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Das Diskriminierungs-Spiel / The Discrimination Game

Der Besatzer definiert Gerechtigkeit / The Occupier Defines Justice

Von Amira Hass

In der Jabotinsky-Straße in Jerusalem, gegenüber dem Sitz des Präsidenten, befindet sich eine mittelgroße Tafel, worauf zu lesen ist, dass sich an dieser Stelle früher der Hohe Militärgerichtshof der britischen Mandatsmacht befand, in dem die Prozesse gegen die hebräischen Widerstandskämpfer der „Haganah“, „Etzel“ oder „Lehi“ stattfanden. Die Tafel trägt das Wappen der Stadt Jerusalem und die Embleme der drei Widerstandsorganisationen. Weiter heißt es darauf wörtlich: „Die Widerstandskämpfer weigerten sich die Autorität des Gerichts anzuerkennen und verlangten als Kriegsgefangene anerkannt zu werden.“

Genau dasselbe tat der Sprecher des Palästinenserparlaments, der vor zwei Wochen von der israelischen Armee verhaftet wurde. Offenbar verweigerten auch die letzten beiden Gefangenen, deren Verhaftung mit der nach wie vor ausstehenden Freilassung des gekidnappten Soldaten Gilad Shalit begründet wurde, ihre Anerkennung des israelischen Militärgerichts. Nasser A-Shaer, palästinensischer Erziehungsminister, und Mahmoud Ramahi, Fraktionsführer im palästinensischen Gesetzgebenden Rat, wurden am Wochenende (19./20. August) verhaftet. Übrigens verwenden die Palästinenser in der letzten Zeit nicht mehr das Wort „verhaftet“, wenn es um die Gefangennahme von Palästinensern geht. Sie sprechen stattdessen von „entführt“.

Diese drei Gefangenen/Entführten teilen ihr Schicksal mit 10.000 anderen palästinensischen Häftlingen und Gefangenen. So wie die Häftlinge des hebräischen Widerstands sich seiner Zeit als POWs (Kriegsgefangene) sahen, und zwar unabhängig davon, ob sie britische Soldaten oder arabische Zivilpersonen töteten, so verlangen manche Palästinenser, dass ihre Leute auch als POWs zu betrachten seien. Andere bevorzugen die Definition als politische Gefangene. Doch lassen wir die Definitionen beiseite. Israel spielt sowieso mit den Definitionen – von der Straftat bis zur Verurteilung – wie es sie gerade braucht.

Anschließend wird ein weiterer Vorfall berichtet. Am Sonntag (20. August), erschossen israelische Soldaten im Süden von Nablus einen Arbeiter, Jalal Uda, 26 Jahre alt, und verletzten drei andere palästinensische Zivilisten. Die jungen Männer fuhren ein Taxi auf einer Route, die einen Checkpoint umgehen sollte. Dazu muss man wissen, dass in den vergangenen Wochen die israelische Armee den palästinensischen Männern unter 32 das Verlassen von Nablus wiederholt verboten hatte. Da die Menschen aber irgendwie ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, versuchen Tausende von ihnen auf verdeckten Wegen aus der Stadt zu kommen. Die israelischen Soldaten verhängten die Todesstrafe: Sie handelten als Ankläger, Richter und Exekutor. Im Einklang mit den Regeln der Besatzung sind Soldaten, die Palästinenser töten, niemals Verbrecher und werden auch nicht als solche verdächtigt, angeklagt oder verurteilt. Und auch der Brigadegeneral, der die Altersgrenze der Männer bestimmt hat, unter der sie Nablus nicht verlassen dürfen, kann Kraft seiner Zugehörigkeit zur „Verteidigungsarmee“ nicht als Verbrecher betrachtet werden.

