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"Die Gefangenen sollen wissen, sie sind nicht allein"

Hungerstreik palästinensischer Häftlinge von Aktivisten in Haifa unterstützt. Aufbau neuer Protestbewegung notwendig. Gespräch mit Muhannad Abu-Ghosh *


Muhannad Abu-Ghosh ist ein linker Blogger in Haifa. Zusammen mit den Bloggern Majad Kayyal und Nizar Jubran unterstützt er den Protest palästinensischer Gefangener, die seit dem 27. September im Hungerstreik sind.


In den kommenden Wochen sollen im Gegenzug für die Freilassung des israelischen Soldaten Gilad Schalit 1027 palästinensische Gefangene aus israelischer Haft entlassen werden. Ungeachtet dessen protestieren palästinensische Gefangene weiter mit einem Hungerstreik gegen die menschenunwürdigen Haftbedingungen. Seit dem 8. Oktober wird der Protest auch von linken Aktivisten in Haifa unterstützt. Was erzielen Sie mit dem Hungerstreik außerhalb der Gefängnisse?

Ich möchte zunächst erwähnen, daß nicht nur in Haifa gestreikt wird. Auch in Nazareth und Um-Elfahem wurde unserem Beispiel gefolgt und Dutzende Aktivisten sind in Hungerstreik getreten. Unser Streik hat mehrere Ziele: Zunächst geht es um die moralische Unterstützung der hungerstreikenden Gefangenen. Wir konnten schon am ersten Tag die Nachricht unseres Streiks in die Gefängnisse bringen. Sie drang auch zu Ahmad Saadat in Einzelhaft durch, der uns wiederum eine Grußbotschaft schickte. Die Gefangenen wissen somit, sie sind nicht allein.

Ein weiteres Ziel war, Haifa, ungeachtet der Teilung durch die sogenannte Grüne Linie oder die Grenzen von 1948 bzw. 1967, zurück in die Landkarte des palästinensischen Befreiungskampfes zu bringen. Wir haben bewiesen, daß die arabische Jugend und Gesellschaft in Haifa nach wie vor ein Teil der palästinensischen Bewegung sind. Das ist auch ein starkes Signal an die israelischen Sicherheitsapparate, die bisher versuchten, Haifa als Symbol der Friedlichkeit und der »Koexistenz« darzustellen, wo nur »gute Araber« leben.

Sollen neue Organisationen geschaffen werden?

Es geht um die Entwicklung neuer Kampfmethoden und Organisationsformen. Unter uns sind Mitglieder unterschiedlicher Parteien. Es findet bei allen Protestteilnehmern ein Umdenken statt.

Also kann Ihr Streik auch als Protest gegen die Passivität der Gesellschaft bezüglich der Gefangenen interpretiert werden?

Teilweise ja. Der Protest hat neues politisches Vokabular ins arabische Milieu gebracht. Wir haben an der herrschenden Mentalität der arabischen politischen Parteien innerhalb der Grüne Linie gerüttelt. Diese trennten traditionell die Kämpfe der Araber im israelischen Staatsgebiet vom Kampf im Westjor­danland und Gaza. Sie reduzierten auch unsere Opfer bei der Intifada von 2000 auf die 28 Gefallenen im Oktober 2000 und gedenken diesen als Opfer des Oktober-Aufstands und nicht der Intifada.

Im »Komitee für die arabischen Minderheiten in Israel« sitzen Vertreter aller arabischen politischen Gruppen. Normalerweise sind das Rentner, die durch steriles Gerede die Kämpfe kanalisieren und entpolitisieren. Wir haben ihr Monopol auf Politik gebrochen und sie gezwungen, zu einer dringlichen Frage, wie jene der Gefangenen, Stellung zu beziehen. In der vergangenen Woche erklärten wir ihnen: Unser Hungerstreik richtet sich gegen den Staat. Wenn ihr uns nicht unterstützt, werden wir morgen einen Durststreik beginnen, der sich gegen euch richten wird.

Die Nachricht vom Gefangenenaustausch kam am Abend des 11.Oktober während einer Großdemonstration in Haifa. Wie wurde dies aufgenommen?

Zuerst gab es Siegeseuphorie, sogar Ekstase. Bald aber fingen wir an, uns Gedanken über die übriggebliebenen Gefangenen zu machen. Dann kam auch die nicht unberechtigte Angst auf, daß die Haftbedingungen und die Forderungen der Gefangenen kein Gegenstand der Verhandlungen zwischen Hamas und Israel waren, und das wäre schlimm…

Wir freuen uns auf die Freilassung von 1000 Palästinensern, aber für die Gefangennahme des israelischen Soldaten bezahlten wir durch die israelischen Vergeltungsschläge mit mehr als 5000 Toten. Dieser hohe Preis soll auch bei den Verhandlungen nicht vergessen werden. Jetzt sind wir um so mehr besorgt um die hungerstreikenden Gefangenen. Die Freilassung eines Teils der Streikenden wird einen Schlag gegen die Moral der verbleibenden darstellen. Deswegen setzen wir auch unseren Streik fort. Der Ausstand in den Gefängnissen geht also weiter.

Und wie ich schon sagte, es kommen immer mehr Menschen zu unserem Protestzelt, und etliche möchten sich am Streik beteiligen.

Interview: Mohammad Abu-Rous

* Aus: junge Welt, 17. Oktober 2011


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