Israel beginnt Krieg gegen den Gazastreifen
Mehr als 300 Tote in zwei Tagen, darunter viele Frauen und Kinder - Olmert: "Fehler" des Libanon-Kriegs nicht wiederholen - Hamas ruft zum Widerstand auf
Am 27. Dezember begann Israel einen Luftkrieg gegen den Gazastreifen und die dort regierende Hamas. Wir dokumentieren hierzu erste Berichte und Stimmen - u.a. ein Interview mit dem israelischen Philosophen Moshe Zuckermann.
Bombenhagel auf Gaza
Von Karin Leukefeld *
Den zweiten Tag in Folge haben israelische Kampfjets am Sonntag (28. Dez.) den
Gazastreifen bombardiert. Nach Angaben palästinensischer Ärzte wurden
seit Beginn der Luftangriffe am Samstag (27. Dez.) vormittag mehr als 280 Menschen getötet, die Zahl der Verletzten betrage 700.
Die Angriffe der israelischen F-16-Kampfbomber und Hubschrauber hatten
am Samstag gegen 11.15 Uhr begonnen. Mindestens 40 Ziele wurden in der
ersten Angriffswelle zerstört, Rauchsäulen standen über Gaza-Stadt, wo
fast eine Million Menschen auf engstem Raum zusammenleben. Nach
israelischen Militärangaben seien vor allem Polizeistationen, Kasernen
und Einrichtungen der palästinensischen Sicherheitsdienste angegriffen
worden. Zu den Toten gehört auch der Polizeichef von Gaza, Tawfiq
Jabber. 15 Polizeianwärter starben beim Angriff auf eine Polizeistation,
in der gerade eine Aufnahmefeier stattfand. Polizeistationen und andere
offizielle Gebäude stehen allerdings oft direkt neben Schulen und
Wohnhäusern, so daß unter den Toten und Verletzten auch viele Frauen und
Kinder waren. Außerdem wurde ein Medikamentenlager getroffen.
Die israelische Tageszeitung Haaretz schrieb, die Zahl der Toten sei
vermutlich deswegen so hoch, weil niemand mit einer so massiven
Angriffswelle gerechnet hatte. »Meldungen über eine bevorstehende
Öffnung des Gazastreifens für Hilfslieferungen seien eine Irreführung
gewesen«, so Haaretz. Monatelang sei der Gazastreifen ausspioniert
worden, um eine Übersicht zu bekommen. Ägypten sei beim Besuch von
Außenministerin Zipi Livni vorab über den Angriff informiert worden.
Hamas-Führer Khalid Meshaal rief die Palästinenser zum Widerstand gegen
die israelische Besatzung auf. Es müsse eine dritte Intifada geben. Die
israelische Regierungsspitze – Ehud Olmert, Zipi Livni und Ehud Barak –
rechtfertigte den Angriff auf Gaza als »Selbstverteidigung« gegen die
Hamas. Man wolle auch die Palästinenser von der Terrororganisation
»befreien«. Die aus dem Gazastreifen abgefeuerten Raketen stellten eine
unzumutbare Gefährdung der israelischen Bürger dar. »Wir sind auf alles
vorbereitet«, fügte der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak
hinzu und schloß wie Livni eine Bodenoffensive in den Gazastreifen nicht
aus. Zur Einstimmung auf einen neuen Krieg wurden Hunderte israelische
Soldaten und Panzerverbände an die Grenze zu Gaza abkommandiert,
Reservisten sollen sich bereithalten, und die Einwohner Südisraels
sollen Schutzbunker aufsuchen und mit weiterem Raketenbeschuß aus Gaza
rechnen. Für den Fall einer Bodenoffensive warnten internationale
Hilfsorganisationen vor einer »humanitären Katastrophe« im Gazastreifen.
Der UN-Sicherheitsrat rief in einer nicht bindenden Resolution alle
Seiten auf, der Gewalt zu entsagen. Großbritannien, die EU, der Vatikan
und Tony Blair als Sondervermittler des »Nahostquartetts« forderten eine
sofortige Waffenruhe. Die Arabische Liga berief für den kommenden
Mittwoch eine Sondersitzung ein. Die Bundesregierung kündigte an, die
Hilfsleistungen für die Palästinenser zu erhöhen.
