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"Wer rettet Israelis und Palästinenser vor sich selbst?"

Wenig Aussichten auf einen Frieden im Nahen Osten. Von Reiner Bernstein

Den nachfolgenden Text, der sich sehr kritisch mit dem Oslo-Prozess auseinandersetzt (der ursprüngliche Titel des Autors hieß: "Nie wieder Oslo"), hat uns Reiner Bernstein* zugeschickt. Seine Argumentation, vor allem auch seine große Skepsis hat eine hohe Plausibilität und wird durch die aktuellen Gewalttaten zwischen Israel und Palästinensern leider immer wieder aufs Neue bestätigt. Man kann vielleicht anderer Meinung sein, was die Einschätzung der israelischen Linken betrifft(z.B. Uri Avnery, siehe dessen 80 Thesen), dies ändert jedoch nichts an der realistischen Sichtweise des Autors.

Während westliche Regierungen und Medien unverdrossen das Ende der Konfrontation und die Wiederaufnahme der Verhandlungen im Nahen Osten fordern, haben sich Israelis und Palästinenser längst anders entschieden: Für sie geht es auf Biegen und Brechen um diejenigen Güter, die sie als die "essentials" ihrer Existenz bezeichnen: In Israel steht der Kampf für die Fortdauer des Status quo in den 1967 besetzten Gebieten im Mittelpunkt, während die Lage der Palästinenser verzweifelter denn vor der Prinzipienerklärung 1993 ist: Sie kämpfen ums nackte Überleben und um ein Mindestmaß an individueller und kollektiver Würde. Beide Seiten scheinen sich auf die Apokalypse vorzubereiten, aus der die Erlösung von allen Übeln erhebt. Wenn ein gemeinhin als liberal geltendes israelisches Magazin wie der "Jerusalem Report" seine jüngste Ausgabe unter den Titel "The Battle to Stop the Bombers" stellt, dann werden Ursache und Wirkung verwechselt.

Die Vereinbarungen von Oslo, ehedem hartnäckig als Friedensvertrag apostrophiert, haben seit langem Gestalt und Essen und Inhalt verloren; nicht die Umsetzung der Abmachungen erwies sich als fehlerhaft, sondern sie selbst trugen den Kern des Scheiterns in sich. Das Wort vom Frieden ist tausendfach missbraucht worden. Die große Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung scheint zum äußersten entschlossen. Sie glaubt, nichts mehr verlieren zu können. Ohne den Krieg militärisch gewinnen zu können, sollen die Israelis durch die Instrumente des Aufruhrs und des internationalen Drucks aus den Gebieten vertreiben.

Mögen Selbstmordattentäter im Westen Unverständnis und Abscheu hervorrufen - hier werden sie als legitime Akte einer Unbeugsamkeit begrüßt, die sich aus der Verzweiflung speist. Ließ früher davon ausgehen, dass ein erheblicher Teil der palästinensischen Bevölkerung zwischen Distanzierung und schweigender Zustimmung pendelte, so ist die Stimmung heute eindeutig: Der Aufstand wird von allen Teilen der Gesellschaft in aktiver Weise oder zumindest verbal unterstützt; die Bezeichnung der Toten als "Märtyrer" ist allgegenwärtig. Trauma-Warnungen von Sozialarbeitern und Soziologen über die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an der zweiten Intifada zielen ins Leere, weil diese sich längst aus der etablierten familialen Ordnungen verabschiedet haben und den Beweis ihres nationalen Heldentums auch um den Preis ihres Todes anzutreten bereit sind. Vereinzelte Aufrufe zur Gewaltlosigkeit und zum bürgerlichen Ungehorsam verwehen wie Blätter im Sturm.

In Israel hat es Ariel Sharon geschafft, alte persönliche und politische Gegnerschaften zu neutralisieren und einen breiten nationalen Konsens herbeizureden. Wir sind in Gefahr, haben aber keine Angst, lautet sein Credo. Der Gesprächskanal zu Syrien ist tot, weil ein Rückzug von den Golanhöhen rundheraus abgelehnt wird. Das letzte Angebot an die Palästinenser lautet: 42 Prozent der Westbank, "vielleicht ein bisschen mehr". Ganz auf dieser Linie bekennt sich Sharon zur Abkehr von der "jordanischen Option" der siebziger Jahre. Statt dessen sollen die Palästinenser einen unbefristeten Nichtangriffspakt unterschreiben und auf politische Souveränitätsansprüche verzichten. "Ich sehe keine Möglichkeit der Trennung von den Palästinensern", so der Premier.

In Jordanien selbst zeigt sich der palästinensische Bevölkerungsteil zunehmend unruhig, die politische Ordnung unter der Obhut des Königshauses ist nicht länger unumstritten: "Jordanien ist ein künstliches Gebilde", hört man nicht länger hinter vorgehaltener Hand. Ein breit gestreutes "Antinormalisierungskomitee" aus Intellektuellen, Schriftstellern und Gewerkschaftern, die den Friedensvertrag mit Israel ablehnen, soll mit Notverordnungen unter Kontrolle gehalten werden. König Hussein war ein Meister des taktischen Kalküls, das die widerstreitenden Kräfte austarieren konnte, seinem Sohn und Thronerben Abdullah II. muss in diese Statur noch hineinwachsen. Die arabische Gipfelkonferenz von Amman im März 2001 ging im Streit auseinander; Arafats Ablehnung der Barakschen Vorschläge in Camp David fand ein unterschiedliches Echo. Die Einlösung finanzieller Zusagen an die Palästinenser lässt auf sich warten, weil die Furcht umgeht, dass das Geld auch diesmal in den dunklen Kanälen Arafats versickert. Dagegen macht im Libanon eine Opposition verschiedener Gruppen gegen die fortdauernde syrische Besetzung des Landes von sich reden.

