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Ein "genialer Schachzug" – Scharons Abzugsplan

Die "Roadmap" ist tot - Keine Verhandlungen mit den Palästinensern - Kein Palästinenserstaat

Von Knut Mellenthin*

In Israel tobt seit Wochen der Streit um Ministerpräsident Ariel Scharons Ankündigung, Israel wolle sich bis Ende des nächsten Jahres aus dem seit 1967 besetzten Gaza-Streifen zurückziehen. Die Ultrarechten und große Teile seiner eigenen Likud-Partei laufen Sturm gegen Scharon. Der Abzugsplan betrifft neben dem israelischen Militär auch zwischen 5000 und 8000 jüdische Siedler; die Zahlenangaben variieren. Auf Wunsch der US-Regierung sollen als symbolische Geste auch vier kleine Siedlungen auf der Westbank mit insgesamt 500 Bewohnern aufgelöst werden.

Den Palästinensern bietet der Abzugsplan keine Vorteile: Scharon will alle Verkehrswege in das Gebiet, das nur halb so groß ist wie der Stadtstadt Hamburg und mit 1,32 Millionen Einwohnern die höchste Siedlungsdichte der Welt aufweist, unter israelischer Kontrolle behalten. Gaza soll über keine eigenen Außengrenzen verfügen. Israels Armee und Kriegsmarine sollen Gazas Mittelmeerküste ebenso abriegeln wie seine Südgrenze mit Ägypten. Die Ein- und Ausreisen in das Gebiet, ebenso wie sein Außenhandel, sollen ausschließlich von Israel geregelt und kontrolliert werden. Die israelische Armee kann auch nach dem »Abzug« jederzeit nach Belieben Operationen durchführen, Palästinenser ermorden, Häuser und Pflanzungen zerstören. Es ist dafür keinerlei zeitliche Begrenzung vorgesehen. Da der Gazastreifen nur acht bis zehn Kilometer breit ist, können israelische Militärfahrzeuge jeden Punkt in Minutenschnelle erreichen.

Ultrarechte drohen mit Bürgerkrieg

Aber dennoch sind die extremen Rechten, unterstützt von 60 prominenten Rabbis und einigen jüdischen Organisationen der USA, mit unterschiedlichen politischen und religiösen Begründungen vehement gegen den »Abzug«. Ihre Drohungen reichen von Aufrufen zur Dienstverweigerung an die Soldaten bis zum »Bürgerkrieg«.

Nachdem Scharon im April für die bloße Ankündigung seines Abzugsplans weitgehende Zugeständnisse der US-Regierung ausgehandelt hatte, erteilte ihm Anfang Mai seine eigene Partei bei einer Mitgliederbefragung eine unerwartet deutliche Abfuhr: 60 Prozent stimmten gegen den Abzug. Rund die Hälfte der rund 195000 Mitglieder des Likud hatten sich an der Befragung beteiligt.

Scharon wird seither von großen Teilen seiner eigenen Partei, von Ultrarechten und den einflußreichen, sehr rührigen Siedlerverbänden bedrängt, die gesamte israelische Bevölkerung in einem Referendum über den Abzugsplan entscheiden zu lassen. Nach anfänglicher kategorischer Ablehnung dieser Forderung hat Scharon jetzt zugestimmt, ein Komitee einzusetzen, das die Durchführung eines Volksentscheids »prüfen« soll. Gleichzeitig hat er aber angekündigt, in der nächsten Woche – voraussichtlich am Montag, dem 25. Oktober – in der Knesset über den Abzug abstimmen zu lassen. Es wird angenommen, daß er dann mit Unterstützung der Sozialdemokraten eine solide Mehrheit erhalten wird, worauf eine neue Regierungskoalition folgen könnte. Scharon soll angedroht haben, jeden seiner Minister zu feuern, der gegen den Plan stimmt. Die Gegenseite droht mit Spaltung des Likud.

