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Barak spricht von zwei Hauptstädten in Jerusalem

Störfeuer von Rechts - Streit um den Tempelberg

Sharons provokanter «Spaziergang» auf dem Tempelberg

Der israelische Oppositionsführer Sharon hat am Donnerstag seinen angekündigten «Spaziergang» auf dem Tempelberg vorgenommen, der von Palästinensern als Provokation bezeichnet wurde. Der Ministerpräsident Barak sprach sich zum ersten Mal für die Gründung zweier Hauptstädte auf dem Gebiet der Heiligen Stadt aus.

In Begleitung einer grossen Delegation von Mitgliedern der rechtskonservativen Likud-Partei hat Oppositionsführer Ariel Sharon am Donnerstag einen schon vor Tagen angekündigten Besuch auf dem Tempelberg durchgeführt. Von den Palästinensern war Sharons Vorhaben als provokativer Akt bezeichnet worden, und sie hatten zu Demonstrationen gegen die Präsenz der Politiker bei ihrem Heiligtum aufgerufen. Um den störungsfreien Verlauf des Besuches zu garantieren bot die israelische Polizei grosse Kontingente von Beamten auf.

Mutwillige Emotionalisierung

Im Verlauf des Besuches der Politiker auf dem Areal des Felsendoms und der Aksa-Moschee kam es zu Zornesausbrüchen. Palästinenser warfen Steine, und die israelische Polizei setzte Plasticmantelgeschosse gegen die Demonstranten ein. Insgesamt sollen Dutzende von Polizisten verletzt worden sein. Auf palästinensischer Seite soll es vier Verletzte geben. Der Abgeordnete der arabischen Nationalen Demokratischen Partei, Ahmed Tibi, stürzte im Getümmel auf dem Tempelberg zu Boden und brach sich die Hand.

Sharon behauptete, dass er sich ein Bild aus erster Hand über die Bauarbeiten machen wolle, die der Wakf, die islamische Verwaltungsbehörde, auf dem Tempelberg ausführe. Angeblich fügen die nach israelischer Ansicht illegalen Ausschachtungen historischen Artefakten unermesslichen Schaden zu. Beamte des Wakf widersetzten sich dem Vorhaben der Likud-Politiker, gemeinsam in die Baustelle zu steigen. Schliesslich konnte Sharon ohne seine Kollegen, in Begleitung eines Archäologen, die unterirdischen Bauarbeiten in Augenschein nehmen.

Mit mehr als nur einer Spur Zynismus hatte Sharon sein Vorhaben als «Besuch des Friedens» angekündet. Israelische Regierungsvertreter reagierten mit Entrüstung und meinten, der Oppositionsführer solle sich nicht naiv stellen. Einziger Zweck seines Augenscheins sei gewesen, Feuer zu legen und den Friedensprozess zum Scheitern zu bringen. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass der palästinensische Volksaufstand vor einem Dutzend Jahren, die Intifada, unter anderem dadurch ausgelöst wurde, dass Sharon unter grossem Sicherheitsaufwand eine Zweitwohnung mitten im muslimischen Viertel der Altstadt bezogen hatte. Damals wie heute unterstrichen linksgerichtete Politiker, dass Sharon zwar spazieren dürfe oder Wohnsitz nehmen könne, wo immer er wolle, dass er aber nicht das Recht habe, mutwillig Konfrontationen zu provozieren.

Konkurrenz mit Netanyahu

Sharons Spaziergang auf dem Tempelberg war aber nicht nur ein politisches Signal an die Palästinenser. Der Besuch scheint auch dazu angetan gewesen zu sein, dem innerparteilichen Rivalen, dem ehemaligen Ministerpräsidenten Netanyahu, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der Generalstaatsanwalt Israels hätte nämlich am gleichen Tag die Niederschlagung eines Strafverfahrens gegen Netanyahu und seine Frau bekanntgeben sollen, und es war erwartet worden, dass jubelnde Anhänger des früheren Regierungschefs die Gelegenheit benützen würden, die Rückkehr ihres Idols an die Spitze der Partei zu fordern. Schliesslich wurde die Ankündigung aber einen Tag vorgezogen, und die scharfen Rügen des Staatsanwaltes an die Adresse Netanyahus vertrieben den Gefolgsleuten sowieso die Lust auf Freudenfeiern. Trotzdem wird es Sharon schwer fallen, sich an der Parteispitze zu behaupten, falls sich Netanyahu entschliessen sollte, wieder in den politischen Ring zu steigen.

