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Nahöstliches Sparta

60 Jahre Israel sind auch 60 Jahre Krieg

Von Gideon Spiro *

60 Jahre Israel sind auch 60 Jahre Krieg. Das Militär nimmt in der israelischen Gesellschaft eine zentrale Rolle ein, wie es sie in keiner anderen Gesellschaft der demokratischen Welt innehat. Der Übergang von den Spitzen der israelischen Armee zu Schlüsselpositionen von Politik und Wirtschaft ist ein wesentlicher Teil der israelischen Wirklichkeit. Es gibt so gut wie keine Regierung in Israel ohne Generäle. Drei Generäle wurden Ministerpräsidenten, zwei israelische Staatspräsidenten waren Generäle. Heute sind vier Generäle und ein ehemaliger Geheimdienstchef Mitglieder der Regierung. Viele haben ihren führenden Platz woanders gefunden. Ehemalige Militärrichter wurden Richter im zivilen Rechtssystem, andere Oberbürgermeister und nicht wenige bekamen hohe Posten in der Wirtschaft.

Die israelische Gesellschaft ist durch und durch militarisiert und brachte eine der modernsten Waffenindustrien der Welt hervor. Israel ist heute der fünftgrößte Waffenexporteur auf der Welt, es exportiert jährlich Waffen im Wert von mehr als fünf Milliarden Dollar. Es gibt heute kaum einen bewaffneten Konflikt zwischen Staaten und kaum einen Bürgerkrieg, in dem nicht israelische Waffen zu finden sind. Israel exportierte und exportiert Waffen an einige der finstersten Regimes in der Welt. Auch hier: Viele der Waffenhändler sind ehemalige Generäle.

Die meisten Kriege Israels seit der Staatsgründung waren das Ergebnis israelischer Initiative. Der staatlichen Propaganda und den sie unterstützenden Medien gelang es dabei immer, den Eindruck zu erzeugen, dass es »keine andere Möglichkeit zur Verteidigung der Heimat« gibt. Kritisches und unabhängiges Denken wurde dadurch lahmgelegt.

Der erste Krieg begann mit der Staatsgründung 1948. Er verursachte das Problem der palästinensischen Flüchtlinge. Damals wurden rund 700 000 Palästinenser vertrieben oder flüchteten vor dem Krieg und dem neuen Staat. Sie und ihre Nachgeborenen werden heute auf vier bis fünf Millionen geschätzt. Am Ende dieses Krieges verdoppelte Israel sein im UN-Teilungsplan von 1947 beschriebenes Territorium.

Der zweite Krieg war der Sinai-Krieg 1956. Israel verbündete sich mit den kolonialen Mächten England und Frankreich mit dem Ziel, die ägyptische Nationalisierung des Suezkanals zu annullieren. In diesem Krieg diente ich als wehrpflichtiger Soldat. Niemand hat uns die Wahrheit gesagt, dass die israelische Regierung mich und meine Kameraden »spendete«, um den kolonialen Interessen von England und Frankreich zu dienen.

Der dritte Krieg war der Junikrieg 1967, mit dem Israel einem Krieg seiner arabischen Nachbarstaaten zuvorkommen wollte. Heute ist aufgrund vieler Dokumente bekannt, dass die Gefahr der Vernichtung Israels, die die staatliche Propaganda behauptete, nicht bestand. Dieser Krieg war das größte Unglück, das Israel selbst widerfuhr: Er ließ Israel seit 40 Jahren zu einer kolonialen Macht werden, die unter Verletzung des internationalen Rechts eine viertel Million Juden in den eroberten Gebiete ansiedelte und dort ein Apartheid- und Besatzungsregime über Millionen von Palästinensern errichtete, von denen viele ihres Landes beraubt wurden. Die Besatzung produzierte eine palästinensiche Widerstandsbewegung, die sich abwechselnd zwischen gewaltlosem Ungehorsam und gewaltsamem und grausamem Kampf bewegte. Die Besatzung bedeutet einen fortwährenden Krieg mit Feuerpausen, dessen Ende wir nicht sehen.

Der vierte Krieg war ein Zermürbungskrieg zwischen Israel und Ägypten in den Jahren 1968 bis 1970. Er fand an den Ufern des Suezkanals statt, führte zur Zerstörung der Kanalstädte und zu vielen Gefallenen in den Reihen der israelischen Besatzungsarmee. Er endete mit einem Waffenstillstand.

