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Island nach dem Crash

Analyse. Wie der Inselstaat mit den Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise umgeht– und was daraus zu lernen ist

Von Andreas Wehr *

Kaum ein anderes Land traf die internationale Finanzkrise so hart wie Island. Anfang Oktober 2008 stürzte das Bankensystem dort in sich zusammen. In nur wenigen Tagen veränderte sich alles. Private Ersparnisse lösten sich in Luft auf, Arbeitslosigkeit breitete sich aus, Dinge des täglichen Lebens wurden unbezahlbar, soziale Leistungen gestrichen. Die Verluste der isländischen Börse waren größer als die des amerikanischen Dow Jones während der Großen Depression Ende der 20er Jahre. Zwischen 2007 und 2010 fiel die private Nachfrage um ein Viertel. Die isländische Krone büßte seit Juli 2007 gegenüber dem Euro die Hälfte ihres Werts ein. 2008 lag das Haushaltsdefizit bei 13,5 Prozent und war damit höher als das Griechenlands im selben Jahr. Die Gesamtverschuldung stieg, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP), auf 130 Prozent und lag damit über der Italiens. Mehr als 8000 Isländer verließen ihr Land, das nur knapp 320000 Einwohner zählt.

In jenen Tagen des Oktober 2008 gingen 85 Prozent des Bankensystems bankrott. Die Konkurse der Kaupthing Bank, von Landsbanki und der Glitnir Bank gehören bis heute zu den zehn größten jemals stattgefundenen Bankpleiten der Welt. Sie waren das Ergebnis einer bespiellosen Rally des isländischen Finanzkapitals. Die sich selbst so bezeichnenden »Business Vikings« Islands hatten die erst 2002 privatisierten Banken benutzt, um mit ihnen das ganz große Rad zu drehen. 2008 erreichte das Volumen des Banksektors das Zehnfache der Wirtschaftsleistung Islands. Mit Hilfe gigantischer Kredithebel gingen die »Vikings« auf Einkaufstour. In nur wenigen Monaten erwarben sie in Skandinavien, in den USA und in Großbritannien zahlreiche Unternehmen. Ermöglicht wurde das alles durch eine Deregulierung des isländischen Finanzsektors, die international ihresgleichen sucht.

Keine »Bankenrettung«

Im Unterschied zu anderen europäischen Krisenländern wie Griechenland, Irland und Portugal ging Island die Bewältigung der Krise anders an. Als die Party wenige Tage nach der Lehman-Pleite abrupt zu Ende ging, versuchte die Regierung erst gar nicht, die Banken zu »retten«. Man tat vielmehr das einzig Richtige und ließ die Kaupthing Bank, Landsbanki und die Glitnir Bank pleite gehen. Das ist die erste Lektion, die man von Island lernen kann. Und dies unterscheidet das Land etwa von Irland, wo die Regierung mit ungeheuren Kosten für die gesamte Gesellschaft einen bankrotten Bankensektor unbedingt am Leben erhalten will und dabei den Vorgaben aus Brüssel folgt. Es erwies sich eben als großer Vorteil, daß Island nicht der EU angehört. So konnte es auch nicht von Merkel und Sarkozy über Brüssel unter Druck gesetzt werden, die eigenen bankrotten Geldhäuser aus dem Staatshaushalt zu subventionieren, damit diese ihre Schulden bei deutschen und französischen Banken bedienen können. Deutsche Banken und Versicherungen verloren denn auch durch den Konkurs des isländischen Bankensystems viel Geld.[1]

Zu den Verlierern gehörten aber auch die »kleinen Leute«, die den isländischen Banken ihre Ersparnisse anvertraut hatten. Die ihnen gewährte maximale Erstattung pro Spareinlage betrug gerade mal 20887 Euro. Das war der 2008 geltende, von der EU festgesetzte Mindestbetrag gemäß EU-Richtlinie 94/19/EG. Diese Richtlinie gilt auch für Island. Zwar gehört es nicht der EU an, aber es ist Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) und damit verpflichtet, alle den Binnenmarkt betreffenden Richtlinien und Verordnungen der EU zu übernehmen, so auch die über das Einlagensicherungssystem.

