Islands Linke: "Unsere Zeit ist gekommen"
Nach Wahlsieg wollen Sozialdemokraten den schnellen EU-Beitritt
Von Irina Domurath, Reykjavík *
Jóhanna Sigurdardóttir wird erste gewählte Premierministerin Islands. Die zunächst nur
vorübergehend amtierende sozialdemokratisch-linke Regierungskoalition wurde von den Wählern
bestätigt, während die Konservativen den höchsten Stimmenverlust in ihrer Geschichte hinnehmen
mussten. Und noch eines ist nun klar: Die Mehrheit der Isländer will in die EU.
Vor den Wahllokalen hatten sich am Sonnabend (25. April) lange Schlangen gebildet. Viele Isländer trugen
Anzüge oder Sakkos. Und in der Nacht versammelten sich die Menschen später in Reykjavíks
Innenstadt, in Cafés und Bars oder zu privaten Wahlfeiern und verfolgten gespannt die
Auszählungen. »Dies sind die wohl bedeutendsten Parlamentswahlen seit der Ausrufung der
Republik im Jahr 1944«, sagte Jóhanna Sigurdardóttir, vorübergehende und neue Premierministerin
Islands, in ihrer Pressekonferenz am Wahltag.
In der Zeit der größten wirtschaftlichen Krise des Landes übernimmt Sigurdardóttirs
sozialdemokratische Allianz mit 29,8 Prozent der Stimmen die Regierung und beendet die
Herrschaft der in den letzten 18 Jahren ohne Unterbrechung regierenden konservativen
Unabhängigkeitspartei. Koalitionspartner werden die Links-Grünen, die mit 21,7 Prozent der
Stimmen (plus 5,7 Prozentpunkte) den höchsten Wählerzuwachs bei dieser Abstimmung
verzeichnen konnten. Dank der Überhangmandate haben die beiden Parteien zusammen eine recht
stabile Mehrheit von fünf Sitzen im 63 Sitze umfassenden Parlament. Auf Tolerierung durch die
Liberalen ist die Koalition damit nicht länger angewiesen.
Die Linken erhielten zwar weniger Stimmen, als nach den letzten Umfragen erwartet wurde und
stellen somit nur die drittstärkste Kraft im neuen Parlament. Doch die Allianz hält an ihrer
Koalitionszusage fest. Noch am Wahltag bestätigte Sigurdardóttir, dass eine Koalition mit den
Konservativen im Hinblick auf deren langjährige politische Verantwortung ausgeschlossen sei.
Die Unabhängigkeitspartei musste herbe Verluste hinnehmen. Sie erlitt in der Wählergunst den
höchsten Stimmverlust in ihrer Geschichte – von 36,6 auf 23,7 Prozent. Besser als erwartet schnitt
dagegen die zuletzt mit den Konservativen an der Regierung beteiligte liberale Fortschrittspartei ab.
Die traditionell die Interessen der Bauern wahrnehmende Partei erhielt mit 14,8 Prozent etwas mehr
Stimmen als bei der Wahl vor zwei Jahren. Ausschlaggebend dafür dürfte die konsequente
Befürwortung eines raschen EU-Beitritt Islands gewesen sein.
Die zweite Überraschung stellte das gute Abschneiden der neu gegründeten »Bürgerbewegung«
dar. Sie besteht hauptsächlich aus Isländern, die in den vergangenen Monaten auf den Straßen
protestiert haben und erhielt auf Anhieb vier Sitze im Parlament. Experten rechnen dieser Partei die
meisten Protestwählerstimmen zu.
»Meine Zeit wird kommen«, hatte Sigurdardóttir vor 15 Jahren gesagt, als sie nach parteiinternen
Querelen den Kampf um den Parteivorsitz in der Vorgängerpartei der Allianz verlor. Dieser Satz
wurde zu einer idiomatischen Redewendung in Island. In der für ihre Verhältnisse sehr emotionalen
Siegesrede am Wahlabend sagte die mittlerweile 66-jährige Sigurdardóttir dann kämpferisch:
»Unsere Zeit ist gekommen!«.
Die Ziele der neuen Regierung sind klar: Sie will so schnell wie möglich Beitrittsverhandlungen mit
der EU beginnen. Sigurdardóttir will außerdem das Bankensystem weiter umstrukturieren und »den
Leitzins senken, um dadurch die hoch verschuldeten Haushalte zu entlasten«. Die schwerste
Aufgabe wird dabei sein, im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds
die Staatsausgaben weiterhin konsequent zu reduzieren, gleichzeitig aber die zumeist zur sozialen
Absicherung der Bevölkerung aufgewandten und stark gestiegenen Ausgaben nicht zu kürzen.
* Aus: Neues Deutschland, 28. April 2009
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