Der fünfte Krieg war der Jom-Kippur-Krieg 1973, bei dem Israel tatsächlich der angegriffene Staat war. Er brach aus, nachdem Israel 1972 den Vorschlag Anwar al-Sadats ablehnte: Der ägyptische Präsident wollte eine vollständige Rückgabe aller eroberten Gebiete und bot dafür einen Friedensvertrag an. Die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir und ihr Verteidigungsminister Moshe Dayan gingen bei ihrer Ablehnung davon aus, dass Ägypten keine militärische Option hat. Der Angriff der ägyptischen Armee im Sinai und der syrischen in den Golanhöhen am höchsten jüdischen Feiertag bewies jedoch, dass Israel nicht unverletzlich ist. Israel »zahlte«, obwohl die Angreifer ihre militärischen Ziele nicht erreichten, mit Tausenden von Toten und dachte über den Einsatz von Atomwaffen nach. Das Ergebnis des Krieges war schließlich ein Rückzug Israels aus dem ganzen Sinai und der israelisch-ägyptische Frieden, den Israel auch ohne Krieg hätte haben können.

Der sechste Krieg war der erste Libanonkrieg 1982, den die Regierung Begin/Scharon initiierte. Der große Plan Scharons war, die palästinensichen Flüchtlinge nach Jordanien zu vertreiben und im Libanon eine Marionettenregierung einzusetzen. Die Pläne scheiterten. Israel beging viele Kriegsverbrechen in Libanon, einschließlich der Bombardierung der Zivilbevölkerung, von Krankenhäusern und Schulen. Sie trug die Verantwortung für das Massaker an Hunderten von Flüchtlingen in Sabra und Schatilla, das christliche Falangisten unter dem Schutz der israelischen Invasionsarmee verübten. Das Verbleiben in Libanon dauerte 18 Jahre bis zum Sommer 2000. Mit Beginn der israelischen Invasionspläne entstand die islamistische libanesische Hisbollah, die der israelischen Armee erhebliche Verluste beibrachte und den Widerstand gegen diesen Krieg in den besetzten Gebieten und in Israel selbst anfachte. Für mich bedeutete der Beginn des Libanon-Feldzugs den endgültigen Bruch mit der Armee.

Der siebte Krieg war der zweite Libanonkrieg 2006, mit dem die Olmert-Regierung auf die Entführung von zwei israelischen Soldaten durch die Hisbollah reagierte. Aber der Krieg war militärisch stümperhaft vorbereitet, die israelische Armee erlitt große Verluste, konnte die israelische Bevölkerung nahe der libanesischen Grenze nicht schützen und die anfängliche Unterstützung in den Hauptmedien bröckelte. Schließlich mussten der Oberbefehlshaber und der Verteidigungsminister zurücktreten und die israelische Armee ihren Angriff einstellen. Der zurückgetretene Oberbefehlshaber wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann und sein Nachfolger war jemand, in dessen Vergangenheit mehrere Misserfolge verzeichnet waren, die die Zeit vergessen ließ. Der neue Verteidigungsminister Ehud Barak war zuvor bereits Ministerpräsident und Oberbefehlshaber und genießt ebenfalls das kollektive Vergessen seiner politischen und militärischen Misserfolge.

In meinem Land hörte und hört man jeden Tag Kriegsstimmen. Die neuen sind, ob es einen Krieg mit Syrien oder einen Atomkrieg mit Iran geben wird. Israel ist bis zum Hals mit den besten konventionellen und nichtkonventionellen Waffen gerüstet, es ist bislang die einzige existierende Atommacht in der Region. Ihr Einsatz würde nicht nur den Nahen Osten gefährden. Dass es nicht zu weiteren, noch gefährlicheren Kriegen kommt, daran muss weit über Israel und seine Nachbarn hinaus die Welt ein Interesse haben. Israel braucht Kritik, damit seine Bürger und seine Nachbarn friedlich miteinander leben können.

Übersetzung aus dem Hebräischen: Moshe Speier

* Gideon Spiro (72) wurde in Berlin geboren und emigrierte 1939 nach Palästina. Nach seinem Bruch mit der israelischen Armee 1982 wurde er Mitbegründer der Organisation »Yesh Gvul« (Es gibt eine Grenze) und des Israelischen Komitees für einen atomwaffenfreien Nahen Osten.

* Aus: Neues Deutschland, 10. Mai 2008


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