Vor diesem Hintergrund veröffentlichte die liberale Tageszeitung Ha’aretz am 8. Oktober ein langes Interview mit Scharons langjährigem Freund, Rechtsanwalt und Berater Dov Weisglass, in dem dieser den Abzugsplan als genialen Schachzug rechtfertigte. Das Interview ist nicht losgelöst von diesem politischen Zweck zu lesen, beschreibt aber Scharons Überlegungen und Motive wahrscheinlich richtig: Der Ministerpräsident sei im November vorigen Jahres, als er den Plan erstmals amerikanischen Politikern präsentierte, davon ausgegangen, »daß die Zeit gegen uns arbeitete« und die Situation völlig verfahren sei. »Innenpolitisch brach damals alles zusammen. Die Wirtschaft stagnierte, die Genfer Initiative (ein alternativer Friedensplan, der gemeinsam von namhaften Israelis und Palästinensern getragen wurde) gewann breite Unterstützung.« Die Regierung sei damals mit Briefen von Offizieren, Piloten der Luftwaffe und Soldaten von Spezialtruppen konfrontiert gewesen, in denen diese ihre Weigerung ankündigten, in den besetzten Gebieten Dienst zu tun. Das seien keine »Jungs mit grün gefärbten Haaren und Nasenringen«, »die stark nach Haschischzigaretten riechen«, gewesen, sondern gestandene, bekannte Soldaten. Zur selben Zeit gab es, was Weisglass in dem Interview nicht erwähnte, am 14. November ein gemeinsames Interview mit vier ehemaligen Chefs des Inland-Geheimdienstes Schin Bet, die davor warnten, daß Scharon das Land in den Abgrund führe. Und Armeestabschef Mosche Jaalon übte scharfe Kritik an der harten Politik in den besetzten Gebieten. Scharon habe sich, so Weisglass, im Herbst 2003 mit der Gefahr konfrontiert gesehen, in kurzer Zeit der Etablierung eines Palästinenserstaats zustimmen zu müssen.

Mit dem Segen des US-Präsidenten

Indem Scharon den Abzugsplan ins Spiel brachte, habe er die Initiative zurückgewonnen, die Sozialdemokraten auf seine Seite gebracht und zugleich das faktische Ende der im Frühjahr 2003 begonnenen »Roadmap«-Verhandlungen mit den Palästinensern erreicht. Weisglass sprach im Interview vom »Einfrieren des politischen Prozesses« und verglich den Vorgang mit der Konservierung von toten Tieren oder Körperteilen in Formaldehyd. »Die Bedeutung (des Abzugsplans) ist das Einfrieren des politischen Prozesses. Und wenn man diesen Prozeß einfriert, verhindert man das Entstehen eines Palästinenserstaates, verhindert man eine Diskussion über die Flüchtlinge, die Grenzen und Jerusalem. Im Ergebnis ist dieses ganze Paket, das man Palästinenserstaat nennt, mit allem, was dazu gehört, auf unbegrenzte Zeit von unserer Tagesordnung verschwunden. All das mit dem Segen des (amerikanischen) Präsidenten und beider Häuser des Kongresses.«

Die brutale Offenheit und der Zynismus der Weisglass-Äußerungen lösten nicht nur bei den Palästinensern, sondern auch in der israelischen Linken und bei Politikern der Arbeitspartei Empörung aus. Der sozialdemokratische Knesset-Abgeordnete Ephraim Sneh, ein führendes Mitglied seiner Partei und alles andere als eine »Taube«, konstatierte am 12. Oktober in Ha’aretz: »Das Ziel des Abzugsplans besteht darin, die israelische Kontrolle über den größten Teil der Westbank zu behalten und jeden inneren oder äußeren Druck für eine andere politische Lösung abzuwehren. Scharon versucht beharrlich, seine Vision zu verwirklichen: Israelische Kontrolle über die östlichen und westlichen Begrenzungen der Westbank, Aufrechterhaltung von Verkehrskorridoren (durch das besetzte Gebiet) in die Länge und in die Breite. Den Palästinensern sollen sieben Enklaven gelassen werden (...) Es wird kein Abkommen mit den Palästinensern geben, wenn 250 000 Israelis in 230 Siedlungen und Außenposten auf der Westbank leben. Solange nicht die Hälfte der Siedler in die Grenzen des Staates Israel zurückkehren und eine neue Landkarte gezeichnet wird, die Israel und den Palästinenserstaat trennt, wird der Krieg im Land nicht enden.«

Ariel Scharon reagierte auf das Weisglass-Interview mit dem evident unwahren Lippenbekenntnis, er bleibe dem amerikanischen »Friedensplan« und der »Vision des Präsidenten George W. Bush von einer Zwei-Staaten-Lösung« verpflichtet. US-Außenminister Colin Powell, der sich noch nie für eine Dummheit zu schade war, erklärte daraufhin sofort öffentlich, Scharons Wille, an der »Roadmap« festzuhalten, werde von der amerikanischen Regierung nicht angezweifelt. Auch die europäischen Regierungen taten so, als hätte niemand das Interview gelesen oder als wäre ihm keine Bedeutung beizumessen.