Zwei Hauptstädte in Jerusalem

In einem Interview, das Ministerpräsident Barak zum jüdischen Neujahr der israelischen Tageszeitung «Jerusalem Post» gewährte, sprach er sich zum ersten Mal für die Gründung zweier Hauptstädte auf dem Gebiet der Heiligen Stadt aus. Die Regierungssitze der beiden Staaten Israel und Palästina könnten Seite an Seite in Al-Kuds und Jerusalem existieren. Als Gegenleistung für Israel würde Jerusalem, das heute von fast keinem Staat als Hauptstadt Israels akzeptiert wird, international anerkannt. Dutzende von ausländischen Vertretungen würden ihre Botschaftsgebäude nach Jerusalem verlegen, und jüdische Quartiere, die heute als besetztes Gebiet gelten, da sie jenseits der sogenannten «grünen Linie» liegen, würden im Rahmen eines solchen Abkommens zu Israel geschlagen. Allerdings wisse er nicht, wann es soweit sein werde, da die Palästinenser, wie Barak erklärte, noch nicht zu den notwendigen historischen Entscheidungen bereit seien. In der Zwischenzeit sollten die übrigen anstehenden Probleme geregelt werden. Bis zur Realisierung der Vision zweier Hauptstädte sieht Barak eine Frist von zwei Jahren vor, für die Regelung der Lage auf dem Tempelberg sogar eine Zeitspanne von zehn Jahren.

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Aus: Neue Zürcher Zeitung, 29.09.2000

Die Taktiker vom Tempelberg

Israels Premier Barak und sein Likud-Rivale Scharon positionieren sich in der Jerusalem-Frage / Von Thorsten Schmitz

Einen Tag vor Beginn der höchsten jüdischen Feiertage Rosch Haschana (Neujahr) und Jom Kippur hat in Israel der Wahlkampf begonnen – mit zwei Paukenschlägen. Premierminister Ehud Barak, der seit über zwei Monaten ohne parlamentarische Rückendeckung einen Frieden mit den Palästinensern sucht, spricht erstmals von der Möglichkeit einer Zweiteilung Jerusalems. So weit ist ein Premier noch nie gegangen.

Man kann Baraks Vorschlag nur so erklären, dass er angesichts drohender Neuwahlen Rückhalt sucht bei der säkularen Mehrheit der israelischen Bevölkerung. Diese wäre nämlich bereit, den arabischen Ostteil Jerusalems an die Palästinenser abzutreten, wenn ihre Heimat dann endlich von Frieden fände und nicht von weiteren Kriegen und Scharmützeln heimgesucht würde.

Mit ungleich größerer Wucht hat jedoch Oppositionsführer Ariel Scharon auf die Wahlkampf-Pauke geschlagen. Während Barak von Jerusalem als Hauptstadt für zwei Völker spricht, reklamiert der Likud-Vorsitzende lautstark den Anspruch Israels auf ganz Jerusalem. Seine provozierende Stippvisite auf dem Tempelberg, an den sich die Klagemauer schmiegt, sollte auch seine Position unter den rechten Likud-Anhängern stärken.

Doch das Lächeln Scharons am Donnerstag Vormittag war in zweierlei Hinsicht geheuchelt. Seine Aussage, er sei in „friedlicher Mission“ zur Esplanade des Tempelbergs gepilgert, ist gelogen. Scharon, der als Verteidigungsminister die Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila zu verantworten hatte, wusste, dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen würde: Tausend israelische Polizisten eskortierten ihn und seine Anhänger.

