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"Nur Druck von außen reicht nicht"

Die Israelin Keren Assaf über Boykottaufrufe, Verteidigungsreflexe und Fehler der Linken *


Keren Assaf, geboren 1980 in Jerusalem, ist seit ihrer frühen Jugend Friedensaktivistin, Kriegsdienstverweigerin, Mitbegründerin und Organisatorin der palästinensisch-israelischen Jugendbewegung »Breaking Barriers«. Seit 2002 moderiert sie Seminare der deutschen Initiative »Ferien vom Krieg«, in denen sich junge Leute aus Israel und den besetzten Gebieten gemeinsam über die Lage im Nahen Osten austauschen und nach Verständigungs- und Lösungsmöglichkeiten suchen. Das folgende Interview erschien im "Neuen Deutschland" (ND).

ND: Die Unterstützer einer internationalen Boykottkampagne gegen Israel wollen damit Israel vor Augen führen, dass die Besatzung einen Preis habe. Die Kampagne ist 2005 gestartet – bewirkt sie diesen Lernprozess in Ihrem Land?

Keren Assaf: Ich denke, dass die Kampagne legitime Ansprüche vertritt, und die Versuche unserer Regierung, sie zu illegalisieren, sind lächerlich und gefährlich. Auch ohne Boykott zahlen die Israelis bereits einen hohen Preis für die Besatzung. Das Problem ist, dass sie das nicht realisieren und die Verbindung zwischen verschiedenen Unterdrückungen nicht sehen. Ich kann nicht beobachten, dass die Kampagne bis jetzt irgendetwas zum Guten innerhalb der israelischen Gesellschaft gewendet hätte. Die Menschen nehmen vielmehr eine Verteidigungshaltung ein und verschanzen sich in der Opferrolle. Sie werden durch die Medien mit Regierungspropaganda gefüttert, die sie überzeugt, dass wie immer »die ganze Welt gegen uns ist«.

Die Regierung und die Rechten versuchen einen Diskurs der Exklusion zu schaffen – gegen Palästinenser, die innerhalb der 48er Grenzen leben, Linke, Menschenrechtsorganisationen, Kriegsdienstverweigerer, jede Art von Widerstand gegen das Regime. Die Internationale Boykottkampagne, die auch von einem Teil der linken Israelis unterstützt wird, passt in gewisser Weise in diese öffentliche Atmosphäre. Denn eine der Hauptanschuldigungen gegen die Linke ist, dass sie vom Volk getrennt sei. Die Aufrufe zum Boykott werden als Beweis benutzt für ihren angeblichen Verrat an Land und Volk – gemeint ist das jüdische. Und leider muss ich sagen, dass wir als radikale Linke damit bis jetzt keinen produktiven Umgang gefunden haben.

Macht es denn einen Unterschied in der Debatte, ob sich ein Boykottaufruf generell gegen Israel richtet oder nur gegen die Siedlungen?

Sicherlich ist der Siedlungsboykott leichter vermittelbar. Als erster Schritt ist es daher wichtig, dazu überhaupt Stellung zu beziehen. Es ist eben nicht egal, woher die Produkte kommen. Hier liegt eine der zentralen Fragen für mich: Wie viel Wert sollte man auf die öffentliche Meinung in Israel legen? Und die andere Frage ist: Was ist effektiv? Und das hat dann mit einer viel weitergefassten Frage als den Produkten zu tun.

Wie werden diese Fragen in der israelischen Linken diskutiert?

Die linke Bewegung ist zerrissen über diese Frage. Ein Teil der radikalen Linken unterstützt die Boykottkampagne. Er ist sehr klein. Verbreiteter ist es, Produkte aus den Siedlungen zu vermeiden. Aber die weniger radikale Linke tut sich insgesamt schwer damit.

Um die Situation zu verstehen muss man sehen, dass es einen Friedensprozess seit Langem nicht mehr gibt. Die Linke insgesamt in Israel ist im letzten Jahrzehnt stark geschrumpft. Die radikale Linke ist mehr und mehr isoliert. Zum Teil ist das auch hausgemacht: Die radikale Linke hat die israelische Gesellschaft aufgegeben. Ausdruck dieser Hoffnungslosigkeit ist, dass sie nun alle Hoffnungen auf außerhalb des Landes richten.

Was ist daran falsch?

