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Streitfrage: Boykott israelischer Waren - legitim oder unerhört?

Es debattieren: Rolf Verleger und Micha Brumlik


Der Palästina-Konflikt – kaum ein Thema sorgt in der deutschen Linken für mehr Aufregung. Ein Boykott gegen israelischer Produkte ist besonders umstritten. Boykott-Befürworter wollen auf die Besatzung der palästinensischen Gebiete hinzuweisen. So auch die Kampagne Boykott, Desinvestment und Sanktionen (BDS). Für sie ist Israel ein Staat, der an das südafrikanische Apartheids-Regime erinnert. Dagegen führen die Gegner ins Feld, die Aufrufe erinnern an die Parole »Kauft nicht bei Juden!« der Nazis. Gerade für Deutsche müsse ein Boykott ein Tabu bleiben. In Israel selbst stehen Boykott-Aufrufe unter Strafe. Die Knesset hat diesen Monat ein entsprechendes Gesetz erlassen.

Kauft nicht bei Lieberman ...

Von Rolf Verleger *

... kauft bei Uri Avnery! Nicht bei Ehud Barak, aber bei Jitzchak Rabin. Nicht bei Golda Meir, aber bei Nahum Goldmann. Nicht bei Mosche Dayan, aber bei Martin Buber. Nicht bei Zipi Livni, aber bei Felicia Langer. Nicht bei David Ben-Gurion, aber bei Mosche Scharett. Nicht bei Wladimir Jabotinsky, aber bei Chaim Weizmann. Nicht bei Menachem Begin, aber bei Hannah Arendt. Nicht bei Benjamin Netanjahu, aber bei Daniel Barenboim. Allgemein gesagt: Unterstützt nicht den skrupellosen Nationalismus! Sondern unterstützt die Juden, die sich einsetzen für einen Ausgleich Israels mit seinen arabischen Nachbarstaaten und für die Emanzipation der Palästinenser von ihren israelischen Besatzern!

Wenn Deutsche sich so positionieren – und in der Tat ist dies laut Umfragen die Mehrheitsmeinung in der EU und auch in Deutschland –, dann rufen die jüdischen Nationalisten: »Das ist Antisemitismus! Man gönnt dem ›jüdischen Volk‹ nicht seinen Nationalstaat!«

Aber kann man den Spieß nicht auch umdrehen? Ist nicht Unterstützung der Nationalisten Ausdruck von Antisemitismus? Denn ist es etwa judenfreundlich, dass deutsche Politik von rechts bis links Israel mit seiner Vertreibung und Drangsalierung der Palästinenser gewähren lässt, obwohl dies den Zorn der ganzen Welt auf das Judentum lenkt? Ist es judenfreundlich, dass deutsche Politik somit 70 Jahre nach der Ausrottung des deutschen Judentums nun auch noch das geistige Erbe des deutsch-jüdischen Humanismus eines Moses Mendelsohn, eines Martin Buber, eines Leo Baeck für unwichtig erklärt?

In Wahrheit geht es aber nicht um Antisemitismus, sondern um Recht und Unrecht. Häufig hört man: »Wir als Deutsche können uns nicht einmischen, Sie verstehen schon ...« Aber tatsächlich haben sich Deutschland und Europa längst eingemischt! Das Zarenreich und das mörderische Nazi-Deutschland haben Europas jüdische Minderheit vertrieben, und ein Teil davon hat sich dann eben in Großbritanniens »Mandatsgebiet« Palästina, mitten in Arabien, angesiedelt. Und deswegen schlägt die Art und Weise, wie Israel die Bevölkerung Palästinas behandelt, auf Europa zurück: Zu Recht machen uns Araber und mit ihnen die Dritte Welt für die israelischen Ungerechtigkeiten mitverantwortlich.

Deutsche Politiker sagen dies auch – allerdings erst dann, sobald sie nicht mehr im Amt sind. Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker und 24 andere europäische Ex-Politiker haben am 2.12.2010 an die EU-Spitzen geschrieben und das klargemacht, wofür ich hier mit »Kauft nicht bei Lieberman!« plädiere (dem israelischen Außenminister, der in den besetzten Gebieten wohnt): Die EU solle »ein Ende machen mit dem Import von Siedlungsprodukten, die im Widerspruch zu EU-Richtlinien als israelisch vermarktet werden. Wir halten es für schlicht unerklärlich, dass solche Produkte immer noch Handelsprivilegien … genießen.« Denn »wie jeder andere Staat sollte Israel für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden.«

Wie jedes Mitglied der menschlichen Gemeinschaft, ob groß oder klein, braucht Israel Struktur, Sicherheit, Regeln und Grenzen. Die anerkannten Grenzen Israels sind von 1948. Außerhalb dieser Grenzen ist besetztes Gebiet. Das ist nicht Israel. Auf Waren von dort darf nicht »Israel« stehen. Um Israel zur Einhaltung dieser Regeln zu bringen, sollten daher Waren nicht gekauft werden, bei denen Zweifel über ihre Herkunft bestehen. Es ist an Israel, die Herkunft klar auszuzeichnen und damit einen solchen Boykott, der Recht, Gesetz und EU-Beschlüsse umsetzt, unnötig zu machen.

