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Nicht in meinem Namen

Die Toten von Beit Hanoun

Von Felicia Langer *

Der Gaza-Streifen war schon ein Gefängnis, in dem es kaum Luft zum Atmen gab, als Israels Armee vor einem Jahr abzog. Jetzt aber durchsieben große und kleine Stahlsplitter die Luft, brennt den Menschen der Boden unter den Füßen, schreien die Verwundeten und Verschütteten um Hilfe - und es gibt kein Entrinnen, schon gar nicht aus Beit Hanoun, dieser Stadt der Überflüssigen und Verdammten, die es am schwersten trifft.

Ausgerechnet in dem Moment, da eine Regierung der palästinensischen Einheit zwischen Hamas und Fatah zum Greifen nah scheint, holt die israelische Armee bei ihrer Operation Herbstwolken zu einem weiteren Schlag aus und tötet in Beit Hanoun Frauen und Kinder. Sofort ist alles wieder in Frage gestellt, und Premier Olmert kann sein bekanntes Argument zücken, er finde auf palästinensischer Seite keinen Gesprächspartner, der annehmbar wäre, denn mit der Hamas-Regierung redet er nicht. Und das in einer Lage, in der nur noch Verhandlungen helfen können, Menschenleben zu retten. Schon im Juni wäre eine Annäherung zwischen Hamas und Fatah möglich gewesen, als das "Papier der Gefangenen" zirkulierte. Dem war zu entnehmen, dass die wichtigsten palästinensischen Organisationen gemeinsam für eine Zwei-Staaten-Lösung plädieren und den Staat Israel damit de facto anerkennen. Auch die Hamas fand sich dazu bereit - und wurde von Olmert eiskalt ignoriert.

Vermutlich, weil in jenem Papier vermerkt ist, eine Zweistaatenlösung ist denkbar, aber nur wenn sich Israel auf die Grenzen zurückzieht, wie sie vor dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 bestanden haben. Dies zu formulieren, ist keine Provokation - es bedeutet lediglich, sich auf das zu berufen, was seit fast 40 Jahren in der berühmten UN-Resolution 242 steht: Die besetzten Gebiete müssen unverzüglich geräumt werden.

Die Palästinenser wollen laut "Papier der Gefangenen" nicht mehr als 22 Prozent des historischen Palästina - ein kolossaler Kompromiss. Wo sonst bei einem ähnlichen Konflikt in der Welt gibt es eine solche Bereitschaft zum Verzicht? Billiger kann Israel gar nicht zu Frieden und Sicherheit kommen. Warum greift Ehud Olmert dieses Zugeständnis - vor allem der Hamas - dann nicht auf? Weshalb hat er nicht wenigstens versucht, darüber zu verhandeln? Miteinander zu sprechen, ist doch um so vieles besser, als aufeinander zu schießen. Stattdessen entscheidet sich Olmert für das Unmögliche: den Status quo. Die Palästinenser sollen bestenfalls auf ein paar Kantone hoffen, um daraus eines Tages ihren Staat zu zimmern. Schon jetzt dürfen sie sich ein Bild davon machen, wie es ihnen dann ergeht. Denn was mit dem Gaza-Streifen geschieht, lässt sich als Prophezeiung oder gar Drohung deuten. Die Botschaft lautet, seid nicht so versessen auf euren Staat. Wir Israelis können in der Westbank genauso verfahren wie vor euer aller Augen mit dem Gaza-Streifen! Was wollt ihr gewinnen mit eurem Staat?

Inzwischen hat die US-Regierung den durch die israelische Armee verschuldeten Tod von Frauen und Kindern in Beit Hanoun kritisiert. Möglicherweise eine indirekte Folge der Niederlage George Bushs bei den Kongresswahlen. Man sollte das Signal nicht übersehen - überschätzen auch nicht. Die Kritik nach dem Verbrechen von Beit Hanoun ist nicht mehr als eine Kritik unter Freunden. Wo waren die Amerikaner, als die Palästinenser zuletzt den UN-Sicherheitsrat regelrecht anflehten, doch endlich etwas zu unternehmen, um das Töten im Gaza-Streifen zu stoppen? Warum blieben auch die anderen Mitglieder dieses Gremiums taub? Es kann ihnen kaum entgangen sein, dass es für die Palästinenser um das nackte Überleben geht. Haben sie einfach resigniert, weil die USA ohnehin ihr Veto einlegen, wenn Israel verurteilt werden soll? Nach der gezielten Tötung der vier UNIFIL-Soldaten im Beobachtungsposten Khiyam am 25. Juli, noch einmal nach dem Massaker im südlibanesischen Kana am 30. Juli, als Israel zur Rechenschaft gezogen werden sollte, und jetzt nach Beit Hanoun - man kann sich auf das Veto der USA verlassen.

Israel versteht es, sich als alleiniges Opfer hinzustellen und die Vergangenheit als Rechtfertigung für das heranzuziehen, was heute gegen die Palästinenser geschieht - es geschieht im Namen unserer Toten, die sich nicht wehren können. Aber wir, die Lebenden, wir können uns wehren und klar sagen: Nicht in unserem Namen. Nicht in meinem Namen - das ist Missbrauch der Geschichte.

* Felicia Langer ist Schriftstellerin, Rechtsanwältin und Trägerin des Alternativen Nobelpreises

Aus: Freitag 46, 17. November 2006



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