Die Kämpfe um Jerusalem gehen weiter
Informationen über den "Tempelberg" - Kommentare zu den Auseinandersetzungen
Die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen israelischen Soldaten und Palästinensern Ende September 2000 begannen auf dem Tembelberg. Was hat es mit diesem Ort auf sich? Warum wird er immer wieder zum Zankapfel zwischen den verfeindeten Bewohnern der Jerusalemer Altstadt?
Tempelberg
Der Tempelberg liegt in der Altstadt von Jerusalem. Auf arabisch heißt er "Haram al-Sherif" - zu deutsch: heilige Stätte. Heilig ist er Juden wie Muslimen. Salomon errichtete hier 957 v.d.Z. den ersten Tempel. Er wurde 586 vom Babylonierkönig Nebukadnezar zerstört, 516 repariert und von König Herodes kurz vor der Geburt Jesu wiederhergestellt. Im Jahre 70 n.d.Z. zerstörten ihn die Römer. Der Platz wurde eine Opferstätte für Jupiter. Übrig blieb eine Stützmauer des Tempels - die heutige "Klagemauer". Sie liegt am Fuße des Tempelberges, außerhalb des heiligen Bezirks. Eine neue Wende nahm die Geschichte des Tempelberges mit der Ausbreitung des Islam. Kalif Omar eroberte Jerusalem im Jahre 638. Kalif Abdel Malik errichtete 691-92 hier den Felsendom. Er ist um jenen Felsen herumgebaut, auf dem Abraham seinen Sohn Isaak opfern wollte und von dem aus Mohammed, der Prophet des Islam, auf einem Schimmel in den Himmel geritten sein soll. Kalif al-Walid erbaute kurz danach die Al-Aksa-Moschee. Dieser "Haram al-Sherif" mit seinen beiden Moscheen ist für Muslime nach Mekka und Medina der bedeutendste Ort ihres Glaubens. Für Juden ist er eine stete Erinnerung an ihr verlorenes Königreich.
(Quelle: SZ, 02.10.2000)
Ereignisse 1./2. Oktober
Die bewaffneten Auseinandersetzungen gehen auch am 2. Oktober unvermindert weiter. Die Zahl der Toten - überwiegend Palästinenser - stieg auf über 30, die Zahl der Verwundeten auf über 1.000. In der arabischen Welt wird offen von "Krieg" und "Massaker" an den Palästinensern gesprochen. Die Unruhen breiten sich in den besetzten Gebieten aus: Im Gazastreifen ebenso wie unter der arabischen Bevölkerung in Israel.
In der Neuen Zürcher Zeitung hieß es z.B.:
Der Gewaltausbruch fand ein überaus bitteres Echo in den
arabischen Zeitungen. «Neues israelisches Massaker im
Moscheebezirk von al-Kuds» betitelte etwa die
palästinensische Exilzeitung «Al-Kuds» ihren ersten Bericht.
Selbst in den Golfstaaten sprachen die Kommentatoren von
«zahllosen Märtyrern» und meinten, dass deren Blut zur
Befreiung von al-Kuds (Ostjerusalem) beitragen werde.
Kaum einer unterliess den Hinweis darauf, dass
ausgerechnet
Ariel Scharon die Lawine der Gewalt
losgetreten hatte; Araber sehen in ihm vor allem den
Feldherrn des vernichtenden Libanon-Feldzugs von 1982.
Wegen der Massaker in den Palästinenserlagern von Sabra
und Chatila ist er nachgerade eine Symbolfigur für einen mit
nackter Gewalt durchgesetzten Zionismus. Oft wurde in den
Kommentaren der Regierung Barak die volle Schuld für den
Gewaltausbruch zugeschoben, weil sie Scharons
provokante Eskapade überhaupt zugelassen hat. Die
meisten Kommentare stellen eine Verbindung zu den
festgefahrenen Jerusalem-Verhandlungen her. In der
blutigen Unterdrückung der Palästinenser sehen sie eine
Bekräftigung des israelischen Besitzanspruches auf die
Heilige Stadt. (NZZ, 02.10.00)
Am 2.10. melden die Agenturen u.a.:-
Erstmals seit dem Ausbruch der Gewalttätigkeiten ist ein israelischer Zivilist ums Leben gekommen. Nach einem Bericht des israelischen Rundfunks ist der getötete 25 Jahre
alte Jude in der Nähe des Dorfes Bidia in seinem Auto von
Kugeln getroffen worden. Es war zunächst unklar, wer auf den
Mann geschossen hatte.
