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Israelische Regierung nach dem Libanon-Krieg unter Druck - Zwei Artikel von Uri Avnery

Israels Illusion zerstört

Nach ausbleibendem Sieg im Libanon-Krieg steht Ehud Olmerts Regierung unter Druck

Von Uri Avnery


Mit einigen wenigen Worten zerstörte ein libanesischer Offizier die Illusion, daß Israel auch nur irgend etwas in diesem Krieg erreicht hätte. Bei der Fernsehübertragung einer Armeeparade, die auch im israelischen Fernsehen zu sehen war, verlas der Offizier vor den versammelten Soldaten, die kurz darauf entlang der libanesisch-israelischen Grenze stationiert werden sollten, eine Rede: »Heute bereitet Ihr Euch im Namen des einheitlichen Volkswillens auf die Stationierung auf der Erde des verwundeten Südens unseres Landes vor. Ihr werdet dabei Seite an Seite stehen mit Eurem Volk und den Truppen des Widerstandes, die die Welt mit ihrem Beharrungsvermögen verblüfft und den Ruf einer Armee, die als unbesiegbar galt, zerschmettert haben.«

Propagandablasen

Um es vereinfacht zu sagen: »der einheitliche Volkswille« – das ist der Wille aller Teile der libanesischen Öffentlichkeit, einschließlich der schiitischen Gemeinde; »Seite an Seite mit dem Widerstand« – also Seite an Seite mit der Hisbollah; »die die Welt mit ihrem Beharrungsvermögen verblüfft haben« – gemeint ist der heroische Widerstand der Hisbollahkämpfer; »Zerstörung des Rufes einer Armee, die als unbesiegbar galt« – gemeint ist die israelische.

So sprach also ein Offizier der libanesischen Armee, deren Stationierung entlang der Grenze von der Olmert-Perez-Regierung als großer Sieg gefeiert wird, weil die Libanesen die Konfrontation mit der Hisbollah suchen und diese entwaffnen sollen. Israelische Kommentatoren hatten die Illusion erzeugt, daß die Armee unter der Verfügungsgewalt der Freunde der USA und Israels in Beirut stehe, wie zum Beispiel Fuad Siniora, Saad Hariri und Walid Dschumblatt. Es geschieht nicht zufällig, daß diese Übertragung im Fernsehgelaber ersäuft wurde – wie ein Stein, den man in einen Brunnen wirft. Nach der Übertragung dieser Rede fand keinerlei Debatte darüber statt. Sie wurde aus dem öffentlichen Bewußtsein gelöscht.

Aber nicht nur die illusionäre Blase der libanesischen Armee als einer Art Erlöser ist geplatzt. Dasselbe geschah mit der zweiten bunten Blase, die einen israelischen Erfolg suggerieren sollte: nämlich die Stationierung einer internationalen Truppe mit dem Auftrag, Israel vor Hisbollah-Angriffen zu schützen und deren Wiederbewaffnung zu verhindern. Mit jedem Tag, der vergeht, wird klarer, daß diese Truppe ein Mischmasch aus kleineren nationalen Einheiten ohne klares Mandat und »robuste« Ausstattung sein wird.

Öffentlicher Druck

Also was verbleibt von all den »Erfolgen« dieses Krieges? Gute Frage. Nach jedem verlorenen Krieg wird der Ruf nach einer offiziellen Untersuchung in Israel laut.

Das geschah genauso nach dem ersten Libanon-Krieg, der seinen Siedepunkt in dem Massaker von Sabra und Schatilah erreichte. Die Regierung verweigerte jegliche ernstzunehmende Untersuchung. Die Massen, die sich daraufhin auf dem heutigen »Rabin-Platz« versammelten – die geradezu mythischen Vierhunderttausend– verlangten eine gerichtliche Untersuchung. Die öffentliche Stimmung begann zu kochen, und schließlich gab der damalige Premierminister, Menachem Begin, nach.