Weil der Blick ins Ausland uns noch einmal weiter isoliert innerhalb einer Gesellschaft, die mehr und mehr rassistisch und gewalttätig wird. Derzeit gibt es einen Kampf um die internationale öffentliche Meinung, der über die Medien ausgetragen wird. Es ist wichtig, das zu nutzen, um Informationen zu streuen, die die israelische Armee und Regierung zu vertuschen versuchen. Aber es ist auch gefährlich, wenn man die Auseinandersetzung nur noch auf dieser Ebene führt. Die lokalen, unabhängigen, gemeinsamen Kämpfe in den Dörfern von Palästina gegen die Mauer zum Beispiel sind meiner Meinung nach vielfach »realer« als der Krieg der Bilder, der auf der internationalen Ebene vor sich geht. Menschen in der Westbank und in Gaza leiden und werden getötet. Das ist kein Bild, aber Wirklichkeit.

Warum macht der Friedensprozess keine Fortschritte?

Weil die israelische Regierung kein wirkliches Interesse daran hat, den Friedensprozess voranzutreiben, und die USA nichts tun, um ihn voranzutreiben. Es gibt keinen inneren Druck in Israel, um diese Situation zu verändern, weil Rassismus und Hoffnungslosigkeit wachsen. Und es sind viele verschiedene Interessen ökonomisch involviert im Besatzungssystem.

Worauf sollte sich Ihrer Meinung nach die israelische Friedensbewegung konzentrieren?

Wir müssen die Palästinenser in ihrem Kampf um Freiheit und für einen eigenen Staat konkret unterstützen. Dabei kommt es darauf an, eine wirkliche Partnerschaft einzugehen, statt einer, die auf den alten Machtverhältnissen beruht.

Eine andere Herausforderung ist es, Verantwortung für unsere eigene Gesellschaft zu übernehmen. Das heißt, Rassismus zu bekämpfen und Widerstand zu leisten gegen die Maßnahmen unserer ultrarechten Regierung. Wir müssen wieder dahin zurückfinden, mit der israelischen Öffentlichkeit zu kommunizieren, und aufhören, sie aufzugeben.

Sie haben in den letzten Wochen auch die Diskussionen in der deutschen Linken zum Nahostkonflikt mitverfolgt. Ist es für Sie kein Problem, wenn Deutsche zum Boykott gegen Israel aufrufen?

Wie jede politische Handlung ist das abhängig vom Kontext. Ein Boykottaufruf kann von vielen verschiedenen Gruppen für verschiedene Zwecke benutzt werden. Für mich ist daher entscheidend, wer aufruft. Ist es eine Neonazigruppe, würde ich sie natürlich nicht unterstützen, bloß weil sie auch gegen die Besatzung Palästinas ist.

Es muss möglich sein, Israel zu kritisieren, ohne gleich des Antisemitismus verdächtigt zu werden. Auch in Deutschland. Dennoch wäre es sicher gut, wenn andere Möglichkeiten eröffnet würden, damit man von der simplen Gegenüberstellung wegkommt: boykottieren oder das Bedürfnis der Juden nach einem eigenen Staat unterstützen.

Ich bin mir nicht sicher, ob Deutschland eine Hauptrolle in der BDS-Kampagne spielen sollte. Aber mit Sicherheit sollte es sofort aufhören, in die Besatzung Palästinas zu investieren. Viele Länder sind verstrickt in schmutzige Geschäfte in Israel im Zusammenhang mit den besetzten Gebieten. Jedes Land sollte daher erst mal auf sich selbst schauen und diese Geschäfte stoppen.

Was erwarten Sie von der internationalen Friedensbewegung? Wie kann der Friedensprozess von außen unterstützt werden?

Im Endeffekt müssen die Menschen in Israel-Palästina selbst herausfinden, wie sie zusammenleben können. Und die internationale Gemeinschaft sollte ihnen dabei helfen. Ich erwarte, dass sie die Menschenrechtsbewegung in Israel unterstützt und den gemeinsamen Kampf auf beiden Seiten gegen Rassismus und Besatzung. In dem Kampf ist derzeit eine Menge westlicher Rassismus und Orientalismus beteiligt. Das muss man sich bewusst machen. Es ist wichtig, mit Menschen aus der Region zu sprechen, um die Bedürfnisse und Auseinandersetzungen zu verstehen. Und schließlich muss man die USA dazu zu bringen, Israels Regierung zu zwingen, den Palästinensischen Staat anzuerkennen und sich sofort auf die 67er Grenzen zurückzuziehen. Diese Arbeit muss wohl vor allem in den USA selbst passieren.

Fragen: Ines Wallrodt

* Aus: Neues Deutschland, 29. Juni 2011


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