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Russland rettet Island vor Ruin

Russland stützt den kleinen Inselstaat Island mit einem milliardenschweren Not-Kredit zu einem äußerst niedrigen Zinssatz

Von Jelena Sagorodnjaja *

Russland stützt den kleinen Inselstaat Island mit einem milliardenschweren Not-Kredit zu einem äußerst niedrigen Zinssatz.

Ist das nun sinnlose Großzügigkeit oder ein weitsichtiger geopolitischer Schritt? Und sind vier Milliarden Euro überhaupt viel oder wenig?

Das Schicksal Islands war für die Russen bis vor kurzem überhaupt kein Thema. Jetzt gibt es kaum einen, der nicht über die unglaubliche Summe redet, die „die Stabilitätsinsel“ in die Wirtschaft des versinkenden Landes der Geysire pumpt.

Dabei wird das Thema Island in Europa schon lange diskutiert. Dieses „Hedge-Fonds-Land“, ein Modellland für liberale Wirtschaft und rasante Wirtschaftsentwicklung, wurde Ende 2007 als erstes in der Welt mit einer vollwertigen Wirtschaftskrise konfrontiert. Die isländische Krone hat seit Anfang dieses Jahres bereits ein Drittel ihres Werts gegenüber den Euro verloren. Die führenden isländischen Banken Kaupthing, Glitnir und Landsbanki fielen den Attacken internationaler Finanzspekulanten zum Opfer. Ende September kauften die Behörden die Bank Glitnir frei (womit sie praktisch verstaatlicht wurde). Am 7. Oktober teilte die Landsbanki deren Schicksal. Kaupthing bekam am gleichen Tag ein Darlehen in Höhe von 500 Millionen Euro von der isländischen Nationalbank. In diesem Herbst wurde es klar, dass Island das erste Land in der Welt sein könnte, das die gegenwärtige globale Krise in den Staatsbankrott treibt.

Warum fällt die isländische Wirtschaft so drastisch auseinander? IWF-Experten äußern die Meinung, dass sie zu schnell wuchs. Im Zeitraum zwischen 2003 und 2007 war das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 25 Prozent gewachsen. Dabei war das muntere Wachstum größtenteils auf Außenanleihen gestützt. Um ausländische Investitionen anzulocken, festigten die Behörden des Landes die Währung und rissen die Prozentsätze in die Höhe (Anfang 2008 waren sie mit 15,5 Prozent im Jahr die höchsten in Europa). Im Endeffekt leistete das Land einen enormen Gleichgewichtsfehler: Einerseits das bescheidene BIP, andererseits riesige Finanzaktiva samt einem Schuldenberg. 2007 betrug das isländische BIP nur 16 Milliarden Dollar, die Aktiva des Finanzsektors hingegen 1000 Prozent des BIP und die Außenschulden machten 550 Prozent des BIP aus.

Am Abend des 7. Oktober gab Finanzminister Alexej Kudrin zu, dass Russland eingewilligt hat, Island einen Stabilisationskredit in Höhe von vier Milliarden Euro zu geben, obwohl er zuvor die Erklärungen der isländischen Nationalbank dementierte. In Hinblick auf Islands haarnahen Staatsbankrott ist dieses Darlehen ein Rettungsring - und kein kleiner. Der Sonderfonds, den die Notenbanken von Schweden, Dänemark und Norwegen im Mai 2008, als Island beinahe untergegangen war, schufen, enthielt nur 2,3 Milliarden Dollar. Vier Milliarden Euro sind also nach isländischem Maßstab sehr viel.

Auch für Russland ist das eine hohe Summe, die überdies zu einem sehr vorteilhaften Prozentsatz versprochen wurde. Die isländische Nationalbank teilte mit, dass Russland einen Kredit nach dem LIBOR-Prozentsatz + 0,3 bis 0,5 Prozent versprochen hat. Zum Vergleich: Eine der größten Banken Russlands, die Vnesheconombank (VEB), bekommt von der Zentralbank einen Kredit mit dem Prozentsatz LIBOR + 1 Prozent.

In einer Situation, in der die russischen Behörden fast jeden Tag in Sondersitzungen Maßnahmen gegen die Krise besprechen, mutet das ziemlich seltsam an. Der Normalverbraucher wird da sagen, dass das Land sich selbst retten und nicht dem Erstbesten Kredite mit Vorzugsbedingungen geben sollte. Das ist aber nicht ganz korrekt.

Es gibt mehrere Gründe, warum Russland diesen Kredit geben muss.

Der erste und wichtigste Grund liegt in der Weltwirtschaft.

Die führenden Politiker verschiedener Länder verstehen allmählich, dass die Welt nur gemeinsam vor der umfassenden Wirtschaftskrise gerettet werden kann. Das war das Refrain der dreitägigen weltpolitischen Konferenz in Evian. Vor kurzem schlug zudem Weltbank-Präsident Robert Zoellick vor, die G8 durch Brasilien, Indien, China, Mexiko, Saudi-Arabien und Südafrika zu erweitern. Die führenden Politiker der Welt sprechen immer häufiger von der Notwendigkeit, die persönlichen Ambitionen und die politischen Streitereien für eine Weile aufs Eis zu legen. Es wird Zeit, auch etwas zu tun.

Für Russland ist die Entscheidung, Island in diesem schwierigen Moment zu helfen, ein Muss. Russland verfügt gegenwärtig über Vorräte, die es anlegte, als das Erdöl superteuer war. Die Gold- und Devisenreserven der russischen Zentralbank betrugen Ende September 566 Milliarden Dollar, weitere 32 Milliarden Dollar befinden sich im Wohlfahrts- und im Reservefond. Natürlich könnte Russland sich auf seiner „Stabilitätsinsel“ einbunkern und die Krise nur daheim bekämpfen. Doch in diesem Fall geht Russland das Risiko ein, zu entdecken, dass der globale Finanzsturm, der unter anderem wegen dem Tornado aus Island immer stärker tobt, alle Vorräte entwertet hat.

Denn Islands zahlreiche Gläubiger sind größtenteils europäische Banken. Wenn Island die Bezahlung der Schulden einstellt, gerät ganz Europa ins Trudeln. Und dabei zieht es auch Russland nach unten, das andernfalls Chancen hat, mit wenigen Verlusten aus der Krise herauszukommen. Somit rettet Russland mit Island in erster Linie sich selbst.

Es gibt auch weniger globale, rein pragmatische Argumente.

Krisen gehen früher oder später vorbei. Verbündete können aber manchmal bleiben. Nach so einer Geste wird Island, dessen rasantes Wachstum Unternehmer aus verschiedenen europäischen Ländern mehrere Jahre lang nutzten, bestimmt gerne russische Investitionen sehen. Bislang beträgt der russisch-isländische Warenumsatz circa 100 Millionen Dollar im Jahr. Und die russische Geschäftswelt (genauer Roman Abramowitsch und Oleg Deripaska) hatte sich kurz vor der Krise Interesse an Investitionen in dieses Land gezeigt. Gegenwärtig könnte der Preis für den Einstieg in die isländische Wirtschaft übrigens recht günstig sein.

Außerdem lässt es sich über Island recht bequem nach Lateinamerika fliegen.

Die Meinung der Verfasserin muss nicht mit der der RIA Novosti übereinstimmen.

* Aus: Russische Nachrichtenagentur RIA Novosti, 10. Oktober 2008; http://de.rian.ru/


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