Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Normalität im Anormalen

Die Israelis – eine bunt gemischte Gesellschaft

Von Heinz-Dieter Winter *

Wie leben die Menschen in Israel? Wie halten sie es aus mit der nicht enden wollenden Gewalt? »Normale Menschen, die sich bemühen, in einer anormalen Zeit ein normales Leben zu führen«, stellt Donna Rosenthal vor, die als Journalistin in Israel für israelische und amerikansiche Medien tätig ist. Die Menschen müssen ihren »Alltag im Ausnahmezustand« verbringen, bemerkt Michael Borgstede, Cembalist und Organist, der seit 2003 aus Tel Aviv für große deutsche Tageszeitungen berichtet. Borgstede zeigt anhand persönlicher Schicksale, wie schwierig es ist, aus Menschen völlig unterschiedlicher ethnischer und kultureller Herkunft eine Nation zu formen – nicht als »Schmelztiegelgesellschaft«, sondern als eine »Mosaikgesellschaft«. Israel bleibe ein »Land, das von inneren Widersprüchen und Spannungen fast zerrissen zu werden droht«. Von »Grabenbrüchen zwischen Juden und Juden«, spricht Donna Rosenthal.

Säkulare Juden wenden sich gegen den zunehmenden Einfluss des orthodoxen Rabbinats, das den Alltag mit Gesetzen und Regeln schwierig gestaltet. Die etwa 600 000 Misrachim, aus den arabischen und nordafrikanischen Ländern eingewanderte orientalischen Juden, sehen sich gegenüber den aus Europa stammenden Aschke- nasim benachteiligt. Die aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Russland eingewanderten Juden – rund 1,25 Millionen Menschen – wählen in der Regel »rechts«. Besondere Anpassungsschwierigkeiten mit einem Durchschnittseinkommen knapp an der Armutsgrenze hat der aus Äthiopien gekommene »vergessene Stamm« der Juden, die »Beta Israel«. Inzwischen leben in Israel auch über 300 000 fast rechtlose Gastarbeiter, dort »Fremdarbeiter« genannt. Die arabischen Israelis stellen inzwischen etwa 18 Prozent der Bevölkerung des Landes; sie fühlen sich dem Staat (der ihnen nach wie vor nicht alle Bürgerrechte gewährt) verbunden und leben in einem schwer zu ertragenden Spannungsfeld: Israeli und Palästinenser zugleich zu sein.

Beide Autoren widmen besondere Aufmerksamkeit dem Militär. Wer als Jude nach Israel kam, müsse in der Armee zum Israeli werden, meinte einst Ben Gurion. Borgstede artikuliert, dass angesichts der Rolle als Beatzungsarmee und der vielen zivilen Opfer die »Reinheit der Waffen« leide. Ein Soldat sagte ihm, bei den »Dreckjobs« bleibe eben die Moral auf der Strecke. Donna Rosenthal berichtet, dass in Israel schon im Kindesalter die emotionale Bindung an die Streitkräfte beginne.

Während Borgstede sich seinem Gastland »verständnisvoll, aber nicht unkritisch nähert«, hinterfragt Donna Rosenthal kaum die Thesen der israelischen Propaganda und deren Wirkung auf Land und Leute. Dadurch schleichen sich auch inkorrekte Angaben in ihre Darstellung, was die arabische und palästinensische Seite anbetrifft.

Borgstede und Donna Rosenthal weisen eindringlich auf die Wunden hin, die Selbstmordattentate und Raketeneinschläge hinterlassen. Sie nennen aber auch Beispiele, wo Juden und Palästinenser in gemeinsamen Projekten vorleben, dass eine gemeinsame friedliche Zukunft möglich ist. Was die Ursachen für den Konflikt betrifft, so gewichten die beide Autoren unterschiedlich. Donna Rosenthal vermittelt den Eindruck, dass Extremisten vom Schlage der Hamas und des Djihad schuld an allem seien und es sich beim Nahostkonflikt vorwiegend um einen religiösen Krieg handele. Borgstede beweist ein tieferes Verständnis für historische Hintergründe. Der Krieg von 1967 endete für Israel mit einem »Sieg, der zum Fluch wurde«, schreibt er. Und am Beispiel einer jüdischen Familie schildert er die Mentalität der Siedler: Gastfreundliche und hilfsbereite Menschen, aber »ihr ideologisches Gedankengebäude gleicht einer Festung, sie sind immun gegen Selbstzweifel und Kritik«.

Letztlich vermitteln beide Autoren, vielleicht ungewollt, eine wichtige Erkenntnis: Wenn es möglich ist, dass in Israel Juden unterschiedlichster Herkunft mit ganz verschiedenen kulturellen und religiösen Traditionen, europäisch, arabisch oder afrikanisch geprägt, sowie arabische Israelis zueinander finden – sollte es dann nicht auch möglich sein, dass Israel und alle Palästinenser sowie die arabischen Staaten zu einem friedlichen Nebeneinander gelangen, in dem die Kultur und Religion des jeweils anderen respektiert und als Quelle gegenseitiger Bereicherung angesehen werden?

Michael Borgstede: Leben in Israel. Alltag im Ausnahmezustand. Herbig, München. 255 S., geb., 19,90 EUR.

Donna Rosenthal: Die Israelis. Leben in einem außergewöhnlichen Land. C.H.Beck, München. 411 S., geb., 24,90 EUR.


* Aus: Neues Deutschland, 30. Dezember 2008


Zurück zur Israel-Seite

Zurück zur Homepage