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Israel-Palästina: Der Frieden muss von unten wachsen

Eine bemerkenswerte Friedensinitiative in Israel

Ein großes Defizit des Oslo-Prozesses muss wohl darin gesehen werden, dass nie ernsthaft der Versuch gemacht wurde, die verfeindeten Parteien miteinander zu versöhnen. Gewisse, dem stehen auch jede Menge Hindernisse entgegen, worunter die unentschiedene Flüchtlingsfrage genauso gehört wie die provokative Existenz der jüdischen Siedlungen in Palästina oder wie die vielfältigen Diskriminierungen, denen die arabische Bevölkerungsminderheit in Israel ausgesetzt ist. Umso bemerkenswerter sind Versuche von Menschen, die im Nahostkonflikt selbst enge Angehörige verloren haben, diese Versöhnungsarbeit in die eigenen Hände zu nehmen - Friedensarbeit "von unten" eben! Die Neue Zürcher Zeitung berichtete von so einer Initiative.

Ein Protestzelt zur jüdisch-palästinensischen Versöhnung in Tel Aviv
Die Elterninitiative des Friedensaktivisten Frankenthal

Auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv, wo 1995 der damalige israelische Ministerpräsident ermordet worden ist, wird mit einer Mahnwache an jeden Toten erinnert, den die neue Intifada auf palästinensischer und jüdischer Seite gefordert hat. Der Initiant Yitzchak Frankenthal, der selber einen Sohn verloren hat, plädiert für einen grosszügigen Friedensvertrag und praktiziert den Dialog auch mit radikalen Palästinensern.
Von Naomi Bubis*

Mit drei Kugeln im Kopf wurde Arik Frankenthal am 7. Juli 1994 auf der Hinterbank eines Kleintransporters gefunden. Der 19-jährige Soldat wollte von seiner Militärbasis für ein paar Tage nach Hause, per Anhalter. Der Trip wurde zur tödlichen Falle. Arik stieg in einen Hinterhalt, in dem Auto sassen vier als Juden verkleidete Terroristen der islamischen Hamas, die den Soldaten kaltblütig erschossen.

Ein religiöser Friedensaktivist

«Ich habe mit dem Tod von Arik nicht nur meinen Sohn, sondern auch meinen besten Freundverloren», meint der 49-jährige Yitzchak Frankenthal. Doch anstatt Rache zu fordern, schrieb der fünffache Familienvater einen Brief an den damals amtierenden Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin und bat diesen, sich für einen israelisch- palästinensischen Friedensschluss einzusetzen, um andere Eltern davor zu bewahren, ihre Kinder in Terrorakten zu verlieren.

Seit nunmehr sechs Jahren setzt sich der religiöse Zionist Frankenthal unermüdlich für den Frieden ein. Um sein Ziel voranzutreiben, hat er den einflussreichen «Elternzirkel» gegründet. Der Organisation gehören mittlerweile 150 jüdische und 120 arabische Eltern an, deren Kinder im palästinensisch-israelischen Konflikt getötet wurden und die dennoch den Friedensprozess unterstützen. Ob säkular oder religiös, ob Jude oder Araber, die Eltern verbindet der Wunsch nach Aussöhnung. Von Barak und Arafat empfangen

Seit den Camp-David-Verhandlungen hat im vergangenen Sommer der «Elternzirkel» auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv ein Protestzelt aufgestellt, als «Aufschrei», um die Öffentlichkeit wachzurütteln und für den Frieden zu mobilisieren. Jeden Tag tritt ein anderer Aktivist in den Hungerstreik, erst wenn ein Abkommen unterzeichnet wird, soll das Zelt wieder abgebaut werden. Zur Aktion gehören auch Hunderte weisser, kindergrosser Pappfiguren, die die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich ziehen. Vor jeder der Figuren, die die jüdischen und arabischen Toten der «Al- Aksa-Intifada» symbolisieren, brennt eine Gedenkkerze; auf einem Plakat am Zelteingang wird täglich die Zahl der Toten aktualisiert, derzeit sind es 367.

Die Mütter und Väter des «Elternzirkels», die von morgens bis spätabends mit Besuchern diskutieren, tragen Schilder am Revers, auf denen der Todestag ihrer in Terrorakten ermordeten Kinder steht. Ihre Stimme hat moralisches Gewicht, jüngst wurde eine Delegation von Palästinenserpräsident Arafat in Gaza und von Premierminister Barak in Jerusalem empfangen. Eine Stunde lang sprachen sie mit Arafat, der viel Empathie zeigte, wie Frankenthal erzählt.

Abkommen in Kürze erwartet

Auf die Frage, ob palästinensische Eltern in Gaza auch ein Zelt errichtet hätten, schüttelt Frankenthal den Kopf. Das sei unmöglich, solange Palästinenser, die mit Israeli zusammenarbeiten, weiterhin als Verräter angesehen werden. Trotz anhaltendem Terror und Gegenterror, Bombenanschlägen und nächtlichen Schiessereien gibt sich Frankenthal zuversichtlich. «Ich vermute, dass zwischen dem 15. und 17. Januar ein Friedensabkommen unterschrieben wird», meint er selbstsicher, er könne sich auf zuverlässige politische Quellen berufen, die er nicht zitieren darf. Schliesslich brauche Barak den Friedensvertrag, über dessen Annahme er das Volk in einem Referendum entscheiden lassen will, für sein politisches Überleben. «Haben wir denn eine Alternative?», fragt Frankenthal und streicht sich über sein ergrautes Haar. «Wir werden uns nie lieben, aber zur Aussöhnung wird es kommen.»

Wie begründet er seinen Optimismus? Welche Lösungen sieht er für die umstrittene Flüchtlings- und Jerusalemfrage? Im Friedensvertrag sollte 100 000 palästinensischen Flüchtlingen aus humanitären Gründen die Option erteilt werden, sich im israelischen Kernland anzusiedeln. Die Teilung Jerusalems sei unvermeidbar, wobei die jüdischen Stadtviertel unter israelischer Kontrolle bleiben und der arabische Ostteil und der Tempelberg unter palästinensische Souveränität gelangen. «Ich verstehe den Frust der Palästinenser», meint Frankenthal, «nach sieben Jahren Oslo leben sie immer noch in Armut und Demütigung. Arafat ist derzeit nicht mehr als Bürgermeister von Jericho und Gaza. Und solange es Siedlungen im Herzen von Gaza und Cisjordanien gibt, wird es keinen wahren Frieden geben.»

Offener Brief an Siedler

Nach dem Bombenanschlag im letzten Monat auf einen Schulbus von Netzarim, einer jüdischen Siedlung im Gazastreifen, rief Frankenthal die Bewohner in einem offenen Brief dazu auf, ihre Sachen zu packen und nach Israel zurückzukehren. Sie seien Schuld am Tod ihrer Kinder, die von Militärkonvois eskortiert zur Schule fahren müssten. Sein Appell, den das Massenblatt «Jediot Acharonot» abdruckte, löste heftige Kritik und Morddrohungen aus. Frankenthal, der selbst die gestrickte Kippa - Erkennungszeichen der nationalreligiösen Juden - trägt, meint, die Siedler seien zwar wunderbare Menschen, hätten aber eine falsche Ideologie und eine beschränkte Sichtweise.

Frankenthal kennt keine Berührungsängste, trifft sich mit Anführern der militanten islamischen Hamas und des islamischen Jihad. Er willmit seinen Aktionen einen Wertewandel, ein gesellschaftliches Umdenken herbeiführen. Gerade jetzt, wo Israel an der «wichtigsten Kreuzung seit Staatsgründung» steht und schmerzhafte historische Entscheidungen anstehen. Die territoriale Einheit Israels dürfe nie über der Wahrung von Menschenleben stehen, erklärt er: «Erst wenn wir begreifen, dass es nur einen Gott in der Welt gibt, wenn wir verstehen, dass keine religiöse Ideologie es wert ist, für sie zu sterben, erreichen wir einen wahren Frieden. Nicht nur zwischen Politikern, sondern auch zwischen den Völkern.»

* Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Tel Aviv.

Aus: Neue Zürcher Zeitung, 6. Januar 2001

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