Dabei ist die Position von Dov Weisglass mit »außenpolitischer Berater Scharons« noch viel zu schwach beschrieben. Tatsächlich entspricht seine Funktion als »Bürochef« der des Sicherheitsberaters in den USA, also der von Condoleezza Rice, mit der Weisglass in ständiger Verbindung steht und die er »um den kleinen Finger wickeln kann«, wie Uri Avnery kürzlich formulierte. (junge Welt, 14.10.2004) Weisglass steht mit Scharon in enger Verbindung, seit er ihn 1983 als Rechtsanwalt wegen seiner Rolle beim Massaker in den libanesischen Palästinenserlagern Sabra und Schatila ein Jahr zuvor vertrat. Weisglass hat auch bei den dubiosen Finanzgeschäften Scharons, die die israelische Öffentlichkeit seit Monaten beschäftigen, eine zentrale Rolle gespielt. Weit mehr als Außenminister Silvan Schalom ist Weisglass für die Kontakte zwischen Scharon und der US-Regierung zuständig.

Tödlicher Schlag für Palästinenser

Scharon hat sich von den Äußerungen seines Beraters mit keinem Wort distanziert. Offensichtlich war die Grundlinie seines Ha’aretz-Interviews mit dem Regierungschef abgesprochen. Außerdem entspricht sie genau Scharons früheren Aussagen. Eine Woche bevor sich der Ministerpräsident Mitte April auf den Weg nach Washington machte, um sich von Bush die Belohnungen für seinen Abzugsplan schriftlich zusichern zu lassen, gab er anläßlich des jüdischen Pesach-Festes drei israelischen Tageszeitungen Interviews, in denen er unter anderem sagte: »Die Palästinenser verstehen, daß dieser Plan weitgehend das Ende ihrer Träume und einen sehr schweren Schlag für sie darstellt.« »Wenn man Gebiete und Gemeinden auf der Westbank einzäunt, beendet man eine Menge Träume.« In seinem Abzugsplan sei kein palästinensischer Staat vorgesehen, »und diese Situation kann noch viele Jahre weiter bestehen«. »Mein Plan ist hart für die Palästinenser. Ein tödlicher Schlag.« In diesen Interviews kündigte Scharon außerdem an, daß er sich an sein früher gegenüber Präsident Bush abgegebenes Versprechen, Arafats Gesundheit und Leben nicht anzutasten, nicht mehr gebunden fühle.

Trotz dieses öffentlichen Affronts unterschrieb Bush zehn Tage später alles, was Scharon verlangt hatte. In der schriftlichen Erklärung des US-Präsidenten heißt es: »Im Licht der neuen Realitäten, einschließlich der schon existierenden großen israelischen Bevölkerungszentren, ist es unrealistisch, eine vollständige Rückkehr zu den Waffenstillstandslinien von 1949 (also der Grenzen bis zum Junikrieg 1967) zu erwarten.« Jede endgültige Verhandlungslösung müsse »auf gegenseitig vereinbarten Veränderungen beruhen, die diesen Realitäten entsprechen«. Bushs Stellungnahme enthielt außerdem, wie Scharon es gefordert hatte, erstmals eine klare Absage an das palästinensische »Recht auf Rückkehr«: Flüchtlinge könnten im Gazastreifen und auf der Westbank angesiedelt werden, aber keinesfalls in Israel.

Aus dem Ablauf der Ereignisse ergibt sich eindeutig, daß die US-Regierung gegen die jetzt von Weisglass wiederholte Todeserklärung Scharons für die »Roadmap«-Verhandlungen und seine klare Absage an einen Palästinenserstaat in Wirklichkeit keine Einwände hat. Scharon hat, wie kein anderer Ministerpräsident vor ihm in der Geschichte der amerikanisch-israelischen Beziehungen, freie Hand und handelt in der begründeten Überzeugung, daß er sich nahezu alles erlauben kann, ohne amerikanische Kritik, geschweige denn praktische Konsequenzen, fürchten zu müssen. Seit amerikanisches Militär Kriegsverbrechen in Afghanistan und Irak begeht, ist offizielle Kritik an israelischen Besatzungspraktiken, die aus Washington früher immerhin noch gelegentlich zu vernehmen war, fast völlig verstummt. Seltene amerikanische Erklärungen, daß Israels Vorgehen »unverhältnismäßig« sei, wie kürzlich zu den Massakern im Gaza-Streifen, stoßen nur noch auf Hohn.