In der gesamten arabischen Welt und in Israel kam es zu wütenden
Reaktionen gegen den Überfall auf Gaza. Israelische Araber kündigten
einen Generalstreik für Montag an, israelische Friedensaktivisten von
Gush Shalom beschuldigten die israelische Regierung, den
Waffenstillstand mit der Hamas schon vor einem Monat gebrochen zu haben.
* Aus: junge Welt, 29. Dezember 2008
Gespannte Ruhe in Israel
Olmert: Wir sind auf alle Eventualitäten vorbereitet
Von Oliver Eberhardt, Jerusalem **
Die arabischen Medien berichten rund um die Uhr von der Lage in und um
Gaza, auch die israelischen, freilich mit anderem Tenor. Nach der
erneuten Eskalation der Lage im Nahen Osten dominieren Entsetzen,
Trauer, aber auch die Kriegsrhetorik.
Im arabischen Ost-Jerusalem herrschte am Sonntagmorgen (28. Dez.) – normalerweise ein geschäftiger Werktag – gespenstische Stille. Aus Protest gegen die Luftangriffe haben die Ladenbesitzer ihre Geschäfte geschlossen; auf der
Straße halten sich nur wenige Menschen auf: Reisende, die hoffen, es
über die eigentlich ebenfalls geschlossenen Kontrollpunkte ins
Westjordanland zu schaffen. Und Hunderte von Sondereinsatzkräften der
israelischen Polizei, die Aufstände verhindern sollen. Es ist eine
Situation, wie sie überall in den überwiegend von Arabern bewohnten
Gebieten im besetzten Ost-Jerusalem und westlich des Jordans anzutreffen
ist.
Unaufhörlich haben die arabischen Nachrichtensender seit Samstagmorgen
dramatische Bilder aus dem Norden des Gaza-Streifens gesendet und damit
eine Wirkung erzielt, wie sie nie zuvor bei israelischen
Militäroperationen, selbst dem Libanon-Krieg im Sommer 2006, zu erkennen
gewesen war. Auch in Israel tut niemand so, als ginge das Leben seinen
gewohnten Gang. Aller Orten diskutieren die Menschen darüber, was nun
passieren wird. Man hat Angst.
Nicht vor der rabiaten Politik der eigenen Regierung und deren möglichen
Folgen, sondern vor der Hamas. Deren selbstgebaute Raketen scheinen
ungeachtet israelischer Bombardements im Laufe der vergangenen Jahre
sehr viel besser geworden zu sein. Sie können offensichtlich besser
treffen und reichen weiter als bisher.
So schlugen am Sonntag Morgen in der Großstadt Ashdod drei Raketen ein;
in der Umgebung von Ashkelon waren es zwei. Dass die israelische
Luftwaffe mit voller Härte gegen Ziele der Hamas im Gazastreifen vorgeht
und dabei eine Vielzahl an Opfern in Kauf nimmt, scheint die Hamas auf
ihrem neuen Kurs nur noch bestärkt zu haben.
Nachdem sie vor eineinhalb Wochen einen sechsmonatigen Waffenstillstand
mit Israel für beendet erklärt hatte, wurden vom Gaza-Streifen Dutzende
von Raketen abgeschossen – so viele, dass das Militär nicht mehr genau
mitteilt, wie viele es eigentlich waren. Man betrachte die israelischen
Luftschläge als Kriegserklärung und werde dementsprechend antworten,
hatte am Samstag ein Sprecher der Hamas geäußert. Vorausgegangen war die
Ankündigung eines israelischen Militärsprechers, die Luftangriffe seien
nur der Anfang, falls die Hamas nicht umgehend wieder eine Waffenruhe
erkläre.
Die Hamas begründet ihr Vorgehen mit der miserablen Versorgungslage im
Gaza-Streifen, für die sie Israel verantwortlich macht: Die israelische
Armee hatte, anders als im von Ägypten ausgehandelten
Waffenstillstandsabkommen, die Übergänge in den Landstrich zwar für
Hilfsgüter, nicht aber für Personen und allgemeine Warenlieferungen
geöffnet. Man wolle damit verhindern, dass die Hamas und andere
militante Organisationen ihre Waffenlager auffrischen und damit eine
Gefahr für die Nachbarschaft darstellen, hatten dies Sprecher von
Regierung und Militär in den vergangenen Monaten immer wieder begründet.