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Nach einer von den Konfliktparteien vereinbarten Feuerpause
am Sonntagabend (01.10.00) setzten die blutigen Zusammenstöße am
Montag wieder ein. An mehreren Orten in den
palästinensischen Autonomiegebieten und im israelischen
Kernland kam es zu Gewaltakten.
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In der geteilten Stadt Hebron im Westjordanland kam es am
Morgen zu Zusammenstößen von israelischen Soldaten mit
Palästinensern. In der Nähe der arabischen Stadt Umm el
Fachem in Nord-Israel wurde ein jüdisches Kind verletzt, weil
israelische Araber ein Auto mit Steinen bewarfen. Bei Timna in
Nord-Israel blockierten arabische Demonstranten eine Straße.
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Die israelische Regierung traf sich am Montagmorgen zu einer
Dringlichkeitssitzung zu den jüngsten Unruhen.
Der israelische Ministerpräsident Ehud Barak machte die
palästinensische Autonomiebehörde für die jüngsten Unruhen
verantwortlich. Die Palästinenser müssten nun dafür sorgen,
dass die Unruhen sofort beendet würden.
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Die Europäische Union machte dagegen israelische Politiker für
die gewaltsamen Auseinandersetzungen verantwortlich. In
einer vom französischen Außenministerium herausgegebenen
Stellungnahme der EU hieß es, der Oppositionspolitiker Ariel
Scharon habe mit seinem Besuch auf dem Tempelberg in
Jerusalem die Palästinenser provoziert.
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Der rechtsgerichtete israelische Oppositionsführer Ariel
Scharon rechtfertigte inzwischen seinen Besuch auf dem
Tempelberg in der Altstadt Jerusalems, der am Donnerstag die
Unruhen ausgelöst hatte. „Ich brauche von niemandem eine
Erlaubnis, um in Jerusalem irgendwo hin zu gehen“, meinte er. Scharon ist ein erbitterter Gegner eines israelisch-palästinensischen
Friedensvertrages.
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Mittlerweile haben die USA ihre Vermittlung in dem Konflikt angeboten.
US-Präsident Bill Clinton schlug ein Treffen vor, dem Arafat und
Barak inzwischen zugestimmt haben sollen. US-Präsident Bill Clinton
vereinbarte nach Angaben seines Sprechers mit Israelis und
Palästinensern eine amerikanisch geführte Untersuchung der
Gewalt.
Zum Hintergrund
Wenig Land und kein bisschen Frieden
Die Formel von der Rückgabe besetzter Gebiete gegen Verzicht auf Gewalt hat bisher nicht funktioniert
Die Worte klingen heute prophetisch. Es war am 31. Oktober 1991, als Haidar Abdel Schafi, Verhandlungsführer der Palästinenser auf der Friedenskonferenz von Madrid, vor der Weltöffentlichkeit das Leid seiner Landsleute beklagte: "Was sagen wir den Familien jener, die durch Kugeln getötet wurden? Wie beantworten wir diese Frage unseren Kindern? Denn eines von drei Kindern wurde in den letzten Jahren unter (israelischer) Besatzung entweder getötet, verletzt oder ins Gefängnis geworfen."
Der damalige amerikanische Präsident George Bush, der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow, der israelische Ministerpräsident Jitzchak Schamir, US-Außenminister James Baker und der Niederländer Hans van den Broek für die Europäische Union gehörten zu den Politikern, die in Madrid zusammen gekommen waren, um eine Prophezeiung wahr zu machen, die während des Krieges um Kuwait allenthalben in der Region gemacht worden war: Nach der Vertreibung des Irakers Saddam Hussein aus Kuwait werde der Nahe Osten "nie mehr der selbe" sein. Eine "neue Weltordnung" (George Bush) werde Frieden bringen und das palästinensische Leiden, von dem Haidar Abdel Schafi gesprochen hatte, beenden.
Die Opfer, an die Shafi erinnerte, waren Opfer der Intifada, jenes mehrjährigen Aufstandes frustrierter palästinensischer Jugendlicher, der im Dezember 1987 in Gaza begonnen hatte. Jassir Arafat und seine "Palästinensische Befreiungsorganisation" (PLO) saßen damals noch in Tunis. Intifada, Golfkrieg, Friedensgespräche von Madrid - ein Aufstand, ein Krieg und eine Konferenz führten schließlich in Madrid zu einer historischen Übereinkunft: Die arabische Welt versprach Israel Frieden, sofern Israel die im Krieg von 1967 besetzten arabischen Gebiete zurückgibt.
