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"Eine einfache Botschaft des Friedens und der Versöhnung"

Gespräch mit Yaël Armanet Chernobroda. Über eine schwierige israelisch-palästinensische Begegnung in Dschenin *


Unter den Opfern eines Anschlags auf das Restaurant Matza am 31.März 2002 in Haifa war auch der Architekt Dov Chernobroda. Sechs Jahre später beschloß seine Witwe, Yaël Armanet Chernobroda, die Familie des Selbstmord­attentäters Schadi Tobassi in Dschenin auf der Westbank zu besuchen. Marcus Vetters neuer Film »Nach der Stille« erzählt die Geschichte dieser Begegnung.


Der Film »Nach der Stille« erzählt Ihre Begegnung mit der Familie des Selbstmordattentäters Schadi Tobassi in Dschenin. Hätte Ihr Mann Dov es richtig gefunden, daß Sie die Familie seines Mörders besuchen?

Davon bin ich überzeugt. Hätte er das Attentat überlebt, wären wir beide nach Dschenin gefahren. Als Geste des Friedens und der Versöhnung hätten wir die Familie von Schadi Tobassi aufgesucht, des Terroristen von Matza.

Dov hat immer in den linken Parteien gearbeitet. Zuerst waren wir bei Mapam, dann bei Meretz. Er war in vielen Punkten seiner Zeit voraus. Ich war dabei, als er am 14. September 1998 zum zweiten Mal nach Ramallah in Arafats Mukhata fuhr und ihm einen Brief übergab. Er hatte das Thema »Friedliche Besiedlung – jüdische und arabische Besiedlung unter palästinensischer Autorität«. Das ist aktuell geblieben.

Einer seiner besten Freunde war Fayçal Al-Husseini, Direktor des Orienthauses in Ostjerusalem, Mitglied des Exekutivkomitees der PLO, verantwortlich für die Fragen, die Jerusalem betrafen. Dov machte ihn mit jüdischen Persönlichkeiten jeglicher Couleur bekannt, lud ihn auch nach Haifa ein – schon vor den Abkommen von Oslo. Er brachte Menschen zusammen, die von selbst nicht darauf gekommen wären. Als wir 2001 zur Beerdigung Fayçals kamen, waren in der Menge nicht mehr als vier anonyme Israelis.

Dov gehörte zu den wenigen jüdischen Architekten und Urbanisten, die mehr als 30 Jahre in den arabischen Städten und Dörfern von Galilea und dem Wadi Ara in Israel arbeiteten. Er hielt es für seine Pflicht als Zionist, Sozialist, Architekt, Stadtplaner und natürlich als Mensch, für die Rechte der in Israel lebenden Araber einzutreten und den Dialog zu fördern.

Am 13. Oktober 1990 organisierte er ein Treffen zwischen Menschen aus Haifa und dem Friedensaktivisten Ziad Abu Zayyad, dem Mitglied des palästinensischen Nationalrats in Jerusalem. Es fand im Hotel Nof statt, weil es verboten war, palästinensische Führer an einem öffentlichen Ort zu treffen. Das Thema war: Wir sind Gegner, aber wir sprechen miteinander. Dov war es auch, der 1993 für die Kommunalwahl in Haifa die Idee einer gemeinsamen Liste der jüdischen Mapam- und der arabischen Hadash-Partei lancierte. Ein Jahr schon, bevor unser Friedensvertrag mit Jordanien geschlossen wurde, wollte er auf der kommunalen Ebene ein Beispiel des Zusammenwirkens schaffen, hier in Haifa, wo friedliche Koexistenz der arabischen und jüdischen Einwohner eine Realität war.

Wie kam Ihnen die Idee, die Familie Tobassi kennenzulernen? Und wie kam es zum Film?

Das entwickelte sich aus meiner Begegnung mit dem deutschen Filmemacher und -produzenten Marcus Vetter in Haifa. Den 23. Mai 2008, als ich den Film »Das Herz von Dschenin« sah, werde ich nie vergessen. Er erzählt die Geschichte von Ismaël Khatib, dem Vater des kleinen Achmed, der irrtümlich von israelischen Soldaten in Dschenin getötet wurde, weil er ein echt wirkendes Spielzeuggewehr trug. Ismaël und seine Frau beschlossen, Organe ihres Kindes für Kinder in Israel zu spenden – als Geste des Friedens und der Versöhnung. Die Spende von Achmeds Organen rettete das Leben von jüdischen und arabischen Kindern. Der Film zeigt, wie Achmeds Vater diese Kinder einige Jahre nach dem Tod seines Sohnes in Israel besucht.

