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Israels verborgene Frage

Der Zusammenstoß der jüdischen und arabischen Nationalbewegung wurde zum Geburtsunglück bei der Entkolonialisierung Palästinas

Von Jürgen Reents *

Seit dem 16. Jahrhundert wanderten Europäer in den nordamerikanischen Kontinent ein. Sie nahmen sich Land, das unbewohnt war, und sie nahmen sich Land, das bewohnt war. Es steht außer Frage, dass die europäische Besiedlung Nordamerikas mit massivem und gewaltsamem Unrecht gegen die indigene Bevölkerung einherging. Und es steht ebenso außer Frage, dass sich viele Einheimische gegen die Landnahme gewaltsam wehrten. Sie unterlagen. Heute wird kein vernünftiger Mensch mehr vertreten, die Einwanderer müssten das Land wieder freigeben, das längst ihr Land geworden ist. Aber er dürfte vertreten, dass Unrecht und Gewalt bei Landnahme und Gründung des neuen Staates USA nicht geleugnet werden und es zuallererst den neuen Staatsherren oblag und obliegt, die Bedingungen für eine nachholende Gerechtigkeit gegenüber den Besiegten zu schaffen.

Die Gründe und Begleitumstände, die Menschengruppen und ganze Völker veranlassten, zu Wanderungen aufzubrechen und sich ein neues Siedlungsgebiet zu suchen, in dem sie besser leben und sich ein selbstbestimmtes Gemeinwesen aufbauen konnten, sind historisch sehr unterschiedlich. Ab einem bestimmten Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte jedoch trafen sie auf andere Menschen, die in dem betreffenden Gebiet bereits lebten. Und ab diesem Zeitpunkt konnte es keine kollektive Besiedlung mehr geben, die nicht mit Unrecht verknüpft war, selbst wenn sie nicht als kriegerische Eroberung verlief, sondern nur die zuvor dort Lebenden »übersehen« hatte.

Die jüdische Einwanderung nach Palästina, die Alija, und die Gründung des Staates Israel fanden in bewohntem Land statt. 1881, zu Beginn der jüdischen Einwanderung, lebten knapp 460 000 Menschen in Palästina. 400 000 waren Muslime, rund 20 000 Juden und etwas über 40 000 Christen. Beim Zensus 1922 war die Zahl der Muslime auf 590 000, die der Juden auf knapp 85 000 und die der Chrsiten auf 73 000 angewachsen. Das von der zionistischen Bewegung proklamierte Recht des jüdischen Volkes, nach fast 2000 Jahren der Diaspora in seine einstige Heimat zurückzukehren, konkurrierte so mit dem Recht der arabisch-palästinensischen Bevölkerung, ihre Heimat zu behalten. Die Weltkarte hatte sich in diesen 2000 Jahren verändert, auch im östlichen Mittelmeerraum. Jedoch blickt kein anderes Volk so wie das jüdische auf eine vergleichbare jahrhundertelange Verfolgung und Vertreibung zurück, gipfelnd im Massenmord durch das Nazi-Regime. Und kein anderes Volk konnte nach dem Zweiten Weltkrieg daher so sehr für sich ein weltweites Verständnis in Anspruch nehmen, endlich in eigener Sicherheit leben zu dürfen.

Antisemitismus war eine europäische Tat

Die Geschichte der antijüdischen Pogrome ist indes keine vorwiegend nahöstliche, und ihre Urheber und Täter entstammen nicht vorwiegend der arabischen oder islamischen Kultur, sondern der christlich-europäischen. Hätte es je – insbesondere nach 1945 – eine »ideale« historische Gerechtigkeit geben können, dann hätte Deutschland einen ausreichend großen Teil seines Territoriums der jüdischen Diaspora zur Gründung eines eigenen Staates abtreten müssen. Zweifellos, dies wäre eine realitätsferne Gerechtigkeit: Die Sehnsüchte der jüdischen Geschichte, die älter als der Holocaust sind, verwiesen nun mal nicht auf Ostfriesland, Thüringen-Sachsen oder Westfalen, sie verwiesen auf Palästina. Und die Frage, ob es den Juden zuzumuten gewesen wäre, ihren Staat ausgerechnet auf dem blutbefleckten Boden der grausamsten an ihnen begangenen Verbrechen zu errichten, konnte so übergangen werden. Die Täter mussten kein Land hergeben.

Freilich hatte das Hitler-Regime auch unter arabischen Notabeln antijüdische Verbündete gefunden, wie andernorts, wo es Länder eroberte und mit seiner Rassenideologie vergiftete. Einer der eifrigsten palästinensischen Gefolgsleute der Nazis wurde Amin al-Husseini, Mufti von Jerusalem und »Präsident des obersten islamischen Rates«. Er verfasste Aufrufe »Tötet alle Juden!« Der Antisemitismus war dennoch in erster Linie eine deutsche Tat und in zweiter eine des Christentums und Europas. Die Araber in Palästina trugen bei Gründung Israels weder die größte noch die älteste Schuld gegenüber den Juden.