Die isländischen Bankenpleiten machten den Blick frei auf Fehler und Versäumnisse der Politik der Europäischen Union, über die man in Brüssel heute lieber schweigt. Der isländische Sicherungsfonds für Spareinlagen war zwar mit nur 47 Millionen Euro lächerlich klein angesichts der europaweiten Geschäfte der isländischen Banken, doch sein Umfang von nur einem Prozent der durchschnittlichen Größe der Einlagen entsprach der seinerzeit gültigen EU-Richtlinie über Einlagensicherungssysteme. Die europäische Regelung war zudem nur auf den Kollaps einer einzelnen Bank ausgerichtet, nicht aber auf den in Island eingetretenen Fall des Zusammenbruchs fast des gesamten Finanzsystems. Hinzu kam, daß mit der Schaffung des EU-Finanzdienstleistungsmarktes auch den Banken im EWR gestattet worden war, jenseits der eigenen Grenzen unbeschränkt tätig zu werden. Selbst bloße Internetbanken wurden erlaubt. Die Einlagensicherungsfonds blieben hingegen national organisiert.[2]

Da der von der EU verlangte Mindesterstattungsbetrag von knapp über 20000 Euro allgemein schon lange als viel zu niedrig angesehen wurde, hatten einige EU-Länder die Einlagen mit deutlich höheren Beträgen abgesichert, so auch Großbritannien und die Niederlande. In beiden Ländern war die zu Landsbanki gehörende Internetbank Icesave aktiv gewesen. Aufgrund ihrer konkurrenzlos hohen Sparzinsen hatte sie dort viele Kunden gewinnen können. 300000 waren es in Großbritannien, mehr als 125000 in den Niederlanden. Nach dem Zusammenbruch von Landsbanki wurden die britischen und niederländischen Icesave-Kunden von London und Den Haag entsprechend den dort für die Einlagensicherungsfonds geltenden nationalen Regelungen entschädigt. Die Beträge lagen deutlich über der von der EU vorgeschriebenen Mindestsumme. Beide Länder verlangen deshalb von Island die Erstattung ihrer Zahlungen. Im Frühjahr 2009 begannen die Gespräche darüber. Doch von wirklichen Verhandlungen konnte nie die Rede sein, eher von einem Diktat der beiden EU-Länder.

Das schließlich zustande gekommene Abkommen fiel denn auch sehr ungünstig für Island aus. Großbritannien verlangte 2,4 Milliarden Pfund und die Niederlande 1,3 Milliarden Euro Erstattung. Umgerechnet auf die Größe Deutschlands wären das 1250 Milliarden Euro gewesen. Für jeden Isländer hätte das eine Schuldenlast von 11000 Euro bedeutet. Hinzu sollten ab dem 1.1.2009 fällige Zinsen von 5,55 Prozent kommen. Dieser Satz lag oberhalb dessen, was die Niederlande bzw. Großbritannien selbst für Kredite zu zahlen haben. Beide Staaten hätten also an der Schuldentilgung verdient. Ihr einziges Zugeständnis bestand in der Aussetzung von Zinszahlung und Tilgung bis 2016. Ab dann sollten aber die Schulden einschließlich der Zinsen in gleichen Anteilen bis 2024 abbezahlt werden.

Die Bevölkerung entscheidet

Das Abkommen war von der seit April 2009 im Amt befindlichen Regierung von Sozialdemokraten und Links-Grüner-Bewegung ausgehandelt worden. Sie hielt sich dabei an die Zusage des konservativen Ministerpräsidenten Geir Haarde vom Herbst 2008, in der er die volle Entschädigung garantiert hatte. Die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Jóhanna Sigurardóttir war zudem an einer schnellen Einigung mit Großbritannien und den Niederlanden interessiert, um den angestrebten Beitritt Islands zur EU nicht zu belasten. Bei der Abstimmung im isländischen Parlament, dem Althing, erhielt das Abkommen im Dezember 2009 eine knappe Mehrheit von 33 zu 30 Stimmen.