Die Kahan-Kommission, die mit der Untersuchung beauftragt war, verurteilte eine Anzahl von Politikern und Offizieren für die »indirekte« Verantwortung für das Massaker, obwohl die eigenen Fakteneinschätzungen der Kommission eine wesentlich schärfere Verurteilung gerechtfertigt hätten. Ariel Scharon aber wurde schließlich aus dem Verteidigungsministerium entfernt.

Nach dem traumatischen Jom-Kippur-Krieg hatte die Regierung ebenfalls eine Untersuchungskommission verweigert, aber der öffentliche Druck verschaffte sich auch hier die Durchsetzung seiner Forderungen. Das Schicksal der Agranat-Kommission, der ein ehemaliger Oberbefehlshaber der Truppen und zwei hochrangige Offiziere angehörten, war recht seltsam: sie führte eine ernsthafte Untersuchung durch, gab dem Militär alle Schuld, warf den Oberbefehlshaber »Dado« Eliazar aus seinem Amt – und sprach die politische Führung von jeglicher Schuld frei. Das verursachte einen spontanen Volksaufstand, der Golda Meir und Moshe Dayan – jeweils Vorgänger von Olmert und Peretz im Amt des Premierministers beziehungsweise des Verteidigungsministers – zum Rücktritt zwang.

Auch dieses Mal versuchen die politische und militärische Führung jegliche ernsthafte Untersuchung zu verhindern. Amir Peretz hat sogar eigens eine Kommission mit engen Gefolgsleuten besetzt, um alles übertünchen zu können. Aber der öffentliche Druck verstärkt sich ständig, und die Chancen stehen nicht schlecht, daß am Ende kein anderer Ausweg bleiben wird als eine Kommission mit gerichtlichen Befugnissen.

* Der Autor ist Mitbegründer der israelischen Friedensgruppe Gush Shalom. Übersetzung aus dem Englischen: Ellen Rohlfs


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Wer eine Untersuchungskommission einberuft, bestimmt ihre Ergebnisse

Von Uri Avnery


Nach israelischem Gesetz ist es die Regierung, die eine Untersuchungskommission einberufen kann und die ihre Bezugspunkte bestimmt. Die Zusammenstellung der Kommission selbst aber wird vom Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes bestimmt. Wenn es nun tatsächlich zur Aufstellung einer solchen Kommission kommt, was gilt es zu untersuchen?

Die Politiker und Generäle werden sich bemühen, die Untersuchung auf technische Aspekte der Kriegsführung zu beschränken: Warum war die Armee nicht für den Krieg gegen Guerilla-Truppen gewappnet? Warum wurden die Landtruppen nicht bereits in den ersten zwei Wochen in Marsch gesetzt? Glaubte das militärische Kommando wirklich, diesen Krieg nur mittels der Luftwaffe gewinnen zu können? Wie war es um die Qualität der Nachrichtendienstinformationen bestellt? Warum wurde nichts zum Schutz der Etappe getan, wenn doch die Gefahr durch Raketenbeschuß bekannt war? Warum wurden die Armen der Etappe, nachdem die Wohlhabenden die Gegend verlassen hatten, ihrem Schicksal überlassen? Warum waren die Reserve-Einheiten nicht kriegsbereit? (...)

All dies sind ernsthafte Fragen, und es ist sicherlich notwendig, sie zu klären. Aber noch wichtiger ist es, nach den Wurzeln dieses Krieges zu forschen: Was hat das Trio Olmert-Peretz-Halutz dazu bewegt, nur wenige Stunden nach der Gefangennahme der zwei Soldaten einen Krieg zu beginnen? War es bereits im Vorhinein mit den Amerikanern abgesprochen worden, in den Krieg zu ziehen, sobald sich ein glaubhafter Vorwand finden ließe? Haben die Amerikaner Israel zu diesem Krieg gedrängt und während seines Verlaufes immer wieder dazu angeheizt, so weit wie irgend möglich zu gehen? War es faktisch US-Außenministerin Condoleezza Rice, die entschied, wann zu beginnen, wann aufzuhören sei? Wollten die USA uns in eine Verstrickung mit Syrien hineinziehen? Haben die USA uns für ihre Kampagne gegen den Iran benutzt?