War die »Roadmap« überhaupt jemals mehr als ein Täuschungsmanöver der US-Regierung? Der schon im Dezember 2002, noch vor dem zweiten Irak-Krieg, zwischen den Partnern des sogenannten Quartetts – USA, EU, UNO und Rußland – in allen Einzelheiten vereinbarte »Friedensplan« wurde erst Ende April 2003 offiziell veröffentlicht, obwohl die Inhalte vorher schon weitgehend bekannt waren. Grund für die lange Verzögerung war, daß die US-Regierung – anscheinend im Einverständnis mit den anderen Partnern des Quartetts – darauf bestand, es müsse als Vorbedingung für die Veröffentlichung der »Roadmap« zunächst eine ihr genehme neue palästinensische Regierung ernannt werden, die von Arafat unabhängig sein müsse. Nachdem schließlich Mahmud Abbas als Ministerpräsident feststand, wurde der nächste Streit um die Zusammensetzung seiner Regierung geführt. Washington bestand darauf, in den »sicherheitsrelevanten« Bereichen Leute zu plazieren, die das Vertrauen der USA und Israels haben sollten, wie den früheren Sicherheitschef im Gaza-Streifen, Mohammed Dahlan, der unter Abbas bis zu dessen Rücktritt im September 2003 Sicherheitsminister wurde.

EU: Draußen vor der Tür

Die Monate zwischen der grundsätzlichen Einigung des Quartetts auf den »Friedensplan« und der Veröffentlichung der »Roadmap« benutzte die israelische Regierung, um mit kräftiger Unterstützung der amerikanischen Pro-Israel-Lobby und der Mehrheit in beiden Häusern des US-Kongresses entscheidende Änderungen am ursprünglichen Plan durchzusetzen. Es war, natürlich, Dov Weisglass, der im April mehrmals nach Washington kam, um im Auftrag Scharons insgesamt 15 »Ergänzungen« durchzusetzen, die ihm tatsächlich bewilligt wurden.

Dazu gehörte eine Aufweichung der Forderung, daß Israel seine Gewaltaktionen gegen die Palästinenser einstellen müsse, und die Anerkennung des israelischen Anspruchs, den Luftraum und die Grenzübergänge eines künftigen palästinensischen Staates zu kontrollieren. Die US-Regierung schloß sich auch der israelischen Interpretation an, daß Verhandlungen über alle weiteren Punkte der »Roadmap« erst nach Auflösung sämtlicher palästinensischer »Terrororganisationen« geführt werden sollten. Washington akzeptierte zwar nicht explizit, aber faktisch auch die Position Scharons, die anderen Partner des Quartetts von den Verhandlungen auszuschließen, da sie »voreingenommen« seien und nicht das Vertrauen Israels hätten. Die einzige Rolle, die ihnen zugestanden wurde, bestand darin, Druck auf die palästinensische Seite auszuüben.

Der »Friedensplan« war unter diesen Bedingungen vom ersten Moment an tot. Um die israelische Forderung nach Auflösung der »Terrororganisationen« zu erfüllen, hätte die Regierung von Mahmud Abbas, die keine Basis in der palästinensischen Bevölkerung besaß, sondern ihren Kredit ausschließlich aus der Unterstützung durch den in Ramallah isolierten Arafat bezog, einen Bürgerkrieg beginnen müssen. Dazu fehlten ihr jedoch nicht nur die Bereitschaft, sondern auch die Mittel. Das palästinensische Gegenangebot eines freiwilligen Waffenstillstands, zu dem sich alle Organisationen verpflichtet hatten, ließ Scharon durch eine Steigerung des gezielten Mordterrors platzen.

Rätsel gibt das Verhalten der Quartett-Partner EU, Rußland und UNO auf: Sie ließen sich widerstandslos aus dem von ihnen angestrebten »Friedensprozeß« abdrängen und verzichteten auf jede selbständige Rolle. Eine kürzlich bekanntgewordene Studie des israelischen Außenministerium warnt dennoch vor der Gefahr, daß Israel in eine ähnliche Isolation geraten könnte wie vor Jahren das südafrikanische Rassistenregime. Die Europäer könnten, heißt es dort, sogar zu Sanktionen greifen und beispielsweise Israels Freihandelsabkommen mit der EU suspendieren. Eine völlig unbegründete, wahrscheinlich bewußt aufgebauschte Befürchtung: Der französische Außenminister Michel Barnier versicherte bei seinem Israel-Besuch am Montag [18.10.2004], daß sich die EU zwar eine »größere Rolle im Friedensprozeß« wünschen würde, aber daß Sanktionen auf gar keinen Fall zur Debatte stehen. »Das wollte ich nur wissen«, wird sich Scharon gedacht und beim Rest von Barniers Ausführungen weggehört haben.

* Den Beitrag haben wir der Tageszeitung "junge Welt entnommen; erschienen am 21. Oktober 2004


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