Aber die Israelis blicken auch nach Norden. Dort, in Libanon, erklärte
die Hisbollah, die Israel im Sommer 2006 bei seinem Einmarsch heftigen
Widerstand geleistet hatte, der Hamas zu Hilfe zu kommen. Am Freitag
hatte die libanesische Regierung bekannt gegeben, Soldaten hätten fünf
zum Abschuss bereite Katjuscha-Raketen entschärft, und die UNIFIL, die
Blauhelmmission der Vereinten Nationen, erklärte, man sei darauf
vorbereitet, einen Raketenbeschuss Israels durch die Hisbollah zu
verhindern.
Von Premierminister Ehud Olmert und Verteidigungsminister Ehud Barak
kommt die kategorische Erklärung, man sei im Norden auf alle
Eventualitäten vorbereitet, brauche keine zusätzlichen Soldaten dort.
Von Olmert heißt es, er wolle die Fehler des Libanon-Krieges nicht
wiederholen. Was ihm seine israelischen Gegner vorwarfen, war freilich
nicht der kriegerische Überfall auf Libanon, sondern die ungewohnt hohen
Verluste der Israelis dabei.
Chronologie
-
Juni 2007: Die Hamas übernimmt nach monatelangem Bruderkrieg mit der
Fatah die Kontrolle im Gaza-Streifen. Israel und Ägypten schließen
daraufhin die Grenzen zu dem Palästinensergebiet.
-
September 2007: Israel erklärt den Gaza-Streifen zum »feindlichen
Gebiet«. Strom- und Treibstofflieferungen an die Zivilbevölkerung werden
gekürzt.
-
November 2007: Israel und die Fatah vereinbaren in Annapolis (USA) eine
Wiederaufnahme ihrer Friedensgespräche.
-
15. Januar 2008: Die israelische Armee tötet bei einem Militäreinsatz im
Gaza-Streifen 19 Palästinenser.
-
18. Januar 2008: Als Reaktion auf den andauernden Raketenbeschuss
riegelt Israel den Gaza-Streifen ab. Die Stromversorgung für etwa 800
000 Einwohner bricht zusammen.
-
März 2008: 125 Palästinenser und zwei israelische Soldaten werden bei
Kämpfen im Gaza-Streifen getötet.
-
19. April 2008: Hamas verübt einen Anschlag auf den Grenzübergang Kerem
Schalom. Drei Angreifer werden getötet, 16 israelische Soldaten
verletzt. Bei folgenden israelischen Luftangriffen werden daraufhin zehn
militante Palästinenser getötet.
-
19. Juni 2008: Israel und 12 militante Palästinenserfraktionen im
Gaza-Streifen vereinbaren eine sechsmonatige Waffenruhe. Sie läuft am
19. Dezember aus.
-
August 2008: Neun Tote und mehr als 100 Verletzte bei neuem Ausbruch
innerpalästinensischer Gewalt. Die verbliebene Fatah-Führung flieht vor
der Hamas aus Gaza.
-
5. November 2008: Erster gezielter israelischer Militäreinsatz im
Gaza-Streifen seit der Waffenruhe.
-
26. Dezember 2008: Wenige Tage nach Ablauf der Waffenruhe fliegt Israel
Angriffe im Gaza-Streifen an. (dpa/ND)
** Aus: Neues Deutschland, 29. Dezember 2008
"Eine übersteigerte Reaktion"
Moshe Zuckermann zur Gewalteskalation und den israelischen Wahlkampf **
ND: Die israelische Armee operiert mit drakonischer Härte und schließt
auch eine Bodenoffensive nicht aus. Ist Israel im Krieg – was ist das Ziel?
Zuckermann: Ja, das muss man wohl so sehen. Es wird ja heftig
geschossen, massenhaft getötet, und ein baldiges Ende ist für die
Zivilbevölkerung beider Seiten nicht abzusehen. Offiziell geht es um die
Wiederherstellung der Ruhe in Israels Südregion. Aber die übersteigerte
Reaktion lässt darauf schließen, dass man auch das Fiasko des zweiten
Libanonkrieges zu kompensieren trachtet. Was damals nicht gelang, soll
diesmal umso mehr gelingen – und zwar um des schieren Gelingens willen.