Wer dies zu rabiat findet, sei daran erinnert, dass die deutsche Regierung mit einer Gnadenlosigkeit sondergleichen seit fünf Jahren einen Boykott gegen die 2006 gewählte palästinensische Administration durchzieht. Man mag für »Kauft nicht bei Hamas« Gründe finden – obwohl Hamas nicht nur Täter, sondern vielmehr auch Opfer in diesem Konflikt ist –, für »Kauft nicht bei Lieberman« sind die Gründe besser: Was Israel den Palästinensern antut, tut es mit Billigung des Westens. Dies ist unser westliches Unrecht. Grund genug für uns Europäer, um klarzumachen: Dies soll sich ändern!

Langfristig: Bomben auf Gaza haben den Konflikt nicht beendet, und das werden auch nicht Bomben auf Teheran oder Tel-Aviv. Aber der Beginn eines möglichen Lösungswegs ist, dass Israel die Palästinenser um Verzeihung für Vertreibung und Enteignung von 1948 bittet. Auf diesen Weg sollte die Zivilgesellschaft unsere Politiker führen. Ein Boykott israelischer Waren aus den besetzten Gebieten ist dafür ein guter Anfang.

* Prof. Dr. Rolf Verleger, Jahrgang 1951, ist Psychologe. Er war Direktoriumsmitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland und Vorsitzender der Jüdischen Gemeinschaft Schleswig-Holstein. Wegen seiner Kritik an Israel verlor er beide Ämter.


Boykott im Rahmen der EU-Gesetzgebung

Von Micha Brumlik **

Die Frage, wie gravierend die israelische Besatzungspolitik im Westjordanland und die Blockade des Gazastreifens im Vergleich zu den Menschenrechtsverstößen anderer Regimes ist, wird strittig bleiben. Die chinesische Annexion Tibets, die Niederschlagung demokratischer Ansprüche in Iran, die systematische Diskriminierung von Frauen in Saudi Arabien sowie der Krieg des syrischen Regimes gegen das eigene Volk waren bisher kaum Anlässe, zu einem systematischen Boykott dieser Staaten aufzurufen – sieht man einmal von den Versuchen ab, Iran wegen des geplanten Baus einer Atombombe zu boykottieren.

Freilich liegt es auf der Hand, dass der israelisch-palästinensische Konflikt vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, dem von keineswegs nur nationalsozialistischen Deutschen vollzogenen Mord an sechs Millionen europäischer Juden eine besondere Bedeutung im Universum politischer Symbolik einnimmt. Der nationalsozialistische Boykott gegen jüdische Geschäfte führte nicht ungebrochen in die Gaskammern, wies aber doch in Richtung einer totalen, am Ende mörderischen Extermination.

Nicht zu bezweifeln ist, dass die Siedlungs- und Blockadepolitik israelischer Regierungen seit 1967 Völker- und Menschenrecht in massiver Weise verletzt: Gerade israelische Nichtregierungsorganisationen wie »Women in Black«, »Zchorot«, die Reste von »Peace Now« sowie einzelne Persönlichkeiten bezeugen das durch ihre demonstrativen Protestakte jeden Tag. Dabei richten sich ihre Aktionen in den letzten Jahren und Monaten verstärkt gegen das Besatzungsregime im Westjordanland, das nicht nur Völker-und Menschenrechte der Palästinenser verletzt, sondern auch den noch demokratischen Charakter des Staates Israel bedroht.

Politische Aktionen wie Boykottaufrufe stehen stets vor zwei Fragen: Ob sie zweckrational gesehen tatsächlich zielführend, bzw. ob sie moralisch gesehen legitim sind. Während die erste Frage getrost verneint werden darf, da sich keine israelische Regierung des Nichtkaufs israelischer Produkte durch einige Protestierer in Deutschland wegen aus dem Westjordanland zurückziehen wird, ist die moralische Frage schwieriger zu beantworten.

