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"Die Existenz der Checkpoints ist das Hauptproblem"

Ohne Augenhöhe kein Friedensprozeß: Israelische Soldatenorganisation will über Besatzungsrealität informieren. Ein Gespräch mit Dana Golan *


Dana Golan ist Direktorin der israelischen Soldatenorganisation »Breaking the ­Silence« (Das Schweigen brechen) und war als Wehrpflichtige in den palästinensischen Gebieten.


Ihre Organisation »Breaking the Silence« hat sich zur Aufgabe gemacht, der israelischen Gesellschaft und der Außenwelt zu berichten, wie Besatzung aussieht. Ist das in Israel tatsächlich nicht bekannt?

Die Mehrheit der Israelis weiß nicht, was Besatzung wirklich bedeutet. Einer der Gründe dafür ist, daß die meisten Soldaten nicht in den okkupierten Gebieten eingesetzt werden, sie kennen die Verhältnisse also nicht aus eigener Erfahrung. Zweitens gibt es die israelische Darstellungsweise, daß alles, was in den besetzten Gebieten geschieht, mit Sicherheit zu tun hat. Deshalb wird nicht in Frage gestellt, ob es überhaupt legitim ist, andere Menschen derart zu kontrollieren. Die Israelis wissen nicht genug über die Situation.

Sie sind selber Soldatin gewesen, wahrscheinlich haben Ihre Erfahrungen in der Armee dazu geführt, daß Sie sich heute gegen die Besatzung engagieren?

Natürlich. Wenn ich nicht sieben Monate lang in Hebron eingesetzt gewesen wäre und die Verhältnisse dort miterlebt hätte, wäre ich nicht in der Lage gewesen, in die Augen der Palästinenser zu sehen, als die Armee ihre Häuser durchsuchte. Ich würde nicht so denken, wie ich es heute tue. Die meisten Israelis erleben so etwas nicht direkt mit. Deshalb ist es leichter für sie, alles mit Sicherheitsgründen zu rechtfertigen und sich keine moralischen Fragen zu stellen.

An was für Erfahrungen denken Sie im einzelnen?

Ich war eine Weile in einer Erziehungseinheit eingesetzt, das bedeutet, daß ich über Menschenrechte und ethische Ideen zu sprechen hatte, aber die Realität läßt das nicht zu. Man kann nicht mit Menschen, die Jahre ihres Lebens unter Checkpoints zu leiden haben, über Menschenrechte und Werte sprechen. Als ich später an Hausdurchsuchungen teilnahm, mußte ich daran denken, wie meine eigenen Eltern wohl reagieren würden, wenn mitten in der Nacht Soldaten ins Haus eindrängen, alles durchwühlen würden und Frauen zwängen, sich ganz auszuziehen, um ihre Körper nach Waffen zu untersuchen. Ich fragte mich, wenn meine Mutter so behandelt würde, was würde ich dazu sagen? Hinzu kommt nicht nur die physische Gewalt, sondern auch die der Sprache. Und die Macht, die man als israelischer Soldat in Hebron hat. Und das Bewußtsein, daß das eigene Leben mehr wert ist als das anderer Menschen. Als Israelis müssen wir uns fragen, ob wir damit leben wollen.

Würden Sie sagen, für einen durchschnittlichen Zeitungsleser ist es schwer, sich ein Bild von der Besatzung zu machen?

Der durchschnittliche Israeli, der seine Informationen nur von den großen Medien und nicht aus unterschiedlichen Quellen bezieht, weiß ganz sicher nicht genug. Ich selbst wußte auch nicht genug, als ich zur Armee eingezogen wurde. Ab und zu einmal hört man von Grausamkeiten, aber man erfährt nichts über die Alltagsaktivitäten. Als Menschen, die vor Ort waren, versuchen wir zu beschreiben, was es heißt, an einem Checkpoint zu stehen, was das für Palästinenser bedeutet, durch so viele Checkpoints zu müssen. Oder wie oft die Armee Hausdurchsuchungen vornimmt. Wir versuchen zu beleuchten, unter welchen Bedingungen die Palästinenser ständig zu leben haben. Aus den Mainstreammedien kann man das nicht erfahren.

Kritische Israelis sagen, was an den militärischen Kontrollpunkten im Westjordanland geschieht, überschreitet oft die Grenze zur Demütigung. Sehen Sie das auch so?

Ja, das ist eine Tatsache. Selbst, wenn der Soldat am Checkpoint die Palästinenser freundlich ansieht, ist die Tatsache, daß er dort ist und daß es den Kontrollpunkt gibt, für Palästinenser erniedrigend. Wir fragen Israelis immer wieder: Wollten wir unter solchen Umständen leben, wo wir auf dem Weg zum Arzt drei Kontrollpunkte passieren müssen? Die Existenz der Checkpoints ist das Hauptproblem. Unsere Organisation hat schon 800 Soldaten interviewt. Es geht nicht um spezielle Einheiten oder spezielle Kontrollpunkte, wir versuchen, die Systematik der Besatzung zu zeigen. Für die Palästinenser ist ein Leben unter diesen Bedingungen unerträglich, und wir können nicht über einen Friedensprozeß reden, wenn wir immer die Kontrolleure sind und die Palästinenser mit gesenktem Kopf herumlaufen.

Interview: Rolf-Henning Hintze

* Aus: junge Welt, 2. November 2011


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