"Wir brauchen die 50:50-Lösung"
Der israelische Soziologe Menachem Klein propagiert Zweistaatenlösung
Von Roland Etzel *
Mit dem Amtsantritt der Regierung Netanjahu-Lieberman in Israel sind die Hoffnungen auf eine
friedliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts spürbar gesunken. Dennoch engagieren
sich nach wie vor viele Menschen für einen gerechten Frieden.
Menachem Klein kann man mit Fug und Recht einen Politprofi nennen. Der 57-Jährige ist Professor
im Bereich Politische Wissenschaften der Tel Aviver Bar-Ilan-Universität und hat zuvor ziemlich weit
oben in der politischen Hierarchie mitgemischt, zum Beispiel als Berater von Ehud Barak in dessen
Zeit als Ministerpräsident in den 90er Jahren. Am Mittwochabend stellte er sich auf Einladung der
Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin einem interessierten Publikum.
Klein will keine Illusionen verbreiten oder gar aus Israel häufig zu vernehmende Mythen pflegen.
Seine Analysen sind nüchtern, die Schlussfolgerungen erfrischend klar und direkt: »Wir haben zwei
ethnische Gruppen, und deshalb brauchen wir zwei Staaten. Ein Staat für beide wäre toll, aber das
wollen weder Israelis noch Palästinenser. Es ist der Traum beider nationaler Bewegungen, einen
eigenen Staat zu haben.«
Der Politologe sagt aber auch, dass die jetzigen territorialen Ausgangspositionen nach militärischer
Okkupation 1967 und völkerrechtlich illegaler, später von Israel legalisierter jüdischer Besiedlung
dies nicht zulassen. Vom ursprünglichen britischen Mandatsgebiet Palästina sind den
Palästinensern mittlerweile ganze zwölf Prozent geblieben – unzusammenhängende Territorien, die
außerdem vielfach von allein Israel gehörenden Straßen durchschnitten sind. Eine lebensfähige
Infrastruktur der Palästinenser-Gebiete sei so bewusst verhindert worden. »Das geht nicht«, sagt
Klein, »unabhängig von Bevölkerungszahl und Wachstum beider ethnischer Gruppen muss es eine
territoriale 50:50-Aufteilung geben«.
Wie aber stehen die Chancen dafür? Die Wahrnehmungen des Politologen sind da sehr
widersprüchlich. »Einerseits«, sagt Klein, »sprechen sich mehr als 50 Prozent der Israelis für eine
Zweistaatenlösung aus. Andererseits erwartet auch diese Mehrheit nicht, dass sie in den nächsten
fünf Jahren realisiert werden kann.« Und schlimmer noch: »60 Prozent der Befürworter der
Zweistaatenlösung sind nicht der Meinung, dass die Siedlungspolitik die Tür dafür zuschlägt. Das
heißt, die Palästinenser sollen sich mit dem zufrieden geben, was jetzt noch für sie übrig ist von
Palästina.«
Klein betrachtet diese Haltung als ein Resultat der »geschickten Rhetorik« von Ministerpräsident
Benjamin Netanjahu, dem er hohe Popularitätswerte bescheinigt. Netanjahu trete mit einer verbalen
Akzeptanz der Zweistaatenlösung auf und vermittle den Bürgern, dass man damit nichts aufgeben
müsse, zumindest nicht jetzt. Während des Oslo-Friedensprozeses zwischen Israel und PLO hätten
der künftige Jerusalem-Status, die Flüchtlingsfrage und der endgültige Grenzverlauf als
Hauptprobleme in den Verhandlungen gegolten. Die Siedlungen seien aber inzwischen ein ebenso
großes Problem geworden.
Eine Zahl, die Klein nennt, verdeutlicht dessen Dimension eindrucksvoll. Gab es zum Zeitpunkt der
Unterzeichnung der israelisch-palästinensischen Prinzipienerklärung zu Beginn des Oslo-
Friedensprozesses im Jahre 1993 etwa 120 000 jüdische Siedler im Westjordangebiet, so sind es
jetzt bereits 470 000. Und Netanjahu erklärt immer wieder, dass dieser Prozess für ihn keineswegs
abgeschlossen ist.
Das ist aber noch nicht alles. Die physische Zerstörung der Infrastruktur der palästinensischen
Autonomiebehörde nach Beginn der zweiten Intifada (allgemeiner Aufstand der Palästinenser – R.
E.) ab 2000 habe binnen kurzem eine andere Situation geschaffen. Zwischen Jordan und Mittelmeer
herrscht wieder nur noch eine Macht – Israel. »Alle meine Analysen zeigen: Abu Mazen
(Palästinenserpräsident Mahmud Abbas – R. E.) hat genauso viel Befugnisse, wie Israel ihm jeweils
einräumt. Ich zitiere einen israelischen General: ›Er ist Unterauftragnehmer der israelischen
Regierung.‹«
Der Soziologe Klein teilt entsprechend der Behandlung durch Behörden, Politik und allgemeines
Staatsverständnis Israels die Palästinenser vertikal in fünf Gruppen ein. Ganz oben stehen die
Palästinenser mit israelischem Pass. Sie verfügen formal über gleiche Rechte wie jüdische Israelis,
werden aber dennoch diskriminiert. An zweiter Stelle kommen jene Palästinenser im okkupierten
Osten Jerusalems, das zwar regierungsoffiziell zu Israel gehört, dessen palästinensische Einwohner
denen innerhalb Israels aber nicht gleichgestellt sind.
Nach den palästinensischen Bewohnern des Westjordangebiets (dritte Gruppe) folgen jene
Palästinenser, die eigentlich auch am Westufer des Jordans, jedoch westlich der von Israel
errichteten Mauer wohnen, die teilweise weit ins Westjordanland reicht und damit Tausende
Palästinenser von ihrem Hinterland abschneidet. Am schlimmsten treffe es die Einwohner des Gaza-
Streifens. Sie, so Klein, werden dafür bestraft, dass sie Hamas gewählt haben. Und so könne jeder
israelische Offizier heutzutage willkürlich entscheiden, was in das abgeriegelte Land hineingelassen
werde: heute nur Nudeln, morgen kein Reis, zwar Kaffee, aber kein Tee...
Auf dem Podium war aber auch Hoffnung anwesend, verkörpert in Einat Podjarny und Fadi Shbeita
– zwei jungen Vertretern der Organisation »Re'ut Sadaka« (Freundschaft auf Hebräisch und
Arabisch). Die Jüdin und der Palästinenser, beide israelische Staatsbürger, die Kleins Ansichten im
wesentlichen teilten, berichteten von ihren gemeinsam organisierten Aktionen gegen die Mauer und
für andere Vorhaben israelisch-palästinensischer Verständigung.
* Aus: Neues Deutschland, 6. November 2009
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