Auch das ist noch nicht genug. Es gibt noch grundlegendere und wichtigere Fragen. Dieser Krieg hat keinen Namen. Sogar nach 33 Kampftagen und zwei Wochen Waffenstillstand hat sich noch kein naheliegender Name finden lassen. Die Medien benutzen einen Namen mit chronologischem Charakter: »2. Libanon-Krieg«. Auf diese Weise wird der Krieg im Libanon abgetrennt von dem, der parallel dazu im Gaza­streifen geführt wird, und der nach dem Waffenstillstand im Norden unabgemildert weitergetrieben wird. Haben diese Kriege einen gemeinsamen Nenner? Sind sie vielleicht sogar ein und derselbe Krieg? Die Antwort ist: mit Sicherheit ja. Und der eigentliche Name dieses Krieges ist: der Krieg für die Aufrechterhaltung der Siedlungen.

Der Krieg gegen das palästinensische Volk wird betrieben, um die Siedlungsblöcke halten und weite Teile der Westbank annektieren zu können. Der Krieg im Norden wurde geführt, um die Siedlungen auf den Golanhöhen halten zu können.

Hisbollah ist mit Unterstützung Syriens, das zur damaligen Zeit den Libanon beherrschte, herangewachsen. Hafez Al Assad sah in der Rückkehr des Golans zu Syrien sein Lebensziel– schließlich war er es, der sie im Krieg von 1967 verloren hatte, und dem es 1973 nicht gelungen war, sie zurückzuerobern. Er wagte nicht, einen weiteren Krieg an der israelisch-syrischen Grenze zu riskieren, die ja Damaskus so nahe ist. Daher versorgte er die Hisbollah, um Israel davon überzeugen zu können, daß es ohne die Rückgabe des Golan niemals Ruhe haben werde. Assad Jr. setzt das Erbe seines Vaters in diesem Sinne fort.

Ohne die Kooperation Syriens hat der Iran keine Möglichkeit, Waffen an die Hisbollah zu liefern. Die liegt auf der Hand: Wir müssen die Siedler von dort zurückholen und den Golan an seine rechtmäßigen Besitzer zurückgeben.

Es muß laut gesagt werden: Jeder der 154 toten Israelis des zweiten Libanon-Krieges starb für die Siedler der Golanhöhen. Das 155. Todesopfer dieses Krieges ist der »Konvergenzplan« – der Plan, der den unilateral bestimmten Rückzug aus Teilen der Westbank vorsah. Die Konvergenz, für die Ehud Olmert als Premier gewählt wurde, sah vor, 60000 Siedler zu entfernen, 400000 andere jedoch in der Westbank (einschließlich der Jerusalem-Region) zu belassen. Nun wurde auch dieser Plan beerdigt.

In ganz Israel wird bereits über die »nächste Runde« geredet, den Krieg, der schlußendlich mit der Hisbollah aufräumt und sie dafür straft, unsere Ehre beschmutzt zu haben. Die Gewißheit, daß ein weiterer Krieg kommen wird, ist dem Anschein nach zu einer Binsenweisheit geworden. Selbst die Zeitung Haaretz bezeichnet den nächsten Krieg in ihren Leitartikeln als selbstverständlich.

Um überhaupt irgendeinen Wert zu haben, muß die Untersuchungskommission die wahren Wurzeln des Krieges aufdecken und der Öffentlichkeit die historische Wahl, die sich in diesem Krieg so deutlich abgezeichnet hat, präsentieren: Entweder die Siedlungen und endloser Krieg oder Rückgabe der besetzten Gebiete und Frieden. Andernfalls wird die Untersuchung nur Unterstützung liefern für die Perspektive der Rechten: Wir müssen nur die Fehler, die gemacht worden sind, herausfinden und korrigieren, dann können wir den nächsten Krieg beginnen und werden siegen.

Übersetzung: Ellen Rohlfs

Beide Artikel waren zuerst veröffentlicht in der "jungen Welt" vom 28. August 2006


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