Die Bevölkerung gab sich damit aber nicht zufrieden. Immer wieder kam es zu Demonstrationen gegen das Abkommen. 56000 Bürger, immerhin 23 Prozent aller Wahlberechtigten, reichten eine Petition beim Staatspräsidenten ein, in der eine Volksabstimmung darüber verlangt wurde. Staatspräsident Ólafur Ragnar Grímson gab dem Druck schließlich nach. Er verweigerte dem entsprechenden Gesetz seine Unterschrift und machte damit den Weg für eine Volksabstimmung frei, der ersten seit der 1944 errungenen Unabhängigkeit des Landes überhaupt. Das Ereignis alarmierte sofort das internationale Finanzkapital: »Allein die Nachricht, daß Steuerzahler darüber abstimmen dürfen, unter welchen Bedingungen sie für die Schulden einstehen wollen, hat unter den Akteuren an den Finanzmärkten für Wirbel gesorgt. Die großen Ratingagenturen setzten nach dieser im Januar getroffenen Entscheidung Islands Bonität umgehend herab oder kündigten diesen Schritt an.«[3]

Die rot-grüne Koalition warb in der Referendumskampagne für das Abkommen. Die in Opposition stehende konservative Unabhängigkeitspartei machte hingegen Stimmung dagegen, zusammen mit den auf ihrer Seite stehenden neoliberalen Medien. Sie wollte damit demonstrieren, daß Rot-Grün unfähig zur Führung des Landes sei. Von einem Nein erhoffte sie sich die internationale Isolierung Islands und einen schnellen Sturz der Regierung. Die Mehrzahl der Gegner des Abkommens dürfte solche parteipolitischen Spielchen aber nicht sonderlich interessiert haben. Sie stimmten mit Nein, da sie die Behandlung ihres Landes zurecht als zutiefst ungerecht empfanden. Wie erwartet sprach sich in der Abstimmung am 6.März 2010 eine klare Mehrheit von 93,2 Prozent gegen die Vereinbarung aus, nur 1,8 Prozent stimmten dafür. Die Beteiligung am Referendum lag bei 62,7 Prozent. Der britischen und der niederländischen Regierung blieb angesichts dieses klaren Volkswillens keine andere Wahl, als an den Gesprächstisch zurückzukehren.

Das neu ausgehandelte Abkommen war günstiger als das erste. Danach sollten die Erstattungszahlungen erst 2016 beginnen und zu keinem Zeitpunkt höher als fünf Prozent der Staatseinkünfte Islands liegen. Das Ende der Rückzahlungsfrist wurde von 2023 auf 2046 verschoben und die Zinsen auf einen Satz von drei Prozent abgesenkt. Diesmal stimmte der Althing mit großer Mehrheit zu. Da sich aber Staatspräsident Grímson abermals weigerte, das entsprechende Gesetz zu unterzeichnen, fand erneut eine Volksabstimmung statt. An ihr beteiligten sich am 9.April 2011 mehr als 73 Prozent der Wahlberechtigten. 59,77 Prozent stimmten mit Nein, 40,22 Prozent mit Ja. Die sozialdemokratisch geführte Regierung wertete das Ergebnis als Niederlage. Ministerpräsidentin Jóhanna Sigurardóttir sprach vom »denkbar schlechtesten Ausgang«.[4]

Nach dem abermaligen Nein der Isländer weigern sich London und Den Haag nun, erneut an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Die Angelegenheit soll vielmehr juristisch ausgefochten werden. Zuständig dafür ist der Gerichtshof der Europäischen Freihandelszone (EFTA) in Luxemburg. Island ist neben Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz eines der verbliebenen Mitgliedsländer der EFTA, die 1960 als Gegengewicht zur EU gegründet worden war und der einstmals auch Dänemark, Großbritannien, Finnland, Österreich und Schweden angehörten. Die EFTA-Überwachungsbehörde in Brüssel nimmt in dem Streit den Standpunkt Großbritanniens und der Niederlande ein und hat die isländische Regierung aufgefordert, beiden Ländern die Zahlungen an die Icesave-Kunden zu erstatten. In einem Schreiben hat Reykjavik am 2.Mai 2011 darauf geantwortet.[5] Darin wird bestritten, daß Island überhaupt seine sich aus der EU-Richtlinie 94/19/EG ergebenden Verpflichtungen verletzt habe. Das isländische Parlament unterstützte nahezu geschlossen diese Antwort. Der Streit ist also an seinen Anfang zurückgekehrt, sein Ausgang ist vollkommen offen.

Dabei ist es keineswegs so, daß sich die isländische Regierung weigert, die Sparer in und außerhalb des Landes für die durch die Pleiten erlittenen Verluste zu entschädigen. Sie hat deren Forderungen sogar ausdrücklich als vorrangig eingestuft und dabei die der Banken und Versicherungen zurückgesetzt. Zur Begleichung der Schulden soll vor allem das Vermögen der abgewickelten Landsbanki herangezogen werden. Man schätzt es auf 594 Milliarden Kronen. Es ist aber sehr ungewiß, ob man an alle im Ausland gelegenen Immobilien und Beteiligungen der bankrotten Bank herankommen kann und wie hoch die Erträge aus ihrer Verwertung am Ende wirklich sein werden. Vermutet wird, daß auf lange Sicht etwa 88 Prozent dieses Vermögens für die Schuldenbegleichung zur Verfügung stehen werden.

