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Gefährliche Solidarität

Warum Europäer und Amerikaner den Staat Israel von Grund auf gefährden

Von Judith Bernstein *

Alle Appelle an die amerikanischen und europäischen Regierungen, Israel zur Umkehr seiner Politik gegenüber den Palästinensern zu bewegen, sind folgenlos geblieben. Konsequenzen aus den zahlreichen Erklärungen und Resolutionen stehen aus – mit dem Ergebnis, dass Israel in den politischen und moralischen Abgrund zu stürzen droht. Es ist schwer nachvollziehbar, warum die USA und die Europäische Union nicht mit Nachdruck verlangen, dass Israel die Blockade des Gazastreifens aufgibt, unter der anderthalb Millionen Menschen leiden. Ferner wollen sie nicht die Kraft finden, für den Abbau von Checkpoints und der Trennungsmauern und -zäune sowie für den Stopp des Siedlungsbaus in der Westbank und in Ost-Jerusalem zu sorgen.

Solche Unterlassungen haben die Regierung in Jerusalem dazu ermutigt, einer Entwicklung Vorschub zu leisten, die die israelische Bevölkerung in ihrer Mehrheit sowie ihre Repräsentanten im Ausland und in Teilen der hiesigen jüdischen Gemeinden den Blick für die Realitäten einbüßen lässt. Stattdessen erfreut sich Israel zum eigenen Schaden der Narrenfreiheit. Auch wenn für das Weiße Haus die Zwischenwahlen am 2. November mit Verlusten für die Demokraten keinen Einfluss auf die amerikanische Nahostpolitik haben sollten, dürfte es für Barack Obama noch mühsamer werden, auf Israel politisch einzuwirken.

Und wie steht der Westen zu der Forderung Israels, den Staat als jüdisches Gemeinwesen anzuerkennen? Treibt diese Lesart (die von einigen Politikern hierzulande blind übernommen worden ist) noch mehr in die Isolation? Die Aufforderung, gegen erhebliche innenpolitische Widerstände, die vor dem Vorwurf des Rassismus nicht zurückschrecken, an die Adresse Machmud Abbas’ ist nichts weniger als ein weiterer Versuch, Verhandlungen über den Endstatus hinauszuzögern. Weder im Friedensvertrag mit Ägypten 1979 noch mit Jordanien 1994 wurde gegenüber Kairo und Amman ein solches Ansinnen formuliert. Es findet sich in keinem israelischen Gesetz und widerspricht der Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948:

„Der Name des Staates lautet Israel... Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben... Der Staat Israel ist bereit, seinen Beitrag bei gemeinsamen Bemühungen um den Fortschritt des gesamten Nahen Ostens zu leisten.“

Kein Politiker in Ramallah kann dem israelischen Verlangen nachkommen, zumal da es darauf hinauslaufen würde, zwanzig Prozent der Bevölkerung Israels – den Staatsbürgern arabischer Volkszugehörigkeit – das Bekenntnis abzuringen, mit stolzer Inbrunst die Nationalhymne anzustimmen, in der die Sehnsucht des jüdischen Volkes nach Rückkehr in die alte Heimat im Mittelpunkt steht. Die Behauptung Israels als einzige Demokratie im Nahen Osten trifft bislang nur auf die jüdische Bevölkerung zu. Dies hat das Oberste Gericht jüngst noch einmal dadurch bestätigt, dass es einer Baugesellschaft die Berechtigung einräumte, in Jaffa neue Wohneinheiten nur an Juden zu vergeben.

Der Vorstoß der Regierung belastet aber auch die israelische Zivilgesellschaft. Die rechtkonservative Organisation „Im Tirzu“ („Wenn Ihr wollt“ – die Übernahme des Appells Herzl, gegen die sich der Begründer des politischen Zionismus strikt verwahren würde. Herzl sprach nicht von einem theokratischen, sondern von einem säkularen Staat) bekämpft seit Monaten in- und ausländische Organisationen, die sich für sozialen Ausgleich und politische Gerechtigkeit einsetzen. Auch gegen Universitätsprofessoren, die sich zur Politik ihres Landes kritisch äußern, will der Erziehungsminister vorgehen, wenn er die Lehrprogramme verlangt. Die Attacken gegen Künstler, die sich weigern, in der Westbank und besonders in der dortigen Stadtsiedlung Ariel aufzutreten, vervollständigen die aktuelle Liste amtlicher Diskriminierungen. Israel muss sich entscheiden: Ein Staat, der nicht das Gemeinwesen aller seiner Bürger sein will, verspielt seinen demokratischen Anspruch.

Mithin stellt sich die Frage, worauf die besonderen Beziehungen der Bundesregierung zu Israel beruhen sollen. Der Rückgriff auf den Holocaust sollte nicht blind für die Gegenwart machen. Oder will die Regierung in Berlin dazu beitragen, dass das Andenken an die Millionen ermordeter Juden in Europa zu durchsichtigen politischen Zwecken benutzt wird? Da die deutsche, die europäische und vor allem die amerikanische Politik im Nahen Osten gründlich versagt haben, nehmen inzwischen gewisse Gruppen das Heft in die Hand und schwächen das Gewicht derjenigen, die sich für das Ende des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern einsetzen.

So vernimmt man immer häufiger Stimmen, die Israel zu einem Verbrecherstaat stempeln wollen und auf die Delegitimierung seiner Existenz hinarbeiten. Damit wird der angebliche Unrechtscharakter der Gründung von 1948 mit der Besatzungspolitik seit 1967 verknüpft, und parallel dazu die „Empfehlung“ an die jüdischen Israelis ausgesprochen, in ihre „Ursprungsländer“ zurückzukehren. Doch weder Israelis noch Palästinenser haben eine andere Heimat.

Sollte die israelische Politik auf ihrem bisherigen Kurs beharren, den Palästinensern in der Westbank, im Gazastreifen und in Ost-Jerusalem Unabhängigkeit und Souveränität zu verweigern, ist die Gefahr nicht länger auszuschließen, dass es seinen eigenen Nationalstaat verspielt, und zwar in den Grenzen von 1948 – nur 62 Jahre nach seiner Entstehung. Täuschen wir uns nicht: Israels militärische Dominanz allein wird seinen Niedergang nicht aufhalten können. Dann sollten sich die Amerikaner und Europäer schon einmal vorsorglich auf die Öffnung ihrer Grenzen für die jüdischen Flüchtlinge vorbereiten!

* Die Autorin ist Mitglied der Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe München.
Erstveröffentlichung in: Jüdische Zeitung, Dezember 2010, Seite 5; im Internet: www.reiner-bernstein.de



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