Ich war tief berührt und auch von dem, was Marcus sagte. Achmeds Geschichte war das Gegenstück zu meiner! Ich beschloß – vor dem Publikum, zum großen Teil junge Araber aus der israelischen Stadt Sakhnin – aufzustehen und zu sagen, daß auch ich eine Geschichte mit Dschenin zu erzählen hätte, die von meinem Mann Dov.

Zwei Wochen später habe ich Marcus Vetter in einer E-Mail die Idee eines Films vorgeschlagen, der eine israelische Antwort auf seinen ersten Film über Dschenin sein würde. Auf seiner Webseite »Filmperspektive« las ich, daß seine Dokumentarfilme persönliche Geschichten vor dem Hintergrund der großen Geschichte erzählen. Marcus, der mir ein naher Freund geworden ist, antwortete, daß ihn die Sache interessiere.

Ein Jahr später schrieb er mir, daß er mit zwei seiner besten Schülerinnen darüber gesprochen habe: Jule Ott und Stephanie Bürger, die sich sehr freuten, nach Abschluß ihres Studiums den Film in Dschenin und Haifa zu drehen. Marcus kann als Lehrer sein tiefes menschliches und humanistisches Engagement vermitteln, seine Sicht auf die komplizierten Gegebenheiten im Nahen Osten. Er wagt es, hinter die Kulissen zu blicken, Verschwiegenes zu entschlüsseln und Vorurteile jeder Seite zu hinterfragen.

Schon als ich die erste E-Mail an ihn schrieb, war ich entschlossen, die Familie des Mörders zu besuchen – als Geste der Versöhnung. Und Marcus hat bald gefragt, ob ich den Namen des Terroristen kenne.

Aber nichts war leicht an diesem sehr langen Prozeß, den wir, das Filmteam, Dovs Familie und meine Freunde durchmachen mußten, ebenso die palästinensische Familie und ihr Umfeld. Diese langsame Entwicklung zu zeigen, macht die Schönheit und Glaubwürdigkeit des Filmes aus.

Wie wurde die Dramaturgie des Films erarbeitet?

Natürlich kann ich nur meine persönliche Sicht wiedergeben. Ich bewundere, mit welcher Professionalität Stephanie und Jule, beide unter 30, ihre Arbeit angegangen sind. Sie kannten Bücher über den Nahostkonflikt, besaßen Herzensklugheit und analytische Intelligenz. Ihre Equipe war noch jünger: Kamerafrau Mareike Müller und Tonmeister Aljoscha Haupt. Sie suchten eine palästinensische Co-Regisseurin. Nach vielen Absagen – wer hat bei diesem Thema keine Angst? – gewannen sie die ebenso junge Manal Abdallah.

Marcus war während der Dreharbeiten anwesend und nicht anwesend. Er hatte viel zu tun mit seinem Projekt der Wiedereröffnung des »Cinema Jenin«[1]. Dank seiner Erfahrung und Großzügigkeit gab er der Truppe freie Hand, aber wenn nötig auch Hilfe. Steffi und Jule arbeiteten mit Fakhri Hamad zusammen, dem Direktor vom »Cinema Jenin«, um mit der Familie Tobassi in Kontakt zu kommen. Er und Manal begannen, Fäden zu spinnen, um langsam das Vertrauen der Eltern und Brüder des Terroristen zu gewinnen. Als sie drei Monate später nach Haifa kamen, wußten sie schon, daß der Film gemacht werden könne.

Ich war bereit und wußte, was ich wollte: die Botschaft von Dov weitertragen. Er sagte, daß der Konflikt weitergeht, solange die Gegner nicht miteinander sprechen. Ich wollte der Welt auch ein anderes Bild von Israel vermitteln, nicht das der linken und rechten Extremisten. Es ging mir um eine einfache Botschaft des Friedens und der Versöhnung.

Wie kam es zum ersten Kontakt mit der Familie Tobassi?

Per Telefon. Ich mußte persönlich mit Abu Amjad, dem Vater des Terroristen Schadi Tobassi sprechen und fragen, ob er mich und meine kleine Gruppe in Dschenin empfangen wolle. Jule und Steffi haben mich vorher gefragt, ob ich wüßte, was ich sagen würde. Ich wußte nur, daß ich die Nummer wählen und mit Respekt von meinem Wunsch reden würde, ins Gespräch zu kommen. Das war nicht einfach, aber ich war ganz ruhig, ganz bei mir selbst.