Viel wird darüber gerätselt, ob sich Sharon zum politischen Pragmatiker mausern werde. Seine Vita gebietet Vorsicht: Ablehnung des Friedensvertrages mit Ägypten 1979, Ablehnung der israelischen Teilnahme an der internationalen Friedenskonferenz in Madrid 1991, Ablehnung der Prinzipienerklärung 1993, Stimmenthaltung gegenüber dem Friedensvertrag mit Jordanien 1994, Ablehnung der Hebron-Vereinbarung 1997, Ablehnung des Rückzugs der israelischen Truppen aus dem Süden Libanons 2000. Sharons Ziele stehen fest: Sicherung der strategischen Überlegenheit Israels und Wiederbelebung zionistischer Werte, sprich Siedlungstätigkeit in allen Teilen der Westbank, des Gazastreifens und der Golanhöhen: "Die Zeit ist auf unserer Seite." Er kann sich glücklich schätzen, solange die Palästinenser zu Molotowcocktails, Granaten und Antipanzerwaffen greifen: Solange sie keine politischen Initiativen entwickeln, ist die Fortsetzung der strukturellen Asymmetrie Oslos gewährleistet: hier ein Staat im Vollbesitz seiner Kräfte, dort ein unkoordiniertes Aggressionspotential, das sich vor der Weltöffentlichkeit rechtfertigen muss.

"Nie wieder Oslo!" Beide Seiten wünschen keine Rückkehr an den Verhandlungstisch von gestern. Die Israelis würde er zur politischen und territorialen Kompromissfähigkeit zwingen. Außenminister Shimon Peres hat sein Szenario vom "neuen Nahen Osten" revidiert und bemüht sich um diplomatische Schadensbegrenzung im westlichen Ausland. Daheim pflegt er die weitgehende Übereinstimmung mit dem Premier, mit dem ihm eine persönliche Freundschaft verbindet. Verteidigungsminister Ben-Eliezer, ebenfalls von der Arbeitspartei, hat mit dem Generalstabschef Shaul Mofaz das Heft des militärischen Handelns fest im Griff.

Die zionistische Linke ist zerrissen und macht mehrheitlich Arafat für den Terror der vergangenen Monate verantwortlich, auch wenn es an Entwürfen aus ihren Reihen nicht fehlt. So nahm der Jerusalemer Politologe Shlomo Avneri die Bereitschaftserklärung Ehud Baraks wieder auf, sich einseitig aus Rückzug aus allen Teilen der besetzten Gebiete mit Ausnahme Jerusalems und des Jordantals zurückzuziehen, und der unermüdliche Polit-Aktivist Uri Avnery schaltet eine ganzseitige Zeitungsannonce unter der Überschrift "Wo haben wir uns geirrt"?, erschöpft sich jedoch in phantastischen Szenarien für eine Konfliktregelung. Aber beiden Empfehlungen fehlen die Mittel ihrer Durchsetzung: Wie sollen in Israel Mehrheiten gewonnen werden für einen unabhängigen palästinensischen Staat mit der Hauptstadt in Ost-Jerusalem, wie viele Israelis unterstützen das prinzipielle Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr, und wie realistisch ist die Schaffung einer Wirtschaftsunion nach westeuropäischem Vorbild? Die Bush-Administration in Washington sucht nach seiner Rolle in der gesamten Region, dass Außenminister Colin Powell früher Generalstabschef war, deutet allerdings darauf hin, dass sich die amerikanischen Optionen stärker an strategischen Interessen orientieren dürften. Europa streitet über Sanktionen, und Berlin weiß erneut nicht so recht, ob und was es sich trauen soll. Die Berufung auf das internationale Recht taugt wenig, es sei denn der Zionismus würde in seiner ideologisch-strategischen und politisch-praktischen Bandbreite, was die Einstellung gegenüber den Palästinensern angeht, der kritischen Gesamtwürdigung unterzogen. Im übrigen konkurriert es mit den starken Banden historischer Erinnerungen und metaphysischer Prämissen wie dem Jahrhunderte alten Gebetsaufruf "Nächstes Jahr in Jerusalem!". An ihnen ist der palästinensischen Kampf für nationale Unabhängigkeit gescheitert.

Der Staat Palästina ist in weitere Ferne gerückt. Neue politische Formate müssen gefunden werden. Für die Palästinenser heißen sie "Symmetrie". Doch Forderungen nach einer Zwei-Staaten-Lösung gleichen ebenso der Quadratur des Kreises wie die Umsetzung der von Edward Said wiederholt vorgetragenen Einsicht, dass das Land für eine Teilung zu klein sei. In Israel kann sich Sharon gegenwärtig der breiten Zustimmung wie kein Regierungschef vor ihm berufen. Angesichts der Unvereinbarkeit der Standpunkte werden beide Seiten also weiterhin ihre gewalttätigen Kräfte aneinander messen. Die sogenannten autonomen palästinensischen Städte werden abgeriegelt und im gegebenen Fall bombardiert, Mitglieder des Kabinetts fordern den freien jüdischen Zugang auf das Gelände des Felsendoms und der Al-Akza-Moschee. Je deutlicher Arafat an innenpolitischem Rückhalt verliert, desto unzweideutiger kann Sharon behaupten, er habe keinen Verhandlungspartner. Auf beiden Seiten wächst die Zahl derjenigen, die sich nach dem Scheitern der Politik in die Sphären der Religion flüchten. Wer rettet Israelis und Palästinenser vor sich selbst?

* Dr. Reiner Bernstein ist Historiker und arbeitet an der Kölner Melanchthon-Akademie. Zuletzt ist von ihm das Buch "Der verborgene Frieden. Politik und Religion im Nahen Osten" (Berlin 2000) erschienen.

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