Tel Aviv schürt den Konflikt
Jahresrückblick 2009. Heute: Israel/Palästina. Unter Obamas Präsidentschaft hat sich im Nahen Osten nichts zum Besseren entwickelt
Von Werner Pirker *
Als würde es sich um einen Silvesterveranstaltung handeln, nannte die
israelische Armee ihren dreiwöchigen Krieg gegen die Bevölkerung des
Gaza-Streifens »Operation gegossenes Blei«. Dem blutigen Brauchtum
fielen in der Zeit zwischen dem 27. Dezember 2008 und dem 17. Januar
2009 nach Angaben der palästinensischen Menschenrechtsorganisation PCHR
1434 Palästinenser zum Opfer, darunter 960 Zivilisten. Weitere 5303
Gaza-Bewohner wurden verletzt. Über 20000 private und öffentliche Häuser
sind zerstört worden.
Es war ein Krieg, in dem den israelischen Soldaten definitiv befohlen
worden war, keinen Unterschied zwischen Kombattanten und Zivilisten zu
machen. Auf dem am dichtesten besiedelten nichtstädtischen Gebiet der
Welt hatten die Invasoren nach den Anordnungen des Generalstabs ein
Verhalten an den Tag zu legen, als würden sie gegen eine feindliche
Armee antreten. Damit waren in die militärische Planung Kriegsverbrechen
großen Ausmaßes bereits einkalkuliert. Auf einem Veteranentreffen an der
Militärakademie »Yitzhak Rabin« ist dies auch offen zur Sprache
gekommen: die gezielte Tötung Unschuldiger, darunter Mütter mit ihren
Kindern, die mutwillige Zerstörung des Eigentums palästinensischer
Familien und die rassistische Ideologie, die zur Rechtfertigung der
Kriegsverbrechen herangezogen wurde. Seine Soldaten hätten das Leben der
Palästinenser als »etwas sehr, sehr Unbedeutendes« empfunden, berichtete
ein Truppführer. Die von der Militärführung verbreitete Behauptung, daß
sich die Terroristen unter die Bevölkerung gemischt hätten, sofern nicht
alle Bewohner, die geblieben seien, Terroristen wären, ist umso
zynischer als die Israelis den Gazastreifen abgeriegelt und damit der
Zivilbevölkerung alle Fluchtwege versperrt hatten.
Israels offizielles Kriegsziel lag in der Beendigung des von Gaza
ausgehenden Beschusses israelischen Territoriums mit Raketen und
Granaten. Der wirkliche Grund des Überfalls aber ergab sich aus der
Absicht, die islamische Widerstandsbewegung Hamas zu vernichten. Israel
und der Westen haben die von der palästinensischen Bevölkerung 2006
getroffene Wahl, welche die Hamas an die Regierungsmacht brachte, nie
akzeptiert. Mit ihrer Embargopolitik gegenüber den Autonomiegebieten
versuchte die »Wertegemeinschaft«, einen Regimewechsel in Ramallah zu
erzwingen - der gewählten Hamas-Regierung folgte eine »Regierung der
nationalen Einheit«, die von Präsident Mahmud Abbas putschartig durch
eine Regierung seiner Wahl ersetzt wurde. Ihre Entmachtung im
Westjordanland beantwortete die Hamas mit der Übernahme der ganzen Macht
auf Gaza. Israel reagierte darauf mit der kompletten Abriegelung der
Grenzübergänge, was auf die ökonomische Strangulierung des Landstreifens
hinauslief.
Dies geschah unter Mißachtung bestehender Verträge, wie dem 2005
unterzeichneten Access and Movement Agreement zur Verbesserung der
Bewegungsfreiheit, das von Israel nie umgesetzt wurde. Das 2008 unter
ägyptischer Vermittlung unterzeichnete Waffenstillstandsabkommen, das
die Hamas zur Einstellung des Raketenbeschusses und Israel zur
Beendigung der Blockade verpflichtete, wurde nur von den
palästinensischen Seite eingehalten. Erst nach Ablauf der sechsmonatigen
Waffenruhe nahmen die Palästinenser den Beschuß israelischen
Territoriums wieder auf. Sieben Tage später begann Israel mit seiner
»Militäroffensive«.
