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Antagonistische Leidenschaften

Der israelisch-palästinensische Konflikt nach dem Mitchell-Report

Von Reiner Bernstein

Die Hoffnung haben sich schnell als Illusion erweisen, dass sich nach dem Sonderbericht von George J. Mitchell das Ende der Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern abzeichnet und den Weg für aussichtsreiche Verhandlungen freigemacht wird. Beide Parteien vor Ort folgen der eigenen Logik, so dass auswärtige Empfehlungen ständig Gefahr laufen zu scheitern. Die Jahre seit 1993 sind voller Beispiele für verfehlte Initiativen wie diese.

Mitchell und seine hochkarätig besetzte Kommission, zu der der EU-Repräsentant für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Javier Solana gehörte, stimmten darin überein, dass die "Al-Aqsa-Intifada" nach dem Besuch des damaligen Oppositionsführers Ariel Sharon auf dem Tempelberg von den tödlichen Schüssen der israelischen Polizei auf palästinensische Demonstranten ausgelöst wurde; keine Beweise fand sie hingegen für die These einer gezielten Planung der Autonomiebehörde nach dem gescheiterten Camp-David-Gipfel im Juli 2000. Zwar forderte die Kommission die Palästinenser dazu auf, für das Ende des Terrorismus zu sorgen, ließ sich aber den Hinweis auf seine Ursachen nicht nehmen: Ein schweres Hindernis sei die israelische Siedlungstätigkeit einschließlich des Beharrens, die bestehenden Niederlassungen gemäß unklar definierter "natürlicher Wachstumsbedürfnisse" auszubauen.

Dass eine solche Auflage für Israel unakzeptabel ist, hat Tradition. Auch Yitzhak Rabin sorgte für die Erweiterung der israelischen Infrastruktur in der Westbank und im Gazastreifen; palästinensische Experten bescheinigten ihm dabei eine "halsbrecherische Geschwindigkeit". Ganz auf dieser Linie hat das israelische Auswärtige Amt die Botschaften in aller Welt mit einer Argumentationshilfe versorgt, wonach auf die jahrhundertealte Existenz jüdischer Siedlungen in Samaria und Judäa hinzuweisen sei. Daraus ziehen die Experten von Shimon Peres die Schlussfolgerung, dass das Völkerrecht für die politische Zukunft der besetzten Gebiete irrelevant sei und der Territorialstreit auf dem direkten Verhandlungswege mit den Palästinensern geklärt werden müsse. Die umfassenden Souveränitätsansprüche Israels werden also noch einmal unterstrichen und finden in der Unebenbürtigkeit ihre Bestätigung, die die Vereinbarungen von Oslo nicht aufgehoben haben. An der Asymmetrie rütteln zu lassen, hat Sharon nicht vor.

Auf palästinensischer Seite rächt sich erneut, dass Arafat die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen hintertrieben oder gar verhindert hat. Statt dessen setzte er alles auf die Karte eines Staates Palästina. Deshalb ließ er im vergangenen Sommer die Gespräche in Camp David platzen, statt die Offerten Ehud Baraks als Ausgangspunkt für weitere Verhandlungen ernsthaft in Erwägung zu ziehen; die palästinensische Stimmung ist gespalten, ob er mit einem vorläufigen Ergebnis innenpolitisch tatsächlich gescheitert wäre. Dass er es statt dessen auf eine sinnlose Machtprobe anlegte, ließ seinen Rückhalt in der Bevölkerung weiter schrumpfen. Nach Arafats Abgang droht ein Chaos, das nach seinem plötzlichen Tod auch nicht Faisal Husseini mehr verhindern kann, dessen Prestige möglicherweise ausgereicht hätte, die Führungslücke auf mittlere Frist zu schließen. Deshalb wird in Israel darüber spekuliert, ob Sharon gezielt auf eine Situation zusteuern will, die Arafat erneut ins Exil drängt, um die Lücke mit einer ihm genehmen politischen Clique von Kollaborateuren zu füllen; es bedarf keiner prophetischen Gaben, dass solche Absichten scheitern würden. Von außen haben die Palästinenser keine Hilfe zu erwarten: Mubarak in Ägypten und Abdullah II. in Jordanien haben alle Hände voll zu tun, ihr Regiment vor populistischen Anfeindungen zu schützen.

Mit dem Ende des Bipolarismus sind die USA zur unumstrittenen Supermacht aufgestiegen. Aber ein Diktat der einzigen Supermacht im Nahen Osten verbietet sich, weil die zahlreichen regionalen Konflikte und politischen Herausforderungen von Washington ein hohes Maß an Aufmerksamkeit erfordern. Zudem dürfte der durchschlagende Misserfolg Bill Clintons zur Vorsicht mahnen. Gleichwohl ist dem Mitchell-Bericht ein positiver Aspekt abzugewinnen: Er thematisiert das strapazierte Ethos von den normativen Gemeinsamkeiten zwischen den USA und Israel. Und was Europa angeht: Seit dem Gipfeltreffen von Taba im vergangenen Herbst erhebt die Europäische Union den erneuten Anspruch auf politische Mitgestaltung. Aber ihre Kraft hat nicht einmal ausgereicht, im ehemaligen Jugoslawien für friedliche Verhältnisse zu sorgen. Auch die Ost-Erweiterung wird dem Krafteinsatz im Nahen Osten enge Grenzen ziehen. Die Sicherheitscharta für den Mittelmeerraum ist seit Jahren überfällig. Europa tut gut daran, zunächst für seine Glaubwürdigkeit zu sorgen, bevor es sich in das nahöstliche Dickicht antagonistischer Leidenschaften wagt.

* Der Autor arbeitet in der Melanchthon-Akademie Köln und hat vor kurzem das Buch "Der verborgene Frieden. Politik und Religion im Nahen Osten" (Berlin 2000) vorgelegt.

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