Die neun Jahre, die seit der Erfindung der Formel "Land für Frieden" vergangen sind, haben den Palästinensern ein wenig Land, Israelis und Palästinensern aber keineswegs Frieden gebracht. Arafat ging geschwächt in die Verhandlungen. Er hatte im Golfkrieg auf der falschen Seite, auf der Seite Saddam Husseins, gestanden. Er musste nehmen, was Israelis und Amerikaner ihm boten. In Oslo ließ Arafat 1993 in geheimen Gesprächen mit den Israelis eine "Prinzipien-Erklärung über eine Interim-Selbstverwaltung der Palästinenser" aushandeln. Palästinenser sollten in begrenztem Maße ihr Land selber verwalten. Wie 1994 in Kairo vereinbart wurde, kamen zunächst der Gazastreifen und die Stadt Jericho unter Arafats zivile Kontrolle. Arafat und seine PLO siedelten Mitte 1994 von Tunis nach Gaza über. Ein Traum schien in Erfüllung zu gehen.
Doch seither hat Kritik an den Abkommen von Oslo und Kairo Arafat begleitet. Edward Said etwa, in Amerika lehrender prominenter palästinensischer Literaturwissenschaftler und politischer Kolumnist, ist noch immer der Meinung, in Oslo sei eine schlecht vorbereitete palästinensische Delegation den Israelis auf den Leim gegangen.
Auf die Verträge von Oslo und Kairo folgten weitere zermürbende Verhandlungsrunden - etwa die auf der "Wye River Farm" bei Washington. 1998 einigten sich der damalige israelische Premier Benjamin Netanjahu, Arafat und US-Präsident Bill Clinton unter Mithilfe des schon vom Krebs gezeichneten jordanischen Königs Hussein auf einen israelischen Truppenrückzug. Im September 1999 wurde - als Fortsetzung des Wye-Abkommens - im ägyptischen Sharm el-Scheich ein weiterer israelischer Rückzug vereinbart. Und schließlich sollte bis zum 13. September dieses Jahres der in Oslo begonnene Friedensprozess zu Ende geführt sein.
Doch im Juli scheiterte im amerikanischen Camp David eine Mammutkonferenz. Immerhin waren die Israelis dort erstmals bereit, über die Rückführung palästinensischer Flüchtlinge und über den Status von Jerusalem zu sprechen - ein kleiner Erfolg für den Frieden. Um diese Friedenshoffnung nicht zu gefährden, verschob Arafat die für den 13. September vorgesehene Ausrufung eines palästinensischen Staates.
In der vorigen Woche erwachte neuer Optimismus. Israels Premier Ehud Barak deutete an, die Palästinenser könnten ihre Hauptstadt im Osten Jerusalems, in "Al-Quds", errichten. Am selben Tag erschien Likud-Chef Ariel Scharon auf dem Tempelberg. Die "Blutspur des Friedens", wie sich ein Palästinenser sarkastisch ausdrückte, hat die Friedenspartner eingeholt. Es geschah, was Arafat durch die Verschiebung der Staatsgründung hatte verhindern wollen. Endgültig wissen seitdem alle Beteiligten, was dem Nahen Osten droht, wenn es nicht bald ein Friedensabkommen gibt.
Heiko Flottau
Aus: Süddeutsche Zeitung, 02.10.2000
Kommentar
Früchte des Zorns in Palästina
Es kam leider so, wie es zu erwarten war: Das Scheitern der
israelisch-palästinensischen Verhandlungen in Camp
David und die verschobene Proklamation des Staats
Palästina haben im Gazastreifen, im Westjordanland und in
Ostjerusalem die Spannung derart steigen lassen, dass ein
Funke zur Explosion führte. Ausgelöst hat ihn am
vergangenen Donnerstag der sattsam bekannte israelische
Scharfmacher Sharon mitseinem provozierenden Besuch
auf dem Gelände der Aksa-Moschee und des Felsendoms.
Für die Muslime, die den Ort als Haram ash-Sharif kennen,
handelt es sich nach Mekka und Medina um die
drittwichtigste religiöse Stätte. Die Juden bezeichnen den
Hügel als Tempelberg. Dessen westliche Flanke wird von
ihrem wichtigsten Heiligtum, der Klagemauer, abgestützt.