Zudem kann man die Aktion Scharons, als israelischer Politiker die drittheiligste Stätte der Muslime zu besuchen, auch als Kampfansage an den früheren Likud-Premierminister Benjamin Netanjahu betrachten. Scharon fürchtet dessen politisches Comeback und hofft, durch solche populistische Aktionen Zustimmung aus dem rechten Lager zu bekommen. Erst kurz zuvor hatte die Generalstaatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren wegen Korruption gegen Netanjahu eingestellt, da die Beweislage zu dünn gewesen sei. Der politischen Rückkehr des so rehabilitierten Netanjahu steht nun nichts mehr im Wege – und dem Likud droht ein innerparteilicher Hahnenkampf zwischen Scharon und Netanjahu. Scharon, der politische Ziehvater Netanjahus, möchte seinen Lebenstraum erfüllen und endlich an der Spitze der Regierung stehen.

Ein Scharon als Premierminister aber wäre ein Albtraum für ein Land, das einem Friedensabkommen mit den Palästinensern noch nie so nahe war wie jetzt. Denn Scharon denkt noch immer in den anachronistischen Kategorien von Freund und Feind und scheint hinter jedem Araber einen Terroristen zu vermuten. Er gilt als zynisch und skrupellos und wird wohl alles tun, um Netanjahu am Wiederaufstieg in der Likud-Hierarchie zu hindern. Schon werden Netanjahu in Umfragen die besseren Chancen bei Neuwahlen vorhergesagt.

Die von Scharons Auftritt provozierten Zusammenstöße auf dem Tempelberg nutzen andererseits dem bislang erfolglosen Barak. Die Schüsse und Schlägereien haben den Palästinensern aufs Anschaulichste verdeutlicht, dass ihnen eine neue Zeit der Kämpfe droht, wenn bei Neuwahlen ein Likud-Premier Scharon oder Netanjahu siegen sollte. Barak kann darum mit noch mehr Nachdruck Jassir Arafat zu mehr Flexibilität in der Jerusalem-Frage auffordern. Denn einen Premierminister wie Barak, der wie keiner seiner Vorgänger Konzessionen an die Palästinenser gemacht hat, würde Arafat nicht so bald wieder als Verhandlungspartner haben.

Gut möglich, dass ein Verhandlungsdurchbruch zwischen Israel und den Palästinensern nur noch eine Frage von Tagen ist. Auch Arafat hat von seiner starren Haltung Abstand genommen und spricht inzwischen davon, dass Ost-Jerusalem unter die Hoheit arabischer Staaten gestellt werden könnte – etwa unter die des israelfreundlichen Marokkos.
Aus: Süddeutsche Zeitung, 29.09.2000

Barak in der Offensive

Der Verzicht auf die arabischen Stadtteile Jerusalems ist auf höchster Regierungsebene enttabuisiert. Von Inge Günther

Es ist eine Faustregel, dass in Zeiten intensiver Friedensgespräche in Nahost mit Störmanövern zu rechnen ist. Diesmal hat Israels prominentester Hardliner, Ariel Scharon, persönlich für eine Provokation gesorgt, die die Vermittlungsbemühungen Washingtons wahrlich nicht erleichtert.

Mit selbstherrlicher Attitüde ist Scharon samt großem Bahnhof auf dem Haram al-Scharif eingelaufen, dem "Erhabenen Heiligtum" der Moslems, das die Juden Tempelberg nennen. Die prompt folgenden Zusammenstöße haben auch die Friedenswilligen bitter daran erinnert, dass sich inmitten Jerusalems ein religiös-politisches Pulverfass befindet. Es per Kompromiss zu entschärfen, setzt enormes Vertrauen auf beiden Seiten in die Gutwilligkeit der jeweils anderen voraus. Die Bereitschaft dazu ist seit Donnerstag unter gewöhnlichen Israelis und Palästinensern jedenfalls nicht gewachsen.

