Ahmed, hol den Kaffee!
Bush lässt Sharon längst wieder freie Hand gegen die Palästinenser
Von Uri Avneri
Den Fall der Taleban werde ich ganz gewiss nicht bedauern. Wie jedes
andere religiös-fundamentalistische Regime auch - ob muslimisch, jüdisch,
christlich oder wie auch immer - basierte es auf Grausamkeit,
Unterdrückung und Rückwärtsgewandtheit. Es reicht, auf die Haltung
gegenüber Frauen zu verweisen. Aber dieser Sieg der Vereinigten Staaten
macht mir Angst, furchtbare Angst.
Weil: Dieser Sieg war zu leicht errungen. Viel leichter als viele - mich
eingeschlossen - geglaubt hatten. Ein großes Land wurde erobert, ohne
dass ein einziger amerikanischer Soldat im Kampf sein Leben lassen
musste. Stammesführer wurden gekauft und haben die Seiten gewechselt.
Der Widerstand wurde gebrochen durch Flugzeuge, die, fast unsichtbar,
hoch am Himmel flogen, und gewaltige Bomben abwarfen. Bomben, die
zerstörerischer waren als all jene, die man einst gegen die Nazis im
Zweiten Weltkrieg einsetzte.
Zu keiner Zeit in der Geschichte hatte je ein Staat eine solche unbegrenzte
Macht. Selbst das Römische Reich nicht, als es im Zenit seiner Macht
stand. Die Römer hatten sich zu jeder Zeit mit einer rivalisierenden Macht
auseinander zu setzen. Um ihre Siege zu erringen, mussten sie Legionen
in Marsch setzen und Leben auf fernen Schlachtfeldern opfern. Von Zeit zu
Zeit erlitten sie furchtbare Niederlagen. Kein Sieg war leicht oder gar billig
errungen.
Ganz anders die Vereinigten Staaten. Sie sind die einzige Großmacht der
Welt. Es gibt keinen anderen Staat, der mit den USA konkurrieren könnte -
weder militärisch noch ökonomisch. Und das Beispiel Afghanistan lehrt,
dass es nicht einmal mehr nötig ist, Soldaten irgendwo hin zu schicken.
Es reichen die Bomber mit ihren high-tech Waffen, um jeden Widerstand
zu brechen.
Und weil Amerika keine Feinde hat, muss es welche erfinden. "Islam" oder
"Internationaler Terrorismus" füllen diese Lücke. In einem Land, das auf
dem Mythos des Wilden Westen basiert, brauchen "die Guten"
(Amerikaner) "die Bösen", um halbwegs normal zu funktionieren.
"Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut", sagte der
viktorianische Staatsmann und Historiker Lord Acton (1834-1902) und fügte
hinzu, dass "große Männer immer böse Männer sind". Das trifft um so
mehr auf Großmächte zu. Wenn ein Staat unbegrenzte Macht besitzt, ist
er unfähig, weise, moderat und zurückhaltend zu agieren. Wie ein
Drogensüchtiger, der nicht mehr von seinem Stoff loskommt, ist die
Großmacht versucht, ihre Macht für alles und gegen jeden gewaltsam
einzusetzen, der sich ihrem Willen widersetzt - egal ob sie damit recht hat
oder nicht. Diese Macht richtet sich auch nach innen, um Freiheiten
einzuschränken, die in Jahrhunderten erkämpft wurden.
Die vergangenen Wochen haben uns eine Vorahnung des Kommenden
gegeben. Während der Vorbereitung auf den "Krieg gegen den
Terrorismus" haben die Vereinigten Staaten bemerkenswerte Vorsicht und
Zurückhaltung walten lassen. Man hofierte nicht nur Regierungen in
Europa, sondern weltweit. Die USA schufen eine große Koalition
arabischer Staaten. Aber als Präsident Bush erkannte, dass er keine Hilfe
braucht, um zu gewinnen, dass er es allein mit Bomben und Geld schafft,
kehrte er vielen den Rücken, die er eben noch als Verbündete umworben
hatte.
Den europäischen Partnern, die so begierig waren, ihre Armeen zur
Verfügung zu stellen, zeigte man abrupt die kalte Schulter. Amerika fragte
sie nicht um Rat oder verständigte sich nicht mit auch nur einem von ihnen
während des Krieges. Jetzt, da die wirklichen (amerikanischen) Soldaten
nach Hause zurückkehren, dürfen die Europäer den Dorfpolizisten spielen.
Auch die Vereinten Nationen fallen in ihre gewohnte Rolle zurück - sie
tanzen nach Amerikas Pfeife.
Noch stärker erniedrigt wurden die arabischen "Koalitionspartner". Die
Vereinigten Staaten spucken ihnen ins Gesicht und behandeln sie nach
der alten Maxime: "Ahmed, hol den Kaffee". Ganz offen und frei diskutieren
die Amerikaner mit sich selbst darüber, welches die nächsten Ziele sein
sollten - Irak, Sudan oder Somalia. Und die Araber? Wer fragt die?
Die neue Wirklichkeit zeigt sich am unverblümtesten und gefährlichsten
anhand des Palästinenserproblems. Unmittelbar nach dem 11. September,
als die "Koalition" geschmiedet wurde, hatten Amerikas Nahostexperten
sehr schnell erkannt, dass Sharons Vorgehen in den
Palästinensergebieten gestoppt werden müsse, damit die arabischen
Regierungen die Wut ihrer Massen dämpfen konnten. Präsident Bush
sprach von der "Vision" eines palästinensischen Staates, Colin Powell
arbeitete an einer neuen Friedensinitiative und ein bedauernswerter
Ex-Marinegeneral wurde nach Jerusalem gesandt. Einen kurzen
Augenblick lang sah es so aus, als würde Amerika seine Macht einsetzen,
um den israelisch-palästinensischen Konflikt zu beenden, der Wellen von
Wut in der arabischen Welt hervorgerufen hatte, auf denen bin Laden & Co.
jetzt ritten. Und überhaupt, welchen Sinn sollte es haben, einen Osama bin
Laden zu töten, wenn man gleichzeitig zehn neue schuf.
All diese klugen Überlegungen jedoch lösten sich in Luft auf, als die USA
ihren leichten Sieg errungen hatten. Von einem Augenblick zum anderen
wurde Amerika wieder, was es immer war - der großzügige Patron des
rechtsgerichteten militärischen Establishment in Israel. Die israelische
Lobby diktiert erneut die Politik in Washington. Präsident Bush hat Sharon
freie Hand gegeben bei seinem Versuch, die palästinensische Führung zu
liquidieren - ganz wie Präsident Reagan ihm 1982 aus demselben Grund
freie Hand für den Einmarsch in Libanon gab. Siehe: Sabra und Shatila.
Und das ist erst der Anfang.
Ein leichter Sieg kann für den Sieger zum Desaster werden, mehr noch als
eine Niederlage. Die Niederlage in Vietnam hatte ernüchternde Wirkung in
Amerika und schuf eine Atmosphäre der Besinnung und des
Nachdenkens. Israels leichter Sieg im Sechs-Tage-Krieg hingegen hat den
Israelis ein Desaster beschert, das sie bis heute verfolgt. Die Erkenntnis
des weisen Lords könnte daher wie folgt ergänzt werden. "Siege
korrumpieren und leichte Siege korrumpieren zehn Mal mehr."
Aus: Freitag 02, 4. Januar 2002
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