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Islands Ex-Premier vor Gericht

Haarde muss sich wegen Finanzkrise verantworten *

Der frühere Regierungschef von Island, Geir Haarde, muss sich seit Montag vor einem Sondergericht für seine Rolle in der Finanzkrise verantworten. Ihm wird Mitverantwortung am Kollaps des isländischen Bankensystems vorgeworfen. Der 60-jährige Haarde wies zu Prozessbeginn die Anschuldigung zurück, er habe Interessen des Staates verletzt, weil er die Krise nicht verhindert habe. Der Ex-Premier ist der einzige Politiker, der sich für die Finanzkrise in Island verantworten muss.

Der Anklageschrift zufolge wird Haarde der Fahrlässigkeit beschuldigt. Er habe es versäumt, beim Kollaps der drei größten isländischen Banken - Kaupthing, Landsbanki und Glitnir - einzugreifen. Bei einem Schuldspruch drohen dem Politiker zwei Jahre Haft. Als Ministerpräsident und Vorsitzender der konservativen Unabhängigkeitspartei war Haarde im Januar 2009 in Folge der Bankenpleite zurückgetreten.

Während der Finanzkrise im Jahr 2008 sammelten Islands Banken Schätzungen zufolge Schulden an, die dem zehnfachen Wert des Bruttoinlandsprodukts der Insel entsprachen. Die isländische Krone verlor stark an Wert. Viele der rund 320 000 Einwohner Islands verloren ihre Ersparnisse. Mit Milliardenkrediten von anderen skandinavischen Ländern und vom Internationalen Währungsfonds (IWF) wurde eine Staatspleite verhindert.

Der Prozess ist auf zehn Verhandlungstage angesetzt und soll am 15. März zu Ende gehen. Es ist allerdings unklar, wie schnell danach das Urteil zu erwarten ist.

* Aus: neues deutschland, 6. März 2012


Sündenbock

Geir Haarde - der Ex-Premier soll für die Finanzkrise in Island büßen - als einziger **

Island garantiert seinen Touristen jede Menge überraschende Einsichten. Aber seit einigen Jahren trifft dies mehr noch auf die Politik des Landes zu. Als erstes schlitterte es in die Finanzkrise, es entschied sich anders als andere dafür, seine Krisenbanken zu verstaatlichen - was zahllose Bürger um ihre Ersparnisse brