"Wir sehen überall Nazis"
Was ist los mit Israel? Der ehemalige Spitzenpolitiker und Buchautor Avraham Burg glaubt, Israels Politik sei das Ergebnis eines nationalen Traumas
Von Yves Wegelin, Jerusalem *
An der Allenbybrücke, einige Tage nach der Erstürmung eines türkischen
Schiffes vor der Küste Gazas durch israelische Elitesoldaten: «Setzen!»,
schmiss mir ein Teenager in israelischer Soldatenuniform an den Kopf,
als sie den Stempel des Erzfeindes Syrien in meinem Pass entdeckte, und
zeigte in eine Ecke, in der ein paar Sessel standen. Dort liess sie mich
zwei Stunden schmoren, bevor ich die Erlaubnis erhielt, die Grenze von
Jordanien ins besetzte Westjordanland zu passieren.
Ein paar Stunden später, am Eingang der Knesset. Nein, ich trüge keine
Pistole, entgegnete ich dem Sicherheitsbeamten, durchquerte die
Sicherheitsschleuse und betrat das Parlamentsgebäude, wo der Assistent
eines rechten Parlamentariers auf mich wartete: Ein Skandal, wie die
Welt sich nach dieser Geschichte vor dem Gazastreifen gegen Israel
verbündet habe, ärgerte sich der junge Mann auf dem Weg in sein Büro -
Europa habe wohl vergessen, was man seiner Familie in Auschwitz angetan
habe.
Eine Stunde später stand ich wieder draussen. Auf der anderen
Strassenseite hatte sich ein Trupp junger Soldaten vor einem drei Meter
hohen Leuchter versammelt, einer Menora aus Bronze: An den Armen
eingraviert die biblischen Geschichten, mittendrin das Warschauer Ghetto
- und zuunterst: die Erschaffung des Staates Israel. Vor den Soldaten
zogen ein paar Dutzend junger skandierender Männer mit Israelfahnen
vorbei - aus Solidarität mit den Soldaten, die das Schiff vor Gaza
gestürmt hatten.
Ich winkte ein Taxi heran, auf dem Autodach wehte eine kleine
israelische Fahne. Müde liess ich mich in die Polster fallen und
beschloss, Avraham Burg anzurufen und ihn um ein Interview zu bitten.
Burg war ein hochrangiger Politiker der Arbeiterpartei, bevor er ein
Buch veröffentlichte, das in seinem Land für ein kleines politisches
Erdbeben sorgte. Seine These: Der Holocaust habe in der israelischen
Gesellschaft ein Trauma hinterlassen, das das Land dazu verleite, immer
höhere Mauern um sich zu bauen. Das Buch ist vor wenigen Monaten auch
auf Deutsch erschienen.
WOZ: Herr Burg, woran glauben Sie zu erkennen, dass die israelische
Gesellschaft unter einem Trauma leidet?
Avraham Burg: An allem. Sehen Sie sich die jüngste Geschichte um das
Schiff vor dem Gazastreifen an. In allen israelischen Reaktionen, die
ich höre, fällt das Wort Holocaust spätestens im zweiten Satz. Fragen
Sie mich nicht warum, aber - schwups! - und schon sind wir beim
Holocaust. Oder jedes Mal, wenn ein Israeli bei einem Terrorakt getötet
wird: Es geht dann nicht um ein Individuum, das Opfer einer Miliz wurde,
sondern um ein Opfer an der Spitze von sieben Kriegen, sechs Millionen
Holocaust-Toten und 2000 Jahren Exil. Oder hören Sie Premierminister
Benjamin Netanjahu zu, wenn er über den Iran spricht: 'Die Juden stehen
am selben Punkt wie 1938.' Wirklich?! Hatten wir damals einen Staat?
Eine der weltweit mächtigsten Armeen? Die uneingeschränkte Unterstützung
fast aller Supermächte? Nein. Und trotzdem glaubt er, die Situation sei
die gleiche wie 1938. Das ist ein Geisteszustand.
Sie sagen, Hitler beherrsche die israelische Gesellschaft bis heute.
Ja, das zeigt sich zum Beispiel an der letzten Gay Pride in Jerusalem -
ich liebe übrigens diesen Umzug, weil er alle Religionen zusammenbringt:
Die Rabbis, die Imame und die Priester vereinigen sich gegen die
Homosexualität ...
... so wie Sie auch glauben, die immer wiederkehrenden Kriege würden die
israelische Gesellschaft zusammenhalten?
Etwas zynisch gesprochen - ja.
Sie sprachen von der Gay Pride ...
... ja, Tausende von National-Religiösen gingen auf die Strasse und
beschimpften die Polizisten, die den Umzug beschützten, als Nazis. Wir
sehen überall Nazis. 1982, während des ersten Libanonkriegs, erklärte
der damalige Premierminister Menachem Begin: Wenn er den Bunker von
PLO-Chef Jassir Arafat in Beirut bombardiere, fühle er sich, als würde
er Hitlers Bunker in Berlin bombardieren. Bereits damals bemerkte der
israelische Schriftsteller Amos Oz: Jeden Tag erweckt man Hitler erneut
zum Leben, um ihn töten zu können.
Welche politischen Auswirkungen hat dieses Trauma?
Israel ist zur Insel geworden! Die Juden, die vor der Gründung Israels
hier in der Region lebten, waren Teil der islamischen Gesellschaft, und
jene in Europa gehörten der christlichen Welt an - dann liessen wir alle
unser Leben hinter uns, doch wir sind nicht in der neuen Welt
angekommen: Wir bauen rund um uns Mauern und Zäune, und wir versuchen
nicht ernsthaft, die Konflikte mit unseren Nachbarn zu lösen. Wir
vertrauen weder der alten noch der neuen Welt.
Wie erklären Sie sich dieses Trauma?
Der Holocaust ist ja keine Fiktion. Die Traumatisierung hat stattgefunden.
Ein Trauma kann man überwinden ...
Das Problem ist: Es gibt hier tatsächlich viele Gefahren - die Leute
lesen in der Zeitung von iranischen Atomplänen, von Raketen, die aus dem
Gazastreifen abgefeuert werden. Und diese Gefahren werden dann politisch
missbraucht - aber schauen Sie ihr eigenes Land an, in dem es der
Partei von Christoph Blocher gelungen ist, mit ein paar Minaretten und
zwei, drei Burkas das Land in Angst zu versetzen; und überlegen Sie sich
dann, wie einfach das bei uns sein muss. Aber ja, die Frage ist
tatsächlich: Wollen wir das Trauma überwinden, oder benutzen wir unsere
Geschichte als Ausrede, um unser Trauma nicht überwinden zu müssen,
damit wir uns der Welt nicht öffnen müssen? Israel steht vor der
Alternative: einer Strategie des Traumas oder einer Strategie des
Vertrauens.
Sie plädieren für mehr Vertrauen in die Welt?
Ja, das ist die Strategie, die ich meinem Volk vorschlage.
Und welche Lehren ziehen Sie aus dem Holocaust?
Mein Lehrer sagte einmal, es seien zwei Arten von Menschen aus Auschwitz
zurückgekehrt. Jene, die sagten: 'Nie wieder', und die damit meinten:
'Nie wieder den Juden' - und dazu brauche es die dicksten Mauern, die
mächtigste Luftwaffe und die tiefsten Bunker. Und jene, die 'Nie wieder'
sagten, und damit meinten: 'Nie wieder der Menschheit'. Für mich ist das
die universalistische Botschaft des Holocaust. Doch bis heute bewahren
wir uns das Monopol.
Ein Monopol?
Ja, ein Monopol über das Leiden. Wer auch immer in der Welt leidet: Sein
Leiden ist nie so gross wie unseres.
Was meinen Sie mit Universalismus?
Dass wir dieser Welt angehören und ihr gegenüber eine Verantwortung
wahrzunehmen haben. Philosophen wie Baruch Spinoza, Walter Benjamin -
sie alle haben dieser Welt etwas gegeben und im Gegenzug etwas
zurückbekommen. Das ist seit der Gründung Israels vorbei. Ich will
wieder Teil dieser Welt sein und, dass die Welt ein Teil von mir ist.
Sie schreiben, der Holocaust sei Israels neue Religion. Doch die
Siedlerbewegung, die Ihr Land dominiert und seit Jahrzehnten den
Friedensprozess torpediert, beruft sich nicht auf den Holocaust, sondern
auf das Judentum.
Einerseits sind die Siedler zwar von einer tief messianischen Theologie
getrieben. Doch andererseits: Nach der Eroberung des Westjordanlandes
1967 warnte der damalige israelische Diplomat Abba Eban davor, sich auf
die - Zitat! - 'Auschwitzgrenze' zurückzuziehen. Der Sechstagekrieg
wurde also auch als Ausbruch aus Auschwitz gedeutet. Und der Holocaust
beeinflusst die Siedlungspolitik noch auf eine andere Weise.
Wie denn?
Auch wenn wir Israelis es lieben, zu behaupten, die gesamte Welt sei
gegen uns: Wir können uns wegen des Holocaust Dinge leisten, die niemand
sonst kann: Warum toleriert die Welt seit über vierzig Jahren unsere
Kolonialpolitik?
Sie behaupten, die Siedlerbewegung halte Israel in Geiselhaft. Doch die
Siedler sind dort, weil Ihr Land das so will. Auch Ihre ehemalige
Partei, die Arbeiterpartei.
Sicher. Schimon Peres, Jitzhak Rabin: Sie haben die ersten Siedlungen
gegründet. Beide waren Mitglied der Arbeiterpartei - und beide sind
Nobelpreisträger!
Die Siedler tragen also nicht die alleinige Schuld.
Sie haben wohl eine Zeile in meinem Buch überlesen: Die Siedler halten
nicht nur das Land in Geiselhaft, die Israelis haben ein
Stockholmsyndrom entwickelt - sie haben sich mit den Siedlern
solidarisiert. Und jede Regierung hat irgendwann resigniert.
Resigniert? Die Siedlungen werden seit Jahrzehnten von jeder Regierung
aktiv gefördert.
Sie haben recht. Und das ist ein Verbrechen gegen den Frieden.
Sie waren in den Achtzigern Peres' Berater, später Knessetsprecher - und
das für eine Partei, die nicht nur seit jeher den Siedlungsbau
unterstützt, sondern in den letzten vier Jahren als Koalitionspartnerin
der Rechten zweimal in den Krieg zog - zuerst Libanon, dann der
Gazastreifen. Und auf einmal kritisieren Sie das alles?
Klären wir das auf: Ich war in den siebziger Jahren einer der Gründer
der Friedensbewegung Peace Now, habe die Protestbewegung gegen den
ersten Libanonkrieg lanciert, war Mitunterzeichner der Genfer Initiative
und habe den Osloer Friedensprozess mitinitiiert. Ich stand also
politisch schon immer da, wo ich jetzt stehe. Sicher, ich war in der
Arbeiterpartei, und wenn man in der Politik ist, macht man Kompromisse.
Die Kröten, die ich in den neunziger Jahren zu schlucken hatte, waren
für mich okay, solange der Friedensprozess voranging. Doch in den
letzten Jahren ist die Arbeiterpartei in eine Richtung abgedriftet, die
ich nicht mehr unterstützen kann. Also habe ich sie verlassen. Ich war
immer auf dem linken Flügel der Arbeiterpartei - war das links genug?
Ich weiss es nicht.
Vor drei Jahren noch haben Sie sich für die Kandidatur von Ehud Barak
zum Parteivorsitzenden der Arbeiterpartei ausgesprochen - ein gutes
Jahr später zog Barak dann als Verteidigungsminister in den Gazakrieg.
Ich habe Barak unterstützt, weil wir damals gerade aus dem Libanonkrieg
heimkamen und das grösste Problem des Landes darin bestand, dass die
Leute das Vertrauen in Israels Verteidigung verloren hatten. Barak war
damals die richtige Person, um dieses Vertrauen zurückzugewinnen. Bin
ich glücklich mit dem, was er daraufhin tat? Weit davon entfernt!
Sie sind ein guter Freund von Ex-Premierminister Ehud Olmert ...
... das ist auf rein persönlicher Ebene.
2006 liess Olmert Beirut bombardieren, 2009 dann den Gazastreifen - was
haben Sie ihrem Freund gesagt?
Dass es grauenhaft ist! Als er aus Libanon nach Hause kam und seine
Popularität am Boden lag, sagte er: 'Avrum, was soll ich machen?' Ich
sagte ihm: 'Ehud, nimm die bestehende Genfer Friedensinitiative und
mach sie zu deiner neuen Strategie.' Er sagte: 'Aber dann werden fünfzig
Prozent aller Israelis gegen mich sein.' Und ich antwortete: 'Das ist ja
perfekt, denn jetzt sind es hundert Prozent.' Ich sprach zu ihm - aber
als Freund. Ein Freund ist ein Freund. Und Fehler sind Fehler.
Beobachtet man die israelische Politik, hat man das Gefühl, dass es den
Politikern nicht wirklich ernst ist mit der Gründung eines
palästinensischen Staates.
Ich habe genau dasselbe Gefühl. Sie haben sich in den Prozess verliebt.
Sie wollen nicht ans Ziel.
Warum?
Ich wünschte, ich hätte eine Antwort.
Weil es sich in Israel auch ohne Frieden gemütlich leben lässt?
Ja, das Leben ist gemütlich. Und die Welt toleriert, dass wir über
Frieden reden und gleichzeitig seit über vierzig Jahren ein Land
besetzen. Wir mussten bis heute keinen Preis dafür bezahlen.
Avraham Burg
Avraham Burg wurde 1955 in Jerusalem geboren. Sein Vater Josef Burg,
Mitglied der Nationalreligiösen Partei und bis in die achtziger Jahre
Minister mehrerer Regierungen, floh 1939 aus Berlin nach Palästina.
Burg studiert Sozialwissenschaften, wird Fallschirmjäger in der Armee,
bevor er sich 1982 in der Bewegung gegen den Libanonkrieg zu engagieren
beginnt. 1985 wird Burg Berater des damaligen Premierministers (und
heutigen Präsidenten) Schimon Peres, 1988 kandidiert er als Mitglied der
Arbeiterpartei erfolgreich für die Knesset.
Zwischen 1995 und 1999 übernimmt Burg den Vorsitz der einflussreichen
Jewish Agency, die die Aufgabe hat, JüdInnen nach Israel zu holen, bevor
er 1999 als Parlamentarier Knessetsprecher wird. 2003 zieht sich Burg
aus der Politik zurück und verkündet seinen Parteiaustritt. Seither hat
er sich immer wieder kritisch zu Israels Politik geäussert. Burg ist
verheiratet, hat sechs Kinder und lebt in der Nähe von Jerusalem.
Zuletzt ist von ihm auf Deutsch erschienen: «Hitler besiegen. Warum
Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss» (2009). [Siehe die
Buchbesprechung.]
* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 1. Juli 2010
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