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Tanz auf der Vulkaninsel

In Island erfasst die Finanzkrise zunächst die Reichsten

Von André Anwar, Reykjavik *

Island ist von der Finanzkrise unter allen westlichen Ländern am stärksten betroffen. Im Land jahrzehntelanger Vollbeschäftigung und des welthöchsten Lebensstandards drohen Massenarbeitslosigkeit und Staatspleite.

Noch immer rollen die Luxusautos und nagelneuen Jeeps im Stau über die enge Hauptstraße Reykjaviks, den Laugarvegur. Noch immer sind die Bars und Restaurants in Reykjavik voll mit Menschen in teurer Designerkleidung. Selbst das geschäftige Treiben der Bauarbeiter, die eine neue, höhere Skyline für Reykjavik aus dem Boden stampfen, ist keineswegs zum Erliegen gekommen. »Aber wer soll da einziehen«, fragen sich viele, während die drei zwangsverstaatlichten Banken Glitnir, Landsbanki und Kaupthing abgewickelt werden. Ein Brite in Reykjavik nennt die scheinbar gute Stimmung »Tanz auf der Titanic«.

Der konservative Ministerpräsident und EU-Gegner Geir Haarde warnte vor Kurzem vor dem völligen »Staatsbankrott«. Die Isländer, die wegen ihrer chronischen Gelassenheit als »Italiener des Nordens« gelten, sind aber nicht so leicht zu erschüttern. Auch in der Zentrale von Kaupthing gibt sich die junge Kassiererin Siv entspannt. Die Bank habe schließlich ein großes Vermögen und nicht nur Schulden. Die ausländischen Sparer würden ihr Geld letztlich schon zurückbekommen, »nur Geduld«, sagt sie zuversichtlich.

Die Krise hat viele Isländer noch nicht erreicht. »Mein Mann ist Tischler und wir haben fünf Kinder, 20 Islandpferde und einen großen Bekanntenkreis. Da ist niemand, der sein Vermögen verloren hat. Wir haben nichts mit den Finanzhaien zu tun«, sagt etwa Soffia, eine 53-jährige Küchenhilfe an der Kunsthochschule von Reykjavik. »Nur die Lebensmittel sind verdammt teuer geworden. Mein Gehalt ist leider immer noch das gleiche.« Seit Jahresbeginn hat die Krone gegenüber dem Euro rund 50 Prozent eingebüßt.

Direkt betroffen sind bislang vor allem die Wohlhabenden, die im Kaufrausch Häuser, Jachten und Autos mit billigen Krediten in ausländischen Währungen erworben haben. Nun sind diese mit der fallenden Krone und steigenden Zinsen schmerzlich teuer geworden. »Einige Leute haben ihre alten Autos einfach verschenkt, um neue zu kaufen. Selbst Elton John wurde einfach mal so zu einem Auftritt auf einem Geburtstagsfest eingeflogen«, sagt Lily Adamsdottir (23), Kunststudentin. Isländische Haushalte haben ihr Einkommen mit durchschnittlich 213 Prozent beliehen, was selbst die US-Verschuldung mit 140 Prozent moderat aussehen lässt. Hinter der gelassenen Fassade wächst die Unruhe. »Die Krise hat uns Isländer emotional sehr getroffen, auch wenn wir es nicht zeigen«, so Lily.

Im Friseursalon auf dem Laugarvegur trinken zwei Friseurinnen und eine Schneiderin aus dem Nachbarladen Milchkaffee. Seit Tagen gibt es nichts mehr zu tun. »Die Leute kaufen lieber Benzin und Lebensmittel statt Haarschnitte«, sagt Heidveig Thrainsdottir. Aber ihr gingen eh die Haarfarben aus, weil Importeure nicht mehr ohne Vorkasse liefern wollen. Eines regt Heidveig aber wirklich auf. In den Friseurladen wurde das erste Mal seit der Gründung vor 20 Jahren eingebrochen. Die Polizei vermutet eine osteuropäische Mafia dahinter, die mit den polnischen und baltischen Gastarbeitern ins boomende Island kam. »Die Gastarbeiter gehen wieder. Die Kriminellen unter ihnen nehmen alles mit, was sie können«, argwöhnt Heidvig.

»Das boomende Reykjavik gehört der Vergangenheit an«, sagt Audunn Arnorsson, Redakteur der größten Tageszeitung des Landes, der Gratiszeitung »Frettabladid«. »Unsere Wirtschaftsexperten sind sich leider völlig sicher: Wir werden hier bald eine Massenarbeitslosigkeit ohnegleichen erleben, wenn die Firmen beginnen, dicht zu machen. Das wird ein ganz anderes Island sein.«

* Aus: Neues Deutschland, 29. Oktober 2008


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