Trotz dieses Rückschlags gab es zeitgleich einen deutlichen Fortschritt zu verzeichnen. Was nach Camp David durchsickerte, hat Israels Premier Ehud Barak jetzt offiziell best& #228;tigt. Frieden heißt, mit einer palästinensischen Kapitale Al-Quds Seite an Seite des israelischen Jerusalems zu leben. Der Verzicht auf die arabischen Stadtteile ist damit auf höchster Regierungsebene enttabuisiert. Mit dem Slogan der Rechten "Barak teilt Jerusalem" geht der Premier nun also offensiv um. Dennoch: am Hoheitsstreit um das Herz der "Heiligen Stadt" droht ein Friedensschluss nach wie vor zu scheitern. Die Einsicht, dass der Anspruch auf einen Quadratkilometer das nicht wert ist, muss erst noch reifen. Auf beiden Seiten.
Aus: Frankfurter Rundschau, 29.09.2000

Barak greift tief in die Trickkiste

Israels Premier will zwei Hauptstädte in Jerusalem

Jerusalem könnte nach dem Willen des israelischen Regierungschefs Ehud Barak künftig zwei Hauptstädte beherbergen. Wie der Premier der Freitagausgabe der Jerusalem Post erklärte, sollen Jerusalem und El-Kuds - die arabische Bezeichnung für Jerusalem - nebeneinander als Hauptstadt Israels und als Hauptstadt der Palästinenser bestehen. Diese Formel sei wesentlicher Bestandteil eines Friedensabkommens, von dem er aber noch nicht wisse, ob es zustande kommen werde, erklärte Barak gegenüber der Zeitung.

Was auf den ersten Blick als weitreichendes Kompromißangebot erscheint, ist jedoch vor allem eine Absicherung der territorialen Ansprüche Israels. Wenn das Abkommen zustande komme, bedeute dies »die Anerkennung der Grenzen Israels durch die ganze Welt«, gab Barak freimütig der Jerusalem Post zu Protokoll. 80 Prozent der jüdischen Siedlungen im Westjordanland blieben dann unter israelischer Souveränität. Zudem werde es in Jerusalem auf Generationen hinaus »eine solide jüdische Mehrheit« geben. Praktisch alle im Ostteil Jerusalems errichteten jüdischen Viertel würden nach einem Abkommen zu Israel gehören, sagte Barak weiter.

Aber selbst in der Frage der »geteilten Hauptstadt« erweist sich das Angebot Baraks als Finte. Denn gerade in der Souveränität über den Tempelberg, die den Kern des Jerusalem-Streits ausmacht, blieb der Premier unnachgiebig. Der Konflikt um den Tempelberg in der Altstadt von Jerusalem, wo sich die Heiligen Stätten von Juden und Moslems befinden, hatte den Gipfel in Camp David vor zwei Monaten zum Scheitern gebracht. Israel hatte den überwiegend arabischen Ostteil Jerusalems, den die Palästinenser zu ihrer Hauptstadt machen wollen, 1967 nach dem Sechs-Tage-Krieg annektiert.

Wie emotionsgeladen der Streit um den Tempelberg ist, hatte sich ebenfalls am Donnerstag gezeigt: Bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen israelischen Polizisten und jugendlichen Palästinensern an der heiligen Stätte wurden mehrere Menschen verletzt. Die Ausschreitungen begannen kurz nach dem Besuch des Vorsitzenden des oppositionellen konservativen Likud-Blocks, Ariel Scharon. Die Polizisten setzten Gummigeschosse gegen die etwa 200 Palästinenser ein, die sich wiederum mit Steinwürfen auf die Beamten wehrten. Drei Palästinenser und etwa zwei Dutzend Polizisten wurden nach Behördenangaben verletzt.

Der palästinensische Präsident Yassir Arafat erklärte, Scharons Besuch sei sehr gefährlich. Die arabischen und islamischen Länder sollten die heilige Stätte möglichst schnell schützen. Arafat sah in dem Besuch Scharons eine Provokation, mit der der Politiker die Souveränität Israels über den Tempelberg habe demonstrieren wollen. Ein palästinensischer Behördenvertreter meinte, daß Tausende Polizisten den Politiker beschützen müßten zeige, daß Israel keine Kontrolle über das Gebiet habe.

Delegationen Israels und der Palästinenser setzten unterdessen ihre Beratungen über den Nahost-Prozeß in den USA fort. Unterhändler beider Seiten trafen am Mittwoch abend (Ortszeit) an einem geheimgehaltenen Ort nahe Washington mit dem US-Nahostbeauftragten Dennis Ross zusammen.
Aus: junge welt, 29. September 2000



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