Sie soll ein Teil der Umfassungsmauer des von Herodes
erbauten und im Jahre 70 von den Römern zerstörten
Zweiten Tempels gewesen sein.
Seit der israelischen Eroberung von Jerusalems Altstadt im
Sechstagekrieg 1967 versuchten verschiedentlich jüdische
Fanatiker, den Tempelberg gewaltsam in ihren Besitz zu
nehmen. Vor vier Jahren führte die Öffnung eines
historischen Stollens, der unterdem Moscheenbezirk
durchführt, zu gewalttätigen Protesten mit mehreren
DutzendTodesopfern. In den israelisch-palästinensischen
Verhandlungen bildet die Frage der Kontrolle über den
Haram ash-Sharif / Tempelberg die schwierigste
Knacknuss. Zur Debatte steht längst nicht nur die
Oberfläche des umstrittenen Geländes, sondern die
Verfügungsgewalt über den Untergrund des heiligen
Hügels. Den Politikern liegt der meterhoch lagernde
historische Bauschutt darum so am Herzen, weil sie damit
zu beweisen hoffen, dass ihre Vorfahren als Erste diesen
unseligen Flecken Land ihr eigen nannten.
Als vor wenigen Tagen der israelische Ministerpräsident
Barak öffentlich bekannt gab, er könne sich Jerusalem als
gemeinsame Hauptstadt der Staaten Israel und Palästina
vorstellen, sah Sharon als Führer der Opposition seine Zeit
gekommen. Mit seiner Bemerkung hatte Barak den
jüdischen Alleinanspruch auf die Heilige Stadt relativiert und
damit ein in Israel geltendes Tabu verletzt. Der skrupellose
Machtpolitiker Sharon weiss nur zu genau, dass dies dem
politisch geschwächten Barak das Genick brechen könnte.
Um dem ein wenig nachzuhelfen, drängtesich ein mit viel
Getöse angekündigter Besuch des Haram ash-Sharif
geradezu auf. Die damit prompt ausgelösten
Ausschreitungen geben dem Likud-Führer Sharon die
Gelegenheit, jenen schlummernden Chauvinismus zu
wecken, mit dem sich in Israel auchnach sieben Jahren des
sogenannten Friedensprozesses noch Wahlen gewinnen
lassen. «Trau keinem Araber», lautet seine ebenso
einfache wie einprägsame Botschaft.
Dass ausgerechnet Sharon in Israel auch heute noch über
entscheidenden politischen Einfluss verfügt, weckt
verständlicherweise den Zorn der meisten Palästinenser. In
der an Gemeinheiten und Perversionen überreichen
Geschichte der israelisch-palästinensischen
Auseinandersetzung wurde mit allen Mitteln gekämpft. Die
meisten der heute aktiven Politiker hüben wie drüben haben
alles andere als eine reine Weste. Sharon allerdings
übertrifft in negativem Sinne alle. Als israelischer
Verteidigungsminister war er indirekt verantwortlich für die
1982 in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und
Chatila in Beirut verübten Massaker an palästinensischen
Frauen, Kindern und Alten. Dafür wurde er in Israel verurteilt.
Dassdieser Mann nicht nur ein politisches Comeback
feiern, sondern vielleicht auch die Friedensanstrengungen
zu sabotieren vermag, ist keineswegs ein Reifezeugnis der
israelischen Gesellschaft.
Nachdem sich nun der Zorn der Palästinenser in
Windeseile verbreitet und eine Orgie der Gewalt ausgelöst
hat, fragt sich, wie die Gemüter zu beruhigen sind. Als
Vorsitzender der Autonomieregierung hat Arafat weder die
Macht noch die Mittel, um Israels Forderung nach sofortiger
Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung nachzukommen.
Im bisherigen Verhandlungsprozess hat Arafat zu wenig
erreicht, um unter seinen Landsleuten die Hoffnung auf
einen gerechten Frieden aufrechtzuerhalten. Die alltägliche
Benachteiligung der Palästinenser ist immer noch
himmelschreiend. Juden und Araber leben im Heiligen
Land allzu nahe beisammen, als dass die einen sich auf
die Länge von den andern kujonieren lassen werden. Ruhe
und Frieden wird erst dann einkehren, wenn gleiches Recht
für alle gilt.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 02. Oktober 2000)
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