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Kein Kibbuz-Sozialismus

Staatstragender Gewerkschaftsdachverband, neoliberale Herrschaft: In Israel wachsen laut OECD-Studie trotz Hochkonjunktur die sozialen Gegensätze

Von Raoul Rigault *

Israel behauptet, Vorbild für Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu sein. Mit der Realität 2011 hat dieses auf den linkszionistischen »Kibbuz-Sozialismus« der Gründerjahre zurückgehende Märchen nichts zu tun. Das belegt auch eine aktuelle Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Die Forscher des Klubs kapitalistischer Industrienationen konstatieren einen »alarmierenden Trend«: Trotz wirtschaftlicher Prosperität nehme die »Ungleichheit« rasant zu.

Von 2004 bis 2008 wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Israels jährlich um fünf Prozent. Nach einem krisenbedingten Einbruch wurden 2010 bereits wieder 4,6 Prozent erreicht. Für dieses und das kommende Jahr erwarten Experten je 3,8 Prozent BIP-Zuwachs. Dennoch ist die Armutsrate fast doppelt so hoch wie im Mittel der 34 OECD-Mitgliedsländer. Jeder fünfte Israeli lebt der Studie zufolge im Elend. Der Abstand zwischen dem durchschnittlichen Lebensstandard und dem Level, auf dem das ärmste Zehntel der Bevölkerung sein Dasein fristet, ist dreimal größer als im OECD-Schnitt. 39 Prozent der Israelis finden es »schwierig« oder »sehr schwierig«, von ihren laufenden Einkommen zu leben.

Schlechte Noten

Die vor einem Jahr von der rechtsradikalen Regierung Benjamin Nethanjahus als diplomatischer Erfolg bejubelte OECD-Mitgliedschaft erweist sich nun als etwas unangenehm. »Plötzlich hast du unparteiische Zahlen, die zeigen, wie die Lage in puncto Armut, Wohlfahrt und so weiter bei uns aussieht und die Leute sagen: ›Möglicherweise hatten diese linken Spinner doch recht‹«, freut sich Amir Paz-Fuchs, Soziologe am Ono-Academic-College und ehemaliger Vorsitzender des Zentrums für die Rechte der Arbeitslosen.

Dabei hätte es ausländischer Analysen nicht bedurft. Auch die Nationale Versicherungsanstalt NII stellte in ihrem Jahresbericht bereits 2009 eine deutliche »Verschlimmerung« der Ungleichheit fest. Laut der Erhebung stieg der Bevölkerungsanteil jener, die in armen Familien leben, von 23,7 auf 25 Prozent. Einen neuen Rekord erreichte die Kinderarmut mit 36,3 Prozent. Für einen erheblichen Teil der jungen Generation wird das Elend zur prägenden Erfahrung. Das alles ist ein von Menschen gemachtes Schicksal, denn die Sozialausgaben belaufen sich nur auf 16 Prozent des Staatshaushaltes. Im OECD-Schnitt sind es 21 Prozent.

Fiskalpolitisch gibt es dafür keinen ernsthaften Grund. Das Haushaltsdefizit belief sich im vergangenen Jahr auf 3,7 Prozent und war damit viel geringer als in den USA, Japan oder der EU. Die Bruttoauslandsverschuldung erhöhte sich seit 2008 nur geringfügig von 86,1 auf 89,6 Milliarden US-Dollar, während die Devisenreserven von 42,5 auf 70,9 Milliarden zulegten. Auch die Handelsbilanz ist ausgeglichen. Israel exportiert Edelsteine (28,6 Prozent), chemische Erzeugnisse (23,2 Prozent) und Elektronik (19,1 Prozent), vor allem in die USA, nach Hongkong, Belgien und Indien. Dank milliardenschwerer Transfers (Militärhilfe) insbesondere aus Washington verzeichnete sogar die komplette Leistungsbilanz in den letzten drei Jahren ein Plus von gut drei Prozent.

Dennoch lautet das entscheidende Motto: »Kanonen statt Butter«. Das Besatzungsregime im Westjordanland, die Abriegelung des Gazastreifens, die Forcierung des Siedlungsbaus in besetzten Gebieten und die permanente Bedrohung aller Nachbarstaaten verschlingt erhebliche Summen. Hinzu kommt der 1985 im Gleichschritt mit den USA und Großbritannien vollzogene Schwenk zum Neoliberalismus. Der damals beschlossene wirtschaftliche Stabilisierungsplan umfaßte neben drastischen Kürzungen der öffentlichen Ausgaben und marktorientierten Strukturreformen auch umfangreiche Privatisierungen. Bereits ein Jahr später waren 90 regierungseigene Betriebe und Einrichtungen verkauft. Als Finanzminister des rechten Likud-Blocks forcierte Benjamin Netanjahu diese Politik in den Jahren 2003 bis 2005 noch einmal, als er die Einkommenszuschüsse für sozial Schwache um 30 Prozent reduzierte. Zeitgleich sank der gewerkschaftliche Organisationsgrad von 85 auf heute nur noch 30 Prozent. Das ist vor allem Resultat der Enttäuschung über die staatstragende und »sozialpartnerschaftliche« Linie der Führung des Dachverbandes Histadrut.

Leben mit Mindestlohn

Die meisten der in miserablen Verhältnissen Lebenden sind »Working Poor«, also arm trotz Arbeit. Eine Million Israeli (insgesamt hat das Land etwa 7,5 Millionen Einwohner) müssen mit dem Mindestlohn von 3890 Neuen Schekel (NIS; knapp 780 Euro) auskommen. Die meisten von ihnen sind Angehörige der arabischen Minderheit, Einwanderer aus Äthiopien und ultraorthodoxe Juden (Haredim). »In Wirklichkeit ist der Mindestlohn ein beschönigender Begriff für Diskriminierung, Unterdrückung und Demütigung derer, die keine Möglichkeit haben, sich gegen die Mächtigen zu wehren«, hieß es in der Tageszeitung Haaretz. Laut einer Untersuchung des »Adva Center« ist das Nationaleinkommen von 2000 bis 2009 um 30 Prozent gestiegen. Die Arbeitenden hatten allerdings nur 17 Prozent mehr in der Lohntüte, während die Unternehmerprofite um 59 Prozent wuchsen. Die sieben reichsten Bürger verfügen laut US-Magazin Forbes über ein Privatvermögen von umgerechnet zusammen 24,4 Milliarden US-Dollar.

Selbst Zentralbankchef Stanley Fischer bereitet das Sorge. Die Hälfte der Araber und 60 Prozent der Haredim leben jetzt in Armut. Da dies die Gruppen mit der höchsten Geburtenrate und einer entwickelten Sub- bzw. Gegenkultur sind, könnte hier ein ernsthaftes Potential für Umverteilungskämpfe entstehen. »Wir haben zwei Länder in einem« – sagt selbst der Direktor der neoliberalen Denkfabrik »Taub Center for Social Policy Studies«, Dan Ben-David – »eines aus der ersten und eines aus der dritten Welt.«

* Aus: junge Welt, 5. Juli 2011


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