Der Gaza-Krieg hat dem Sieg der extremen Rechten bei den
Parlamentswahlen im Februar 2009 den Boden bereitet. Zwar konnte Kadima,
die von der früheren Außenministerin Zipi Livni geführte
Likud-Abspaltung, einen Sitz mehr als der Likud-Block unter Benjamin
Netanjahu erringen, doch zusammen mit der »Russenpartei« Unser Haus
Israel und der nationalreligiösen Schas erhielten die Hardcore-Zionisten
65 von 120 Parlamentssitzen.
Was sich als eine Art Minimalkonsens der Staatengemeinschaft
herausgebildet hatte, das Eintreten für eine Zweistaatenlösung, ist von
der neuen israelischen Regierung offen zur Disposition gestellt worden.
Premier Benjamin Netanjahu wollte den zu schaffenden palästinensischen
Staat plötzlich nur noch als erweiterte Autonomie, im günstigsten Fall
als Staat ohne Souveränitätsrechte definiert wissen. Den Palästinensern
war nunmehr nicht nur die Anerkennung des Staates Israels abverlangt,
sie sollten ihn auch noch als »Staat des jüdischen Volkes« und damit die
historische Legitimität des Zionismus anerkennen. Das ist auch die
Lesart der USA und der EU. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel hat das
zionistische Projekt sogar zum Teil der deutschen Staatsräson erklärt.
Nach der Bildung der Regierung Netanjahu/Lieberman hatte es zeitweise
den Eindruck, als würden die USA und vor allem die EU ein wenig auf
Distanz zu ihrem Nahost-Schützling gehen. Die Kritik, die vor allem
rassistische Äußerungen des neuen israelischen Außenministers Avigdor
Lieberman auslösten, blieb indes ohne Konsequenzen. Dabei wäre Israel
sehr leicht auf die vom Westen gewünschte Linie zu bringen. Doch
wirtschaftliche Sanktionen, wie sie die Palästinenser nun schon seit
Jahren erdulden müssen, werden gegenüber Israel schon im Ansatz als
politisch unkorrekt verworfen.
US-Präsident Barack Obama hat in seiner Kairoer Rede vom 4. Juni
wortgewaltig Veränderungen in der amerikanischen Nahost-Politik im Sinne
einer stärkeren Rücksichtnahme auf die arabische Welt angekündigt. Doch
schon bei seinen ersten Gehversuchen in der Region ist er blamabel
gestrauchelt. Seine an Israel gerichtete Forderung, als Vorleistung zu
Friedensverhandlungen den Bau jüdischer Siedlungen im Westjordanland
einzustellen, ist von Tel Aviv kaltschnäuzig abgelehnt worden. Das
natürliche Wachstum der Siedlungen dürfe nicht behindert werden, hieß
es. Was bereits begonnen worden sei, müsse fertiggestellt werden.
Ostjerusalem müsse in jedem Fall von einem Baustopp ausgenommen worden.
Dauerredner Obama fehlten mit einem Mal die Worte. Umso erfreuter zeigte
sich US-Außenministerin Hillary Clinton über die Bereitschaft
Netanjahus, den Siedlungsbau in künftige Verhandlungen einzubeziehen.
Eine völkerrechtswidrige Politik, und nichts anderes ist der Transfer
von Teilen der israelischen Bevölkerung auf rechtswidrig besetztes
Territorium, dürfte eigentlich kein Verhandlungsgegenstand sein. Nur
ihre Einstellung kann einen Friedensprozeß einleiten. Israel folgt einer
anderen Logik. Für den jüdischen Staat sind Verhandlungen die
Fortsetzung des Völkerrechtsbruchs mit anderen Mitteln. Und keine Kraft
der Welt versucht, Israel auf die Einhaltung minimaler Regeln im
zwischenstaatlichen Verkehr zu verpflichten. Obama holte sich bereits
eine Abfuhr, als er die Israelis zu einer vertrauensbildenden Maßnahme
bewegen wollte.
Das bedeutet natürlich nicht, daß Israel die USA an seine Kandare
genommen hätte. Das bedeutet vielmehr, daß die aggressive Tendenz in der
US-Außenpolitik mit Obamas Präsidentschaft keineswegs entscheidend
geschwächt wurde. In Netanjahu hat sie ihren Vorkämpfer gefunden.
* Aus: junge Welt, 30. Dezember 2009
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