Auch nicht mit weitem Rückblick: Der Niederriss des Tempels in Jerusalem im Jahre 70 u. Z., das Gemetzel an rund einer halben Million Juden, die Zerstörung ihrer Städte und Dörfer und die Vertreibung der Überlebenden nach der letzten Erhebung der Juden gegen die Besatzer ihrer Heimat, dem Bar-Kochba-Aufstand im Jahr 135, waren das Werk eines europäischen Imperiums, des römischen. Rom unterwarf seine Kolonien mit dem Schwert, Byzanz erbte und christianisierte sie. Als muslimische Araber Jerusalem im 7. Jahrhundert eroberten, gab es keinen jüdischen Staat mehr. Der Islam eroberte Palästina vom christlich-byzantinischen Reich und übte dort – wie auch während seiner späteren Herrschaft auf der iberischen Halbinsel – über lange Jahrhunderte religiöse Toleranz gegenüber Christen und Juden. Erst (und wiederum) das »christliche Abendland« befehdete und zerstörte diese Toleranz mit seinen Kreuzzügen.

Erbstreit bei der Entkolonialisierung

Als die jüdische Nationalbewegung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Einwanderung nach Palästina begann, zog sie eine Schlussfolgerung aus dem europäischen Antisemitismus – und traf in Palästina auf eine bereits in Agonie liegende, vom Deutschen Reich gestützte osmanische (türkisch-muslimische) Herrschaft und ihren altbekannten Gegner: eine christlich-europäische Macht in Gestalt der britischen Mandatsherrschaft. Und sie fand einen Konkurrenten vor Ort: die arabische Nationalbewegung, die sich von der osmanischen Herrschaft emanzipierte und ihre Rechte gegen die neuen britischen Herren zu erstreiten versuchte.

Es ist das Geburtsunglück beider Nationalbewegungen, dass sie bei der Entkolonialisierung im Nahen Osten zusammenstießen. In beiden Bewegungen gab es – leider wenige – Repräsentanten, die dies auch als Unglück voraussahen und für ein Bündnis warben. Jizchak Epstein, ein früher Mitstreiter der zionistischen Bewegung, hatte kurz nach dem Tod Theodor Herzls erklärt, die »arabische Frage« sei das wichtigste Problem, vor dem der Zionismus steht, sie sei aber die »verborgene Frage«. Er plädierte für ein Bündnis mit den Arabern, wie später explizit auch die Mitglieder von Brit Shalom. Diese 1925 gegründete, nur wenige Jahre aktive zionistische Gruppierung wandte sich gegen einen jüdischen Nationalstaat und warb für einen säkularen, demokratischen und bi-nationalen Staat in Palästina. In ihm sollten Juden und Araber gleiche Rechte haben, ihre inneren Angelegenheiten aber autonom regeln. Zu den Förderern dieses Gedankens gehörten Martin Buber, Hannah Arendt und Albert Einstein.

Buber z. B. warnte 1929 in einer Rede: »Wir haben in Palästina nicht mit den Arabern, sondern neben ihnen gelebt. Das Nebeneinander zweier Völker auf dem gleichen Territorium muss aber, wenn es sich nicht zum Miteinander entfaltet, zum Gegeneinander ausarten. So droht es auch hier zu geschehen. Zum bloßen ›Neben‹ führt kein Pfad zurück. Aber zum ›Mit‹ kann, so groß sich auch die Hindernisse aufgetürmt haben, immer noch vorgedrungen werden.« 1947 schrieb er: »Wir beschreiben unser Programm als das eines bi-nationalen Staates. Wir wollen eine gesellschaftliche Struktur, die auf der Realität von zwei miteinander lebenden Völkern gründet ... Das ist es, was wir brauchen, und nicht einen ›Jüdischen Staat‹; denn jeder nationale Staat in einer weiten, feindlichen Umgebung bedeutet einen vorhersehbaren nationalen Selbstmord.« 1948 akzeptierte der Religionsphilosoph jedoch die israelische Staatsgründung und nahm Abstand von der Idee eines gemeinsamen Staates.

Andere hatten die Idee bereits früher wieder aufgegeben. Ausschlaggebend dabei waren neben den Erfahrungen des Holocaust auch feindliche Reaktionen von arabischer Seite. Bereits in den 20er und 30er Jahren hatte es brutale Übergriffe auf jüdische Siedler gegeben, vor allem in Hebron. Die arabischen Nationalisten lehnten die Gründung Israels vehement ab und machten auch keine Anstalten, einen palästinensischen Staat gemäß dem UN-Teilungsplan zuzulassen. Jedoch versagte auch die UNO, ihren eigenen Beschluss zu realisieren. Wären 1948 beide Staaten errichtet worden, hätte dies ein Ausgangspunkt für eine völlig andere Entwicklung sein können. Auch der Gedanke einer späteren Konföderation wäre nicht vom Tisch gewesen.