Die Schuldigen benennen

Die isländische Gesellschaft hat sich vorgenommen, die Ereignisse, die zu dem beispiellosen Zusammenbruch führten, lückenlos aufzuklären. Hierzu richtete das Parlament einen Ausschuß ein, der im April 2010 erste Ergebnisse vorlegte. In dem knapp 3000 Seiten starken Bericht werden auch Verantwortliche benannt: »Es sind die drei Gouverneure der Zentralbank (...), dann der Chef der Finanzaufsichtsbehörde sowie der damalige Ministerpräsident Geir Haarde und dessen Finanz- und Wirtschaftsminister.«[6] Verantwortung für die Katastrophe trugen danach aber auch Sozialdemoraten, wie etwa Björgvin J. Sigurdsson, der Wirtschaftsminister in den beiden Jahren vor dem Crash war.

Das Parlament deckte nicht nur die Verfilzung von Finanzindustrie, Politik und Medien auf, die erst die beispiellose Deregulierung des isländischen Bankensektors möglich gemacht hatte. Anfang Oktober 2010 beschloß es überdies, mit dem früheren Ministerpräsidenten Haarde einen der Hauptverantwortlichen vor ein Sondertribunal zu bringen. Dafür wurde ein 1905 geschaffenes Gericht, das Landsdomur, angerufen, übrigens zum ersten Mal in seiner Geschichte überhaupt. Natürlich sieht sich Haarde als vollkommen unschuldig an, er »betrachtet sich sogar als Opfer einer politischen Verfolgung«.[7] Nach gut einjähriger Prüfung hat das Gericht nun entschieden, zwei der ursprünglich sechs Anklagepunkte fallen zu lassen. Eine Verurteilung aufgrund der verbleibenden vier Vorwürfe könnte aber dennoch eine Haftstrafe zur Folge haben. Aber selbst wenn es nicht dazu kommt, bedeutet allein schon die Anklage gegen Haarde einen Schlag gegen das gesamte Finanzkapital des Landes, denn für alle ist sichtbar geworden, wer die Verantwortlichen der Krise sind.

Nationale Souveränität oder ...

Das isländische Volk hätte sich nicht des massiven Drucks Großbritanniens und der Niederlande erwehren können, wäre das Land Mitglied der Europäischen Union. London und Den Haag bleiben so nur die Wut über die widerspenstigen Nordmannen. Ihre Möglichkeiten für eine Revanche sind begrenzt. Beide Länder drohen wohl hinter den Kulissen mit einem Veto gegen den Beitritt des Landes zur EU, doch diese Drohungen schrecken längst nicht alle Isländer. Zwar hat sich das Parlament in Reykjavik mit Mehrheit für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Union ausgesprochen, doch es ist längst nicht ausgemacht, daß es auch zu dem Beitritt kommt. Auch darüber wird in einem Volksentscheid entschieden, und es ist bereits klar, daß viele ihn ablehnen werden. Neben den eher konservativen Fischern ist es auch die rot-grüne Bewegung, die ihn nicht will. Eine Umfrage im Mai 2011 zeigte, daß sich 55,7 Prozent der Bevölkerung gegen eine EU-Zugehörigkeit Islands aussprechen. Tatsächlich scheint in Brüssel das Interesse an der Mitgliedschaft größer als in Island selbst zu sein. Die EU locken die großen Fischgründe an der Küste. Von Interesse ist zudem die strategisch günstige Lage des Landes. Das erwartete Abtauen des Nordpolareises weckt Begehrlichkeiten nach im Norden vermuteten Rohstoffen. Um ihre Ansprüche darauf anmelden zu können, kann die EU Island als Stützpunkt gut gebrauchen.

Von unschätzbarer Bedeutung für die Bewältigung der Krise hat sich für Island die Existenz einer eigenen Währung erwiesen. Die isländische Krone hat zwar durch Abwertung knapp die Hälfte ihres Werts gegenüber dem Euro verloren, so daß sich die Importe erheblich verteuerten und Reisen ins Ausland nahezu unerschwinglich wurden. Einige internationale Ketten, wie etwa McDonald’s, zogen sich deshalb von der Insel zurück. Die Importverteuerung stärkte aber zugleich die Konkurrenzfähigkeit einheimischer Produzenten, und von der Abwertung der Krone profitierte der Export des Landes, und hier vor allem der der Fischindustrie und der Landwirtschaft.

