Normalität im Anormalen
Die Israelis – eine bunt gemischte Gesellschaft
Von Heinz-Dieter Winter *
Wie leben die Menschen in Israel? Wie halten sie es aus mit der nicht
enden wollenden Gewalt? »Normale Menschen, die sich bemühen, in einer
anormalen Zeit ein normales Leben zu führen«, stellt Donna Rosenthal
vor, die als Journalistin in Israel für israelische und amerikansiche
Medien tätig ist. Die Menschen müssen ihren »Alltag im Ausnahmezustand«
verbringen, bemerkt Michael Borgstede, Cembalist und Organist, der seit
2003 aus Tel Aviv für große deutsche Tageszeitungen berichtet. Borgstede
zeigt anhand persönlicher Schicksale, wie schwierig es ist, aus Menschen
völlig unterschiedlicher ethnischer und kultureller Herkunft eine Nation
zu formen – nicht als »Schmelztiegelgesellschaft«, sondern als eine
»Mosaikgesellschaft«. Israel bleibe ein »Land, das von inneren
Widersprüchen und Spannungen fast zerrissen zu werden droht«. Von
»Grabenbrüchen zwischen Juden und Juden«, spricht Donna Rosenthal.
Säkulare Juden wenden sich gegen den zunehmenden Einfluss des orthodoxen
Rabbinats, das den Alltag mit Gesetzen und Regeln schwierig gestaltet.
Die etwa 600 000 Misrachim, aus den arabischen und nordafrikanischen
Ländern eingewanderte orientalischen Juden, sehen sich gegenüber den aus
Europa stammenden Aschke- nasim benachteiligt. Die aus der ehemaligen
Sowjetunion und aus Russland eingewanderten Juden – rund 1,25 Millionen
Menschen – wählen in der Regel »rechts«. Besondere
Anpassungsschwierigkeiten mit einem Durchschnittseinkommen knapp an der
Armutsgrenze hat der aus Äthiopien gekommene »vergessene Stamm« der
Juden, die »Beta Israel«. Inzwischen leben in Israel auch über 300 000
fast rechtlose Gastarbeiter, dort »Fremdarbeiter« genannt. Die
arabischen Israelis stellen inzwischen etwa 18 Prozent der Bevölkerung
des Landes; sie fühlen sich dem Staat (der ihnen nach wie vor nicht alle
Bürgerrechte gewährt) verbunden und leben in einem schwer zu ertragenden
Spannungsfeld: Israeli und Palästinenser zugleich zu sein.
Beide Autoren widmen besondere Aufmerksamkeit dem Militär. Wer als Jude
nach Israel kam, müsse in der Armee zum Israeli werden, meinte einst Ben
Gurion. Borgstede artikuliert, dass angesichts der Rolle als
Beatzungsarmee und der vielen zivilen Opfer die »Reinheit der Waffen«
leide. Ein Soldat sagte ihm, bei den »Dreckjobs« bleibe eben die Moral
auf der Strecke. Donna Rosenthal berichtet, dass in Israel schon im
Kindesalter die emotionale Bindung an die Streitkräfte beginne.
Während Borgstede sich seinem Gastland »verständnisvoll, aber nicht
unkritisch nähert«, hinterfragt Donna Rosenthal kaum die Thesen der
israelischen Propaganda und deren Wirkung auf Land und Leute. Dadurch
schleichen sich auch inkorrekte Angaben in ihre Darstellung, was die
arabische und palästinensische Seite anbetrifft.
Borgstede und Donna Rosenthal weisen eindringlich auf die Wunden hin,
die Selbstmordattentate und Raketeneinschläge hinterlassen. Sie nennen
aber auch Beispiele, wo Juden und Palästinenser in gemeinsamen Projekten
vorleben, dass eine gemeinsame friedliche Zukunft möglich ist. Was die
Ursachen für den Konflikt betrifft, so gewichten die beide Autoren
unterschiedlich. Donna Rosenthal vermittelt den Eindruck, dass
Extremisten vom Schlage der Hamas und des Djihad schuld an allem seien
und es sich beim Nahostkonflikt vorwiegend um einen religiösen Krieg
handele. Borgstede beweist ein tieferes Verständnis für historische
Hintergründe. Der Krieg von 1967 endete für Israel mit einem »Sieg, der
zum Fluch wurde«, schreibt er. Und am Beispiel einer jüdischen Familie
schildert er die Mentalität der Siedler: Gastfreundliche und
hilfsbereite Menschen, aber »ihr ideologisches Gedankengebäude gleicht
einer Festung, sie sind immun gegen Selbstzweifel und Kritik«.
Letztlich vermitteln beide Autoren, vielleicht ungewollt, eine wichtige
Erkenntnis: Wenn es möglich ist, dass in Israel Juden
unterschiedlichster Herkunft mit ganz verschiedenen kulturellen und
religiösen Traditionen, europäisch, arabisch oder afrikanisch geprägt,
sowie arabische Israelis zueinander finden – sollte es dann nicht auch
möglich sein, dass Israel und alle Palästinenser sowie die arabischen
Staaten zu einem friedlichen Nebeneinander gelangen, in dem die Kultur
und Religion des jeweils anderen respektiert und als Quelle
gegenseitiger Bereicherung angesehen werden?
Michael Borgstede: Leben in Israel. Alltag im Ausnahmezustand. Herbig,
München. 255 S., geb., 19,90 EUR.
Donna Rosenthal: Die Israelis. Leben in einem außergewöhnlichen Land.
C.H.Beck, München. 411 S., geb., 24,90 EUR.
* Aus: Neues Deutschland, 30. Dezember 2008
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