Abu Amjad entschuldigte sich zuerst, sein Hebräisch sei nicht gut. Da sprach aber nur seine Angst. Sein Hebräisch war sehr gut, weil er viele Jahre als Bauarbeiter in Israel war. Allmählich, ohne uns sehr anzustrengen, wurde das Gespräch ruhig, respektvoll. Und wir kamen überein, daß ich ihn, seine Frau, seine ganze Familie besuchen würde, mit meinen Freunden. Als ich den Hörer auflegte, hielt ich meine Tränen nicht zurück. Jule und Steffi waren ja da, und ich spürte, daß sie mitfühlten wie auch Maike mit ihrer Kamera und Aljoscha, der den Ton aufzeichnete. Langsam bekam ich meine Emotion unter Kontrolle. Auf Fotos von Abu Amjad hatte ich festgestellt, daß wir dieselbe Augenfarbe haben: graublau. Er hat einen schönen, milden Blick. Verbrechen haben keine genetische Ursprünge. Zwei Wochen später fuhren wir nach Dschenin.

Wer hat Sie begleitet?

Yoav, der älteste Sohn von Dov. Instinktiv habe ich seine Hand genommen, als wir vor dem Haus standen, aus dem Schadi morgens fortgegangen ist, um sich in Haifa in die Luft zu sprengen. Ich brauchte diese Nähe zu Yoav, mit dem ich verbunden bin durch unsere Liebe zu Dov.

Auch Bluma Finkelstein, meine beste Freundin, war dabei. Lange hatte ich gezögert, sie deswegen zu fragen. Ich hatte Angst, sie könnte mit mir zusammen umkommen. Aus Dschenin sind während der zweiten Intifada über 20 Selbstmordattentäter gekommen. Aber Bluma sagte: »Wenn du sterben mußt, will ich mit dir sterben.« Wir waren beide überzeugt, daß diese Friedensgeste notwendig war.

Aber ich muß auch über meine Freunde vom Familienforum der israelischen und palästinensischen Opfer des Konflikts sprechen. Wir sind über 600 Familien, die alle ein Mitglied verloren haben und trotzdem zusammen einen Weg zu Versöhnung, Toleranz und zum Frieden suchen – als Alternative zu Haß und Rache. Zwei vom Forum haben mich begleitet, der israelische Direktor Nir Oren und der palästinensische Sprecher Ali Abu Awwad.

Was fühlten Sie, als Sie die Familie Tobassi trafen?

Steffi und Jule hatten mir Fotos von Dschenin geschickt, und ich kannte die Stadt auch aus Fernsehreportagen. Es war schwierig, die Bilder anzuschauen und dabei zu begreifen, daß das Leben in Dschenin sich sein Recht nahm, nach ­Dovs unnützem Tod.

Der palästinensische Chauffeur Wassaf brachte uns in entspannter Atmosphäre von Haifa nach Dschenin. Schon in Israel hat er alle roten Lichter mißachtet und gesagt, daß die roten Lichter in Dschenin die Bedeutung der grünen hätten. Dann kam der Checkpoint von Dschalamé. Angst hatte ich nicht wirklich, obwohl wir dort ein Dokument unterschreiben mußten, daß wir, nach dem Betreten der Zone A – was Israelis nicht gestattet ist – das Verteidigungsministerium und die Armee von aller Verantwortung freisprechen, auch was unseren etwaigen Tod betraf. Wir waren uns der Gefahr also bewußt. Aber damals, im April 2010, gab es ein wenig Friedenshoffnung. Heute würde ich die besetzten Gebiete nicht betreten.

Dann erinnere ich mich an die lange, gerade Straße vor Dschenin, an die Treibhäuser dort, dann an den Lärm, die Menge in den Straßen und die Autos, die sich mit viel Gehupe den Weg bahnten. Ich kam mir vor wie in den Wildwestfilmen meiner Jugend.

Schadis Vater und Brüder haben uns respektvoll und höflich empfangen, nach dem Gebot der traditionellen Gastfreundschaft. Am Anfang war das Gespräch schwierig, aber ohne Aggressivität. Nach und nach wurde es leichter, beide Seiten gaben sich Mühe. Marcus, stets lächelnd, war immer dabei.