Man weiß, dass die Hamas militärisch nicht mit der Hisbollah
vergleichbar ist und will die Gelegenheit nutzen, einen deutlich
schwächeren Feind mit aller Vehemenz niederzuwalzen.
Verteidigungsminister Barak kündigte an, »die Spielregeln grundlegend zu
ändern« und keine Waffenruhe mehr mit der Hamas zu vereinbaren –
Wahlkampfgetöse oder der entscheidende Schritt zur totalen Eskalation?
Das eine schließt das andere nicht aus. Die Eskalation hat nicht zuletzt
mit dem Wahlkampf zu tun: Livni will sich als sicherheitsorientierte
Politikerin profilieren. Barak will für seine untergehende
Arbeitspartei und sich selbst politisches Kapital herausschlagen.
Beängstigend wieder der allgemeine, auch mediale Konsens, wobei man
freilich vorsichtiger geworden ist; man posaunt nicht wieder so herum
wie zu Beginn des zweiten Libanonkrieges.
Wird jetzt die dritte Intifada beginnen?
Das kommt vor allem darauf an, wie lang die gegenwärtigen
Kampfhandlungen andauern und welche Auswirkungen sie auf das
Westjordanland haben werden. Zu beobachten wäre auch, welcher Druck aus
den benachbarten Ländern Ägypten und Jordanien kommen wird. Geredet wird
aber jetzt schon von der Möglichkeit einer weiteren Intifada.
Hierzulande sind laute »Bravo!«-Rufe und andere Kriegseuphorie aus dem
»Israel-solidarischen« Lager zu vernehmen. Was empfinden Sie als Israeli
angesichts dieses deutschen Freudentanzes?
Den Ekel, den ich schon immer empfunden habe, wenn sich der furor
teutonicus aus der Ferne am Opferleid von anderen ergötzt hat. Mit
Israel-Solidarität hat das gar nichts zu tun. Unter gewandelten
historischen Umständen werden sich diese Tanzfreudigen am Untergang von
Juden genauso delektieren. Sie verkörpern all das, was man sich
klischierterweise als Deutsche vorstellt – sie sind eben die
deutschesten aller Deutschen.
Fragen: Susann Witt-Stahl
*** Aus: Neues Deutschland, 29. Dezember 2008
Scheinheilige
Von Roland Etzel ****
Die Katastrophe in Gaza konnte jeder voraussehen, der es wissen wollte.
Während die Hamas ihren politisch unvernünftigen und militärisch
sinnlosen Raketenbeschuss intensivierte und die israelischen Drohungen
darob immer unverhohlener wurden, ließen sich die Großmächte nicht davon
abhalten, ihre vermeintlich auf gutem Wege befindliche Nahoststrategie
zu feiern. Selten war Diplomatie zynischer.
In diesem Lichte sollten denn auch alle Reaktionen auf das Blutbad von
Gaza gesehen werden. Den spontan in Beirut, Kairo und anderswo
demonstrierenden Menschen ist ihre Entrüstung gewiss abzunehmen. Anders
sieht das schon bei den arabischen Regierungen aus, die sich meist nur
noch dann des Schicksals der Palästinenser erinnern, wenn mal wieder
öffentlich Pluspunkte erworben werden müssen.
Weder die Verantwortungslosigkeit der palästinensischen Radikalen noch
das Versagen der Großmächte noch die Scheinheiligkeit der Nachbarn
rechtfertigt allerdings das rabiate Vorgehen Israels, welches jede
Relation vermissen lässt. Von niemandem zu Verhandlungen mit der Hamas
gedrängt, fühlten sich Olmert und Co. ermutigt, ihrem Militärmoloch
freien Lauf zu lassen. Wenigstens Südafrikas Erzbischof Tutu nennt die
Dinge beim Namen und spricht von Kriegsverbrechen.
**** Aus: Neues Deutschland, 29. Dezember 2008 (Kommentar)
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