"Man will sie aus der Stadt herausekeln"
Palästinenser aus Ostjerusalem kämpft mit Hungerstreik vor Botschaft Israels in Berlin um Paß für sein Kind. Ein Gespräch mit Raif Hussein *
Raif Hussein ist Vorsitzender der Palästinensischen Gemeinde
Deutschland (PGD) mit Hauptsitz in Hannover, die 21 Suborganisationen hat.
Die Palästinensische Gemeinde Deutschland solidarisiert sich mit dem
derzeit in Berlin lebenden Palästinenser Firas Maraghy, der seit
Dienstag vor der israelischen Botschaft in Berlin im Hungerstreik ist.
Dort hat man ihm verweigert, seine neugeborene Tochter in seinen
»laissez passer« (israelisches Reisedokument) einzutragen. Warum greift
er zu solch drastischem Mittel?
Zunächst einmal gilt es, den Sonderstatus der Palästinenser, die - wie
Firas Maraghy - in Ostjerusalem leben, zu verstehen: Sie sind staatenlos
und erhalten keinen regulären Reisepaß; nur dieses Reisedokument, einen
sogenannten »laissez passer«. Im Gazastreifen und in der Westbank
bekommen Palästinenser einen palästinensischen Paß; in Israel ein
israelisches Dokument. Einzig im nach dem Krieg von 1967 von Israel
annektierten Ostjerusalem gelten sie als heimatlos, obgleich die
Annexion international bis zum heutigen Tag nicht anerkannt ist. Im
Briefwechsel mit Firas Maraghy hat die israelische Botschaft nun
mitgeteilt: Er könne seine Tochter in Jerusalem nur offiziell eintragen
lassen, wenn er mit ihr dorthin fliege. Wir wissen aber, daß eine solche
Maßnahme durch das israelische Innenministerium sich jahrelang hinziehen
kann - ergebnisoffen. Mit anderen Worten: Es ist eine Prozedur, um die
Anzahl der Palästinenser im Großraum Jerusalem, derzeit zwischen 200000
und 220000, zu verringern. Man will sie aus der Stadt herausekeln. Firas
Maraghy hat den Hungerstreik begonnen, nachdem er monatelang vergeblich
auf üblichem Weg versucht hatte, seine mittlerweile sechs Monate alte
Tochter registrieren zu lassen, und ständig abgewiesen wurde.
Wieso ist die Situation eskaliert?
Firas Maraghy hat das Auswärtige Amt angeschrieben. Dort hat man
hochnäsig deutlich gemacht, daß man sich für ihn nicht einsetzen kann -
oder will. Er beruft sich auf Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte. Erstens: Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines
Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen.
Zweitens: Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines
eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren. Der 39jährige ist
ein Kind der ersten Intifada. Bevor er Jerusalem gemeinsam mit seiner
deutschen Frau, die er dort kennenlernte, verlassen hat, war er fünf
Jahre aus politischen Gründen inhaftiert. Er hatte sich an Protesten
gegen die israelische Besatzung beteiligt - man braucht auch nur
Mitglied einer palästinensischen Organisation zu sein, schon wird man
verhaftet. Firas Maraghy will nicht hinnehmen, daß die Israelis jetzt
eine schleichende ethnische Säuberung in Jerusalem vornehmen. Viele
Palästinenser in der ganzen Welt mußten Ähnliches erleben. Firas und
seine Frau wollen in jedem Fall zurück nach Ostjerusalem, wenn ihr Kind
älter ist.
Wie beurteilen Sie Israels Besatzungspolitik unter Ministerpräsidenten
Benjamin Netanjahu?
Die neue Regierung ist offenbar noch erfinderischer geworden. Man geht
nunmehr nicht nur gegen Palästinenser vor, indem man ihre Häuser
zerstört, keine Baugenehmigungen erteilt, Gemeindeflächen nicht
vergrößert, Bewegungsfreiheit einschränkt und dafür sorgt, daß kaum mehr
Arbeitsplätze entstehen. Obendrein gilt: Wer Steuern für Wasser und
Abwasser in Ostjerusalem längere Zeit nicht zahlt, verliert seinen
Status. Die nach dem Abkommen in Oslo 1994 gegründete Palästinensische
Autonomiebehörde schaut all dem relativ passiv zu.
Wie sind die Reaktionen auf den Hungerstreik?
Ich erhalte unter meiner Mailadresse raif@raif-hussein.de
Solidaritätsbekundungen. Viele äußern sich schockiert über die ethnische
Säuberung. Einige wußten nicht, daß Palästinenser aus Ostjerusalem als
staatenlos gelten, und sind fassungslos, daß sich nichts bewegt. Die
offizielle Reaktion ist mehr als dürftig: Firas Maraghy erhielt keine
Genehmigung, seinen Hungerstreik vor der israelischen Botschaft
anzutreten; er ist nur geduldet, weil er dort allein unterm Baum mit
einem Plakat sitzt. Wir haben uns gefragt: Wer entscheidet eigentlich,
was hier auf deutschem Boden passiert? Dennoch kommen
Solidaritätsgruppen zu Besuch. Damit oder mit Protestschreiben an die
israelische Botschaft kann man ihn unterstützen.
Interview: Gitta Düperthal
Israelische Botschaft, Auguste-Viktoria-Straße 74, 14193 Berlin,
Mail: botschaft@israel.de
* Aus: junge Welt, 30. Juli 2010
"Darum habe ich mich entschlossen, einen Hungerstreik vor der
israelischen Botschaft zu beginnen"
Im Folgenden dokumentieren wir die Pressemitteilung von Firas
Maraghy.
Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte besagt:
-
Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und
seinen Aufenthaltsort frei zu wählen.
-
Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu
verlassen und in sein Land zurückzukehren.
Die israelischen Behörden verweigern den Bewohnern Ostjerusalems dieses
Recht tagtäglich. Israel zerstört hierdurch willentlich das Leben von
Individuen und Familien, denn ihnen wird ihre gesamte Existenzgrundlage
entzogen und ganze Familien werden auseinandergerissen. Ich bin eine
derjenigen Personen, denen das Recht, im Land ihrer Väter und Vorväter
zu leben und in dieses zurückzukehren, genommen werden soll. Und
zugleich weigern sich israelische Behörden, meiner im Dezember 2009
geborenen Tochter das Recht, in Jerusalem zu leben, zuzugestehen.
Darum habe ich mich entschlossen, als Protest gegen die Verwehrung
meines legitimen Rechts und des legitimen Rechts meiner Tochter, am
26.07.2010 um 17:00 Uhr einen Hungerstreik vor der israelischen
Botschaft zu beginnen. Ziel dieses offenen Protests ist es, mein eigenes
Recht und das meiner Tochter auf ein Leben in Jerusalem durchzusetzen.
Ich bin Palästinenser aus Ostjerusalem, das nach dem Krieg von 1967
durch Israel annektiert wurde. Diese Annektion hat die internationale
Gemeinschaft zwar bis zum heutigen Tag nicht anerkannt, Israel
entscheidet aber seither auch über das Schicksal der palästinensischen
Bewohner der Stadt.
Ich bin seit September 2007 in Deutschland, da meine Frau hier bis 2009
Studentin war und sich momentan auf eine Promotion an einer deutschen
Universität vorbereitet. Nachdem ich meinen ersten Deutschkurs
abgeschlossen hatte und im Mai 2009 nach Jerusalem fuhr, um meine
Papiere zu erneuern und meine Ehe eintragen zu lassen, teilte mir das
dortige Innenministerium mit, ich habe jegliche Rechte als Einwohner
verloren. Darum dürfe ich meine Ehe nicht eintragen lassen und in
Zukunft werde auch mein Personalausweis nicht verlängert. Begründet
wurde dies damit, dass ich jetzt außerhalb des Landes lebe. Noch nicht
einmal das rassistische israelische Gesetz, das besagt, Palästinenser
aus Ostjerusalem sollten ihr Rückkehrrecht verlieren, wenn sie sieben
Jahre im Ausland gelebt haben, sieht ein solches Verhalten nach so
kurzer Zeit (ich war erst etwa eineinhalb Jahre in Deutschland) vor.
Zugleich wurde mir aber ein Reisedokument ausgestellt - wohl in der
Hoffnung, dass ich nicht zurückkommen werde.
Nachdem im Dezember 2009 unsere Tochter geboren wurde, gingen meine Frau
und ich gemeinsam Anfang April mit unserer Tochter in die israelische
Botschaft, um sie dort eintragen und ihr ebenfalls ein israelisches
Reisedokument ausstellen zu lassen. Denn wir beide sind davon überzeugt,
dass unsere Tochter genau wie ich das Recht hat, in Jerusalem zu leben.
Bekommt sie dieses Reisedokument nicht, kann es jederzeit passieren,
dass israelische Grenzbeamte ihr am Flughafen die Einreise verwehren
bzw. sie von dort ausgewiesen wird. Davor könnte sie auch ein deutscher
Pass keinesfalls schützen.
In der Botschaft ließ man uns Formulare ausfüllen - nur um uns am 17.
April schriftlich mitzuteilen, dass unserer Tochter kein Reisedokument
ausgestellt werden könne, da ihre Mutter Deutsche sei. Daraufhin
wendeten wir uns in einem Brief an den Botschafter Israels, der
ebenfalls negativ beantwortet wurde. Meine Frau schrieb daraufhin Briefe
an Abgeordnete aller Fraktionen des Deutschen Bundestags, an das
Auswärtige Amt und an das Bundeskanzleramt, in der Hoffnung, wenigstens
hier Hilfe zu bekommen. Die wenigen Antworten, die sie daraufhin bekam,
waren ebenfalls wenig hilfreich.
Daraufhin schrieb ich einen weiteren Brief an den israelischen
Botschafter, in dem ich ihn unter anderem konkret darüber informierte,
dass ich am 26.07.2010 um 17:00 Uhr einen Hungerstreik vor der
israelischen Botschaft beginnen werde. Auch danach habe ich von der
israelischen Botschaft keine positive Nachricht bekommen - lediglich
Bekundungen, meine Angelegenheit von Behörde zu Behörde weitergeleitet
zu haben.
Die israelischen Behörden hatten ausreichend Zeit, meinen Fall und den
meiner Tochter zu prüfen. Es entbehrt jeder Logik zu behaupten, die
gleichen Behörden, die dies angeblich bereits vor Monaten getan haben,
müssten sich mit dem Fall beschäftigen. Aus diesem Grund habe ich
entschieden, meinen Protest wie geplant zu beginnen.
Quelle: Website der Generaldirektion Palästinas in der Bundesrepublik
Deutschland, 29. Juli 2010; www.palaestina.org
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