Dann gingen Bluma und ich in den Salon der Frauen und haben Schadis Mutter, Um Amjad, getroffen, seine Schwester Sara und seine Schwägerinnen. Wir sprachen hebräisch. Schadis Eltern sind beide in Israel geboren und hatten früher israelische Papiere.

Hier zitiere ich aus Aufzeichnungen über Szenen, die nicht gefilmt werden konnten: Bluma und die Mutter fallen sich weinend in die Arme. Ich weine nicht. Ich habe in den vergangenen Wochen so viel geweint. Ich denke an Dov und – ja! – an die Zukunft. Instinktiv zieht es mich an die Seite von Um Amjad. Ich ergreife ihre Hand und lasse sie den ganzen Tag nicht mehr los.

Den ganzen Tag über nenne ich sie Mutter. Das kam von selbst. Für mich ist sie vor allem eine Mutter, die fünf Jungen und drei Mädchen großgezogen und die heute 15 Enkel hat. Es war nur Schadi, der getötet hat. Um Amjad erzählt mir auf hebräisch, daß ihr Sohn niemandem anvertraut hat, daß er zum Restaurant Matza fahren und sich in die Luft sprengen wird. Und sie sagt: Welche Mutter hätte ihren Sohn da ziehen lassen?

Vielleicht fürchteten die Tobassis, daß wir ihnen sagen wollten: Was für einen Sohn habt ihr da erzogen? Aber das war wirklich nicht unsere Absicht.

Um Amjad meint, daß die Leukämie, die man nach dem Attentat bei ihr festgestellt hat, damit im Zusammenhang stand. Sie wurde in Jordanien operiert, weil man ihnen die israelischen Identitätspapiere und die Karte der Sozialversicherung entzogen hat. »Vielleicht kannst du helfen, daß wir sie wiederbekommen?« fragt sie vorsichtig.

Zwei ihrer Töchter und ihre eigene Familie kann Um Amjad nicht treffen, weil sie auf israelischem Territorium leben.

Dann hole ich eine schöne Tischdecke aus dem Kibbutz Shoval hervor, auf der das Motiv einer Gazelle gestickt ist. Gazelle heißt Yaël auf Hebräisch – mein Name. Als ich ankam, hatte ich noch nicht gewußt, ob ich sie schenken sollte. Die Mutter ist zu Tränen gerührt. Sie, die Mutter von Schadi, die ursprünglich verlangt hatte, nicht mit mir gefilmt zu werden, will nun, daß ein Foto von uns beiden gemacht wird. Ich sage: »Wenn Sie einmal einen Tisch decken für Ihre Kinder, Enkel und auch für die später Geborenen, wünsche ich mir, daß Sie sich an Yaël, die Frau aus Israel erinnert, die Sie mit der Hoffnung auf Frieden und Versöhnung besucht hat. Mein Mann Dov und Schadi sind sinnlos gestorben. Hoffen wir, daß es bald einen palästinensischen Staat gibt, und daß wir Frieden bekommen!«

Als ich in den Salon zurück kam, ist der Blick des Vaters entspannter. Er hat begriffen, daß das Treffen mit seiner Frau gut verlaufen ist. Sie kommt nun zu uns in den Salon. Yoav und ich erzählen über Dov, über seine Arbeit, seine Sicht auf den Konflikt, seine Kontakte mit den Palästinensern. So spüren wir, daß Dov und seine Botschaft weiterleben

Als wir uns verabschieden, erwidern Bluma und ich den freundlichen Händedruck aller Frauen der Familie. Bluma sagt mir später, daß auch alle Nachbarn aus den Fenstern geschaut haben.

Wie haben sich die Beziehungen zur Familie Tobassi weiterentwickelt?

Wir haben uns erst im Februar 2011 in Berlin wiedergesehen, auf der Gala des »Cinema for Peace«. Es war die erste Auslandsreise der Tobassis. Auf der Bühne haben wir zusammen unseren Friedenswillen bekundet. Aber die schönsten Gespräche hatten wir, als wir unter uns waren, im Hotel und auf unserem Spaziergang durch Berlin.

Neulich, vor der Premiere unseres Films in Haifa, habe ich Abu Amjad angerufen. Ich wollte ihm sagen, daß es unmöglich sei, eine Genehmigung zu bekommen, damit er und seine Frau teilnehmen könnten. Aber es gelang mir, daß Manal Abdallah kommen konnte, die junge palästinensische Filmemacherin!

