkt, und das ist dann auch
natürlich die Verpflichtung der Repräsentanz, das auch so wiederzugeben.
Ich denke, dass das kurzsichtig und verkehrt ist und das, was da
passiert im Namen des Judentums, ist in dieser Zeit und in der Zukunft
ein solches Problem für das Judentum. Das Judentum hieß mal "die
Religion der tätigen Nächstenliebe", ja? Das glaubt mir doch kein Mensch
mehr, wenn ich das heute sage. Heute ist das Judentum eine Religion, die
Landnahme und die Unterdrückung der Araber rechtfertigt. Das kann doch
nicht wahr sein! Das muss doch der Zentralrat der Juden in Deutschland
als Problem sehen, dass man dagegen halten muss.
Armbrüster: Aber viele Juden sehen den Staat Israel ja nach wie vor auch
als möglichen Rückzugsort, wenn es mal wieder zu einer Katastrophe
kommt. Ist es da nicht völlig verständlich, wenn Juden sagen, wir
unterstützen diesen Staat auch mit seiner teilweise sehr umstrittenen
Politik?
Verleger: Ja, es ist irgendwo verständlich, aber die Geschichte geht
weiter, ja? Wir sind nicht mehr die Opfer, vor 60 Jahren in Israel, und
ich meine, die wenigsten Ihrer Hörer sind Juden. Ich finde, man sollte
auch über die Seelenlage der deutschen Nichtjuden ein wenig reden. Ich
denke ... Ich meine, man kann ja verstehen, wenn man als deutscher
Politiker auch heute noch sagt, nein, den jüdischen Staat, den
kritisiere ich nicht öffentlich. Das ist uns als Deutsche irgendwie
nicht gegeben. Aber dann kann man doch wenigstens ruhig sein! Glaubt man
denn, es hilft irgendwie der Zukunft des jüdischen Staates, dass jetzt
Israel haltlos und bildungslos alles machen darf, was ihm so gerade
einfällt? Ich denke, es würde Israel wirklich gut tun, wenn die
internationale Politik Israel seine Grenzen zeigen würde und sagen
würde, Leute, gebt endlich diese Besetzung auf. Wenn ihr nach Europa
kommen wollt, dann geht das nicht, dass da weiter nicht mal die Grenzen
des Staates Israel bis heute definiert sind. Und ich habe so ein
bisschen manchmal das Gefühl bei unseren Politikern, man sieht es ganz
gern, dass die anderen und die Juden so auch nicht besser sind. Das
zeigt uns doch, dass ... Das trägt zur Entlastung Deutschlands bei, wenn
denn die Juden auch solche Sachen machen, und so hat man so ein gewisses
Behagen, dass Israel so auf die schiefe Bahn rutscht. Verantwortungsvoll
ist das nicht. Verantwortungsvoll wäre, Israel zu sagen: So muss man
international miteinander umgehen und an die Spielregeln hat sich jeder
zu halten.
Aus: Deutschlandfunk, 29. Dezember 2008
Aktion "gegossenes Blei" - Aktion "vergossenes Blut"
Von Evelyn Hecht-Galinski **
Andauernde Blockade, andauernde Strangulierung, andauernde Abriegelung,
ständige Lufthoheit, tägliche Drohnenüberwachung und ein
Aufklärungszeppelin, das war der sogenannte Abzug Israels aus dem
Gazastreifen.
Die Hamas, die klare Gewinnerin aus den palästinensischen
Parlamentswahlen im Januar 2006, sollte, weil es den USA und Israel
nicht genehm war, mit der aufgerüsteten Fatah ihres Sieges beraubt
werden. Als die misslang und die Hamas die alleinige Kontrolle im Juli
2007 über Gaza übernahm, schlossen Israel und Ägypten daraufhin die
Grenzen zum Gazastreifen. Im September 2007 erklärte Israel den
Gazastreifen zum feindlichen Gebiet. Das Kabinett beschloss eine
Kürzung der Strom- und Treibstofflieferung an die Zivilbevölkerung. Im
Januar 2008 ermordete die israelische Armee bei einem Militäreinsatz 19
Palästinenser. Drei Tage später, nach Raketenbeschuss aus dem
Gazastreifen, riegelte Israel den Gazastreifen vollkommen ab. Die
Stromversorgung für 800.000 Einwohner brach zusammen. 5 Tage später
stürmten hunderttausende Palästinenser über die Grenze nach Ägypten,
nachdem Kämpfer der Hamas die Grenzübergänge zerbombt hatten. Eine Woche
lang deckte die Bevölkerung sich dort mit Grundnahrungsmitteln ein. Im
März 2008 ermordete Israel 125 Palästinenser und die Operation "Heißer
Winter" fordert die höchsten Opferzahlen seit dem Sechstagekrieg von
1967. Im April werden 5 Palästinenser ermordet. Am 19. Juni vereinbart
Israel mit 12 Palästinenserfraktionen im Gazastreifen eine sechsmonatige
Waffenruhe. Sie läuft am 19. Dezember aus. Am 5. November kommt der
erste gezielte israelische Militäreinsatz im Gazastreifen seit der
Waffenruhe wegen eines 250 Meter langen Tunnels bis zum Grenzzaun.
Sechs Palästinenser werden bei Gefechten ermordet. In den darauf
folgenden Tagen werden nochmals 8 Palästinenser ermordet. Am 26.