Ringen um Dominanz statt Zusammenleben

Aber die Unterstützer der bi-nationalen Idee wie auch generell eines friedlichen und gleichberechtigten Zusammenlebens beider Völker waren nach Ende des Zweiten Weltkrieges auf arabischer Seite mindestens ebenso schwach wie auf der jüdischen. 1947 fürchtete die arabische Nationalbewegung, eine Minderheit in einem gemeinsamen Staat zu repräsentieren. Nach dem Junikrieg 1967 verbreitete sich der Verdacht, es sei ein israelischer Plan, einen formell gemeinsamen, doch faktisch jüdisch dominierten Staat zu erzwingen. Als Beleg dafür wurden die Annektionspläne von Westjordan und Gaza insbesondere unter der Regierung von Menachem Begin gesehen. Dessen Generaldirektor im Kabinett, Eliahu Ben-Elissar, teilte im November 1979 über die »Washington Post« mit, dass die Israelis mit den Palästinensern »leben könnten und sie mit uns. Ich würde es vorziehen, wenn sie israelische Staatsbürger werden, ich habe keine Angst vor einem bi-nationalen Staat. In jedem Fall wird es ein jüdischer Staat mit einer großen arabischen Minderheit sein.«

Diese Haltung trug jedoch nicht lange. Anfang der 1980er Jahre wurden demographische Studien bekannt, denen zufolge etwa im Jahr 2010 mehr arabische Palästinenser in Israel, Westbank und Gaza leben werden als jüdische Israelis, selbst ohne eine Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge, die nach Jordanien, Libanon oder in andere Nachbarländer emigriert waren. Seitdem wurde in der israelischen Regierung nach einem Ausweg gesucht, einen Teil der besetzten Gebiete durch konzentrierte Besiedlung dauerhaft an Israel zu binden und sich aus dem Rest zurückzuziehen. Im Kern waren sich alle israelischen Regierungen, ob unter sozialdemokratischer oder konservativer Führung, einig, dass das Prinzip der jüdischen Besiedlung zumindest eines Teils der besetzten Gebiete aufrechterhalten und die Souveränität eines möglichen palästinensischen Teilstaates eingeschränkt und letztlich durch Israel kontrolliert bleiben müsse.

Auf palästinenischer Seite hat die Idee eines gemeinsamen Staates nun – wegen der demografischen »Dominanz« – wieder an Attraktivität gewonnen. Die »schöne und noble Idee« – so sagt es der israelische Friedensaktivist und frühere Knesset-Abgeordnete Uri Avnery – wird von einigen palästinenischen Führern als »Kodewort für die Eliminierung des Staates Israel« benutzt. Avnery hält dies für eine gefährliche »Flucht aus der Wirklichkeit« und verweist auf das Scheitern multiethnischer Staaten am Beispiel der Sowjetunion, Jugoslawiens und Libanons. Er appelliert weiter für zwei Staaten, denen ein »natürlicher Prozess zu einer organischen Verbindung« folgen könne. Es habe »keinen Zweck, von der israelischen Öffentlichkeit zu erwarten, dass sie um 50 Jahre ihrer Zeit voraus ist«.

In letzter Zeit ist die Entwicklung allerdings weniger vorangeschritten als zurückgeworfen worden: Das israelisch-palästinensische Verhältnis befindet sich heute trotz begrenzter Autonomie eher auf einem Niveau wie vor zwei Jahrzehnten, als auch Yasser Arafat noch als Terrorist galt, mit dem es nie einen Dialog geben dürfe. Heute lehnt Israel diesen mit der Hamas ab, die zu ihrem Einfluss erst kommen konnte, weil Arafat mit leeren Händen blieb und ein eigener palästinenischer Staat im gesamten Westjordan und Gaza fünfzehn Jahre nach dem in Oslo begonnenen Friedensprozess in immer weitere Ferne gerückt ist. Die »verborgene Frage« wird sich auf Dauer jedoch nicht im »Dialog« der Waffen und Attentate lösen lassen. Das jüdische Online-Magazin haGalil schreibt in seinem Editorial: »Wirklich produktiv kann man über Frieden nur mit seinen Feinden sprechen. Dass man Sie nicht liebt, kann einem niemand zum Vorwurf machen, wohl aber, dass man nicht mit ihnen spricht.«

* Jürgen Reents ist Chefredakteur des "Neuen Deutschland" und besuchte Israel und das Westjordanland erstmals 1984 im Rahmen einer Nahost-Reise einer Bundestagsdelegation der Grünen.

Aus: Neues Deutschland, 10. Mai 2008



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