Seit den Boykottaktionen gegen das südafrikanische Apartheidregime hat sich im politischen Symboluniversum die Überzeugung herausgebildet, dass der Boykott die ultima ratio gegen ein Regime ist, das in jeder, aber wirklich auch in jeder Hinsicht illegitim ist. Wer also alle in Israel produzierte Waren boykottieren will, gibt damit zu verstehen, dass er oder sie den Staat Israel insgesamt für illegitim hält und damit letzten Endes darauf zielt, seine Existenz zu beenden. Dann aber stellt sich verschärft die oben angeschnittene Frage, warum unter den vielen Staaten der Erde, die an klaren Kriterien der Völker- und Menschenrechte gemessen unvergleichlich viel mehr auf dem Kerbholz haben als der Staat Israel, nicht ebenso in ihrer Existenz negiert werden.

Andererseits ist in der globalisierten Welt keinem politischen Aktivisten abzuverlangen, eine vergleichende Skala protestwürdiger Zustände zu erstellen und sich hierarchisch daran auszurichten. Die Wirklichkeit ist anders: Menschen gelangen sozialisationsbedingt auf verschlungenen Wegen zu ihren politischen Idealen, Identifikationen und Handlungsbereitschaften, wenngleich diese – wie im Fall des israelisch-palästinensischen Konflikts – auf falschen Voraussetzungen beruhen: Da die Palästinenser der historischen Sache nach keine späten, letzten Opfer des Holocaust sind, entfällt das Argument der spezifisch deutschen Pflicht zur Linderung ihres Leidens. Gleichwohl: Obwohl die Motive zum politischen Engagement stets zu prüfen sind, ist der Wille zum jeweiligen Engagement, sofern es sich für die Verwirklichung von Menschenrechten einsetzt, stets zu respektieren.

Als harter Kern sowohl des Konflikts als auch der Verletzung der Menschenrechte der Palästinenser erweist sich seit mehr als 40 Jahren die Besetzung des Westjordanlands durch Israel, die die Weltgemeinschaft nie anerkannt hat. Zwar schreibt der englische Text der entsprechenden UN-Resolution von einem Rückzug Israels aus besetzten Gebieten und signalisiert mit der Verwendung des unbestimmten Artikels, dass nicht auf dem punktgenauen Rückzug auf die Grenzen von 1967 bestanden wird, gleichwohl wird ebenso eindeutig festgestellt, dass Israels Besatzung illegal ist.

Dem entspricht ein neues Urteil des Europäischen Gerichtshofs sowie eine entsprechende Richtlinie. Die EU kennt ein System privilegierter Handelsbeziehungen mit Zollerleichterungen für Nicht-EU-Miglieder, worunter grundsätzlich auch Israel fällt. Ebenso deutlich aber gilt im Rahmen der EU, dass dieses Zollprivileg nicht FÜR Waren gilt, die von Israelis auf dem Boden des besetzten Westjordanlandes produziert werden. Ein entsprechendes Urteil wurde anlässlich eines Sirupimports aus dem Westjordanland gefällt. Im Februar 2010 urteilte der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, dass die deutsche Softdrink Firma Brita zur Herstellung ihrer Getränke Fruchtsirup, der in der Westbank Siedlung Mishor Adumim produziert wurde, nicht privilegiert einführen darf.

Eine sinnvolle Boykottstrategie kann sich genau daran ausrichten und sich damit punktgenau, spezifisch und unmissverständlich nur und ausschließlich gegen die Besetzung des Westjordanlandes richten. Indem sie ausschließlich im Westjordanland produzierte israelische Waren, sofern sie ohne Zollprivileg angeboten werden, boykottiert, protestiert sie genau gegen jenen Zustand, der eine allseits gewünschte Zweistaatenlösung unmöglich zu machen droht.

Mit einem solchen präzisen Boykott einer begrenzten Gruppe von Waren wird unterstrichen, dass es gar nicht um die Existenz des Staates Israel, sondern – im Gegenteil – um dessen gesicherte Existenz im Rahmen einer Zweistaatenlösung geht. Damit sind keinesfalls alle Probleme gelöst. Der Anhang zum »Kairos«-Papier des ökumenischen Rates will darüber hinaus auch jene israelischen Firmen boykottiert sehen, die – auch wenn sie nicht selbst im Westjordanland produzieren – mit derlei Firmen kooperieren. Diese Forderung jedoch würde angesichts der universellen Verflechtung ökonomischer Beziehungen nicht nur technisch unpraktikabel sein, sondern auch die gewünschte Spezifität dieser symbolischen Maßnahme schwächen und damit doch wieder auf den Wunsch nach einer Beendung israelischer Staatlichkeit hinauslaufen.

** Prof. Dr. Micha Brumlik, 1947 geboren, ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Beide Beiträge erschienen im Rahmen der "Debatte" in: Neues Deutschland, 23. Juli 2011


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