Die Abwertung der Währung bildete so, zusammen mit der rigorosen Abwicklung des bankrotten Bankensystems und der verweigerten Zahlung horrender Summen ins Ausland, die Grundlage für eine inzwischen zu beobachtende leichte Erholung der isländischen Wirtschaft. Betrug der Rückgang des BIP in 2009 noch 6,8 Prozent, so waren es 2010 nur noch 1,1 Prozent. Für 2011 wird bereits wieder ein Wachstum von 2,3–2,5 Prozent erwartet. Das Finanzierungssaldo des Staatshaushalts belief sich 2008 auf ein Minus von 13,5 Prozent. Es verringerte sich 2009 auf 9,3 und in 2010 auf minus 5,7 Prozent. Für 2011 wird nur noch ein Defizit von 2,5 bis drei Prozent erwartet. Was diese jährliche Neuverschuldungsrate angeht, so würde Island somit ohne Schwierigkeiten das entsprechende Kriterium für einen EU-Beitritt erfüllen.

... EU-Protektorat

Ganz anders dagegen die Entwicklung in Griechenland, Irland und Portugal. Als Mitgliedstaaten der EU sind sie dem Druck der kerneuropäischen Staaten ausgeliefert, ihr Bankensystem unbedingt zu stützen, da bei deren Bankrott hohe Verluste bei Banken, Versicherungen und Pensionsfonds in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und in den Benelux-Staaten anfallen. Als Euro-Länder besitzen Griechenland, Irland und Portugal keine eigene Währung mehr, die sie jetzt abwerten könnten, um ihre Industrien wieder konkurrenzfähig machen zu können. Die drei Krisenländer müssen sich zudem demütigenden Kürzungsprogrammen der Troika, bestehend aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, unterwerfen. Die ihnen dabei auferlegten Programme führen zu unerträglichen Kürzungen bei Renten, Löhnen und Sozialleistungen. Die geforderten Privatisierungen bedeuten den Ausverkauf ihrer Infrastrukturen. Das Entscheidende aber ist: Trotz all dieser Härten und Zumutungen kehren die drei Euro-Länder auch drei Jahre nach dem Höhepunkt der Krise nicht auf einen Wachstumspfad zurück. Griechenland versinkt statt dessen immer tiefer im Strudel der Depression. Vergleicht man die Lage dieser Länder mit Island, so wird auf den ersten Blick klar, daß nur der Erhalt der eigenen nationalen Souveränität die Grundlage dafür bietet, um in solch einer extremen Krise nicht zu einem Protektorat imperialistischer Staaten zu werden. Das ist die wichtigste Lektion, die Island heute für die europäische Öffentlichkeit bereithält.

Anmerkungen
  1. Im Oktober 2010 wurde gemeldet: »Bayern LB, DZ Bank, LBBW, West LB, KfW, Commerzbank und Deutsche Bank haben schon dreistellige Millionenbeträge auf ihre isländischen Engagements abgeschrieben.« Quelle: »Island hat die Krise noch lange nicht verdaut«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 5.10.2010
  2. Vgl. zu den Hintergründen für die politisch ausdrücklich nicht gewollte Anpassung der Einlagensicherungssysteme in der EU: Andreas Wehr: Griechenland, die Krise und der Euro, Köln 2010, S.49–51
  3. »Eiszeit«, in: FAZ vom 8.3.2010
  4. zeit.de vom 10.4.2011
  5. Vgl. Response of the Government of Iceland to the Authority’s Letter of Formal Notice, dated 26 May 2010– Case No. 65560
  6. »Island klärt auf«, in: junge Welt vom 14.4.2010
  7. »Gerichtliche Aufarbeitung der isländischen Misere«, in: NZZ online vom 5.9.2011
* Andreas Wehr veröffentlichte zuletzt im PapyRossa Verlag, Köln, das Buch »Griechenland, die Krise und der Euro« (eine überarbeitete Neuauflage erscheint in diesen Tagen). Mehr unter: www.andreas-wehr.eu

Aus: junge Welt, 12. Oktober 2011



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