Als ich ihm sagte, daß unser Film im Dezember, auf dem internationalen Filmfestival in Dubai gezeigt würde, fragte er, ob ich hinfahren würde. Ich sagte, daß mir das als Israelin unmöglich sei. Und du, würdest Du fahren? Als er bejahte, sagte ich: »Du kannst nicht nach Haifa kommen, ich kann nicht nach Dubai.« Er fuhr fort: »Dann sehen wir uns also in Dschenin!«

Abu Amjad und ich haben uns auf den Schicksalslinien von Dov und Schadi getroffen, die sich in der großen kollektiven Geschichte gekreuzt haben. Wichtig ist, daß wir nicht versteinern zu Opferstatuen.

Vor Ihrem Besuch hatten die Tobassis das Foto, das Schadi als Märtyrer ehrt, von der Wand genommen. Haben Sie später ein Foto von ihm gesehen?

Für meinen Besuch hatte ich zwei Bedingungen gestellt: Das Foto von Schadi als Märtyrer sollte nicht da sein, und ich wollte, daß alle Kinder und Enkelkinder anwesend wären.

Steffi hat mit viel Diplomatie und Feingefühl erreicht, daß das große Foto von Schadi als Märtyrer von der Wand genommen wurde. Ich wußte, daß ich es im Film dann sehen würde. Aber an diesem Tag, vor den Kameras, die alles aufnahmen, wollte ich seinem Blick nicht begegnen. Es waren nur zwei kleinere Fotos von ihm da und ein Rahmen mit einem Koranvers, der das andere, große Foto ersetzt hat. Man sagte mir, daß Um Amjad das Foto ihres Sohnes selbst abgenommen hat. Das war eine starke Geste einer palästinensischen Frau gegenüber einer israelischen Frau, der es möglich wurde, ihre Familie zu treffen.

An einem Abend in Berlin zeigte mir der Vater auf seinem iPhone alle seine Kinder und Enkelkinder. Das Foto von Schadi wollte er überspringen. Da sagte ich: »Ich hatte Sie gebeten, daß ich nicht das Foto Ihres Sohnes als Märtyrer sehen wollte, weil die Kameras da waren. Aber hier sind wir unter uns. Ich werde niemals vergessen, daß Ihr Sohn Schadi meinen Mann Dov ermordet hat. Aber er ist Ihr Sohn. Ich verstehe, daß Sie um Ihren Sohn weinen.« Er hat mich angeschaut, mit Tränen in den Augen. Die Mutter, die neben mir saß, schluchzte. Diesen Moment vergesse ich nicht. Das waren unbeschreibliche Emotionen.

Wie haben Ihre Freunde in Israel auf Ihren Besuch in Dschenin reagiert?

Schwierig wird es, wenn die Emotion die Vernunft übersteigt. Ich wußte, daß ich ein Risiko eingegangen war. In der israelischen Presse sind lange und sehr positive Artikel erschienen. Einige meiner Freunde – nicht nur Juden – haben sich von mir entfernt, andere nicht. Es gab Bemerkungen wie: »Wie konntest du das nur wagen? Hast du dein Trauma, deine Trauer vergessen? Du sprichst vom menschlichen Gesicht der Palästinenser. Siehst du denn nicht, daß du der Teufel für sie bist? Die Araber verachten solche Haltungen! Deine Abschiedsküsse waren nicht Höflichkeit, sondern Anbiederung!« Sogar arabisch-israelische Freunde warnten: »Du begibst dich in Lebensgefahr! Bei uns zählt nur das Gesetz der Rache!«

Aber die meisten Freunde sagten: »Bravo! Aber ich hätte das nicht gekonnt.«

Das Publikum der Premiere in Haifa war gespalten. Am Anfang überwogen die Stimmen der Gegner des Films. Hinzu kam, daß die Befreiung von Gilad Schalit am Tage davor in ganz Israel tiefe emotionale Wellen geschlagen hatte. Und Israelis diskutieren miteinander politisch ohne jede Höflichkeit miteinander. Es schien, als wenn die Frage, welches der beiden Völker wohl die größten Opfer zu beklagen hätte, erneut aufs Tapet käme. Aber nach und nach meldeten sich auch andere Stimmen, die die Botschaft des Films aufmerksamer aufgenommen hatten.

[1] Das während der zweiten Intifada von der israelischen Armee zerstörte Kulturhaus wurde mit deutscher Hilfe rekonstruiert und strebt kulturelle Kontakte zwischen Palästinensern und Israelis an.

Interview: Sabine Kebir

* Aus: junge Welt, 12. November 2011


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