Dezember beginnt, obwohl das Ultimatum erst am 28.12. abgelaufen wäre,
mit der Operation "gegossenes Blei" .
Wer durchbrach die Waffenruhe? Die obige Chronologie zeigt es deutlich
auf: Israel, Israel, Israel. Der Mehrheit des jüdischen Staates
befindet sich im Blutrausch und ergötzt sich an den "Abbombardierungen"
der Ziele im Gazastreifen, die schon seit Monaten vorbereitet worden sind.
Die schlimmste Aktion seit über 40 Jahren, die Israel über die
Palästinenser bringt, darf nicht ungesühnt bleiben. Anstatt sich mit
solidarischen Bekundungen mit dem Recht Israels auf Selbstverteidigung
anzubiedern und damit grünes Licht für die unmenschlichen Luftschläge
und andere Kriegstaten zu geben, sollte unser Außenminister, das
EU-Quartett und die amerikanische Regierung israelische Kriegshandlungen
als das titulieren, was sie sind, nämlich: Menschenrechts verachtende,
völkerrechtswidrige und mörderische Handlungen gegenüber einer beinahe
wehrlosen besetzten und ausgehungerten Zivilbevölkerung. Nach den
heutigen Äußerungen des tschechischen Außenministers Schwarzenberg,
dessen Land demnächst die EU-Präsidentschaft für die nächsten 6 Monate
übernehmen wird, ist nichts Gutes zu erwarten. Die EU will die Fackel
wieder weiter an die USA reichen. Nach den verständnisvollen Äußerungen
von George W. Bush und Condolezza Rice fühlt sich Israel noch sicherer
in seiner Kriegslüsternheit. Auch der kommende Präsident Obama ließ aus
Hawaii verlauten, dass Bush, der noch amtierende Präsident ist und er
sich daher nicht äußern möchte. Klang das bei der Bewältigung der
Finanzkrise und den finanziellen Hilfen der amerikanischen Autoindustrie
doch ganz anders! Da gab er sofort Statements als kommender Präsident
ab. Damit sollten die Hoffnungen der Obama Euphorie einen Dämpfer
bekommen. Nach den letzten "Bush Ausläufen" wenig Neues von Obama! Ist
das der erhoffte "Change" "Yes we can!"? Business as usual.
Liegt nicht der wahre Grund für diesen massiven und blutigsten Krieg
seit 1967 in Israels Wahlkampf? Einer der übelsten Wahlkämpfe seit
langem. Ablenkungsmanöver korrupter Politiker, einer ehemaligen
juristischen Beraterin für "Killings" des Mossad im Ausland, die für den
Wahlsieg alle männlichen Kontrahenten rechts überholen will; außerdem
militante Siedlerpolitiker, die sogar laut Noch-Premier Olmert, Pogrome
in Hebron veranstalten und andere fanatische Splitterparteien, die alle
eigene Interessen vertreten und nur in einem vereint sind - im Hass
gegenüber Palästinensern und Arabern und sich an deren Leid ergötzen.
Auch ich als Pazifistin lehne den Abschuss von Raketen ab. Aber war es
nicht die unmenschliche Blockade und Totalabriegelung des größten und
dicht besiedelsten "Freiluftgefängnisses", die die Ausgehungerten und
Verzweifelten zu diesen selbst gebauten Raketen greifen ließ, um auf ihr
Leid und ihr Dasein hinzuweisen? Insgesamt 16 Tote in all den Jahren
durch diese Raketen. Jeder Tote ist natürlich einer zu viel. Diese Toten
hat aber die israelische Regierung zu verantworten, die die
unmenschlichen Zustände gegen das palästinensische Volk angerichtet hat.
Über 300 Tote allein in 48 Stunden. Und über 1000 Verletzte, von denen
ein Großteil an ihren schweren "Schrapnell"-Verletzungen sterben wird.
Welche Verhöhnung dieser Ausgehungerten, wenn ihnen heute von
Verteidigungsminister Barak propagandistisch gestattet, Lastwagen mit
gespendeten Hilfsgütern in den Gazastreifen geschickt wird, während die
Luftangriffe und Tötungen weitergehen. Auch die Bodentruppen stehen
schon in den Startlöchern, sind aber mit 6700 Reservisten noch nicht
genügend ausgestattet, um anzugreifen. Dafür kommt die Marine von der
Wasserseite, und Kampjets fliegen auch schon wieder über den Libanon und
bedrohen dort die Hisbollah.
Israel als hochgerüstete Militärmacht und "einzige Demokratie im Nahen
Osten mit ausgestreckter Hand" will ihre Bodentruppen erst schicken,
wenn Gaza abbombardiert und in Schutt und Asche liegt. Die Hamas als
ungleicher und viel schwächerer Gegner soll als Kompensation für das
Fiasko des letzten Libanon-Krieges gegen die besser gerüstete Hisbollah
herhalten, ohne Rücksicht auf die schutzlosen Menschen im Gazastreifen.
Nicht die gewählte Hamas-Regierung, sondern die brutalen Besatzer,
nämlich die Regierung eines radikal-jüdischen Staates gehören vor das
Haager Kriegstribunal.
Mein Aufschrei über diese Schande soll alle demokratischen deutschen
Bürger und Bürgerinnen wachrütteln und zum Protest, wie auch immer
ermutigen.
** Quelle: www.arendt-art.de
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