Tötet ein Palästinenser einen Israeli – Soldat oder Zivilist – dann werden sein Name, sein Foto und Details seines Vergehens veröffentlicht. Er wird automatisch dazu verurteilt, im Gefängnis zu leben und sein Premierminister oder der Führer seiner Organisation wird für die Tat verantwortlich gemacht und folglich selbst eine Ziel einer Verhaftung oder einer gezielten Tötung. Die Soldaten, welche palästinensische Zivilisten töten, fallen unter den weiten Schutzschirm der Besatzungsarmee. Ihre Namen werden öffentlich nicht bekannt gemacht und ihr Premierminister und ihre Kommandeure werden nicht zur Rechenschaft gezogen.

Die palästinensischen Gefangenen werden vor ein Militärgericht gebracht. Dieselbe militärische Einrichtung, das die Zivilbevölkerung besetzt und zerstört und unterdrückt, ist es auch, die festlegt, dass Widerstand gegen die Besatzung – und zwar auch durch öffentliche Demonstrationen oder durch das Zeigen einer Fahne, nicht nur durch Töten und Waffentragen – ein Verbrechen ist. Sie ist Ankläger und Richter in einem. Ihre Richter sind den Interessen der Besatzungsmacht und der Siedler ergeben.

Angeblich wird jeder Palästinenser, der ein Verbrechen begeht, als Privatperson angeklagt, verurteilt und inhaftiert. Bei genauem Hinsehen aber stellt sich heraus, dass der palästinensische Sicherheitshäftling nicht als Individuum bestraft wird, sondern als Vertreter einer Gruppe. Entgegen internationalem Recht wird die Mehrheit der palästinensischen Häftlinge nicht in den besetzten Gebieten gefangen gehalten, sondern in Israel. Entgegen einem weit verbreiteten Gerücht respektiert Israel auch nicht das Recht auf regelmäßige Besuche von Familienangehörigen.

Die Armee tut ihr Bestes, um die Besuchspläne umzuwerfen, indem sie verschiedene Sicherheits- und technische Entschuldigungen vorbringt. Nur Verwandte ersten Grades (Eltern, Geschwister und Kinder) dürfen die Gefangenen besuchen, aber Hunderten von ihnen wird selbst dieses Recht mehrere Jahre lang verweigert. Das Recht auf tägliches Telefonieren steht selbst den inhaftierten Schwerverbrechern zu, nicht aber den Sicherheitshäftlingen, auch denen nicht, die Bürger Israels sind. Auch der Weg der Strafminderung oder Begnadigung, der jedem Juden, besonders wenn er Siedler ist, offen steht, ist den Palästinensern fast völlig verschlossen.

Wundert es da, wenn die Palästinenser jede Aktion unterstützen – wie z.B. das Kidnappen von Soldaten – die versucht, die Regeln dieses Diskriminierungsspiels zu brechen? Die individuelle Geschichte jedes palästinensischen Gefangenen ist ein Ausdruck der Freiheit, die sich Israel selbst herausnimmt, indem es eine extreme Subkultur doppelter Standards einführt: Die Menschen werden streng nach ihrer Abstammung und Volkszugehörigkeit unterschieden.

Aus dem Englischen: Pst

* Die israelische Journalistin Amira Hass lebt in Ramallah (Westjordanland), wo sie als Korrespondentin für die Tageszeitung Ha'aretz tätig ist. Ihre letzten Bücher: "Morgen wird es noch schlimmer" (2005), "Intifada. Briefe aus Gaza und dem Westjordanland" (2006).


The Discrimination Game

The Occupier Defines Justice

By AMIRA HASS *

On Jerusalem's Jabotinsky Street, opposite the President's Residence, a medium-sized plaque is fixed on a locked gate, enclosing a broad building and a lovely garden: "This building was the location of the British Mandate Government's High Military Court, which held the trials of the Hebrew resistance fighters from the Haganah, Etzel and Lehi." The sign bears the emblems of the Jerusalem municipality and the three resistance organizations. It further notes: "The resistance fighters refused to acknowledge the authority of the court to judge them, and asked to be recognized as prisoners of war."

The speaker of the Palestinian Authority's parliament, who was arrested two weeks ago by the Israel Defense Forces, also refused to acknowledge the authority of the Military Court to judge him. Obviously the two latest detainees, whose arrest was deemed by Israel to be the appropriate solution to its shortcomings in releasing kidnapped soldier Gilad Shalit, will make the same declaration. Nasser A-Shaer, the Palestinian education minister and deputy prime minister, and Mahmoud Ramahi, chief whip of the Palestinian Legislative Council, were arrested on Saturday and Sunday. Incidentally, the Palestinians have lately ceased using the verb "arrested" in regards to the arrests of Palestinians by Israeli soldiers. Instead they use the verb "abducted."

These three detainees/abducted join about 10,000 other Palestinian prisoners and detainees. As with the prisoners of the Hebrew resistance, who saw themselves as POWs regardless of their actions (killing British soldiers or Arab civilians), some Palestinians request that their prisoners be declared POWs. Others prefer the definition of political prisoners. Let's let the definitions rest. In any case, from the offense to the jailing, Israel, as an occupying force, plays around with the definitions as it sees fit.

On Sunday, at 4:30 A.M., IDF soldiers shot and killed a worker, Jalal Uda, 26, and injured three other Palestinian civilians. This happened not far from the Hawara checkpoint, south of Nablus. Palestinian newspapers referred to it as the "crime scene." The young men rode a taxi in a road bypassing the checkpoints. For the last several weeks the army has again forbidden young men under age 32 from leaving Nablus. But people have to make a living, and thousands are looking for hidden routes. An offense punishable by death, so it seems. The soldiers acted as prosecutor, judge and executioner. According to the rules of occupation, when soldiers kill Palestinian civilians, they and those who sent them are never criminals, suspects, accused or convicts. The brigadier general who limits the age of those who exit the Nablus compound, by virtue of his belonging to the "Defense Army" can also not be considered a criminal, suspect or convict.

When a Palestinian kills an Israeli--soldier or civilian--his name, picture and details of his indictment will be published. He will automatically be condemned to life in jail, and his prime minister or the leader of his organization will be considered responsible and hence a target for arrest or assassination. The soldiers who kill Palestinian civilians are sheltering under the wide apron of the occupation army. Their names will not be known in public, and their prime minister and commanders will not be deemed accountable.

The Palestinian detainees are led to a military court: The same military establishment that occupies and destroys and suppresses the civilian population is the one that determines that to resist occupation--even by popular demonstrations and waving flags, not only by killing and bearing arms--is a crime. It is the one to prosecute, and it is the one to judge. Its judges are loyal to the interest of defending the occupier and the settler.

Allegedly every Palestinian is tried, convicted and jailed as a private person who committed a criminal offense. But a sharp discrimination in the conditions of imprisonment proves that the Palestinian security prisoner is punished not as an individual, but as a representative of a group, as part of its overall suppression. Contrary to international law, the majority of Palestinian prisoners and detainees are not held in the occupied territory, but rather inside Israel. Contrary to popular myth, Israel does not respect the right to regular family visits.

The army does its best to disrupt the visitation schedule, using various security and technical excuses. Only relations of the first degree (parents, siblings and children) are allowed to visit the prisoners, but hundreds of them have not had the privilege of any visits for several years. The right to make daily use of a telephone is given to the most dangerous of criminal prisoners, and is denied from Palestinian security prisoners, among them citizens and residents of Israel. This is done via a weak and unconvincing excuse of a security establishment that has advanced and effective surveillance devices. The path of sentence reduction and clemency is open to the Jew (especially when he is a settler) and is almost hermetically shut to the Palestinian.

It is no wonder that the Palestinians support every action--such as kidnapping soldiers--that tries to break the rules of this discrimination game. Every Palestinian prisoner's personal history is an expression of the freedom Israel allows itself in the implanting of an extreme subculture of double standard, discriminating blood from blood, human being from human being, nation from nation.

August 23, 2006

* Amira Hass writes for Ha'aretz. She is the author of "Drinking the Sea at Gaza".

Source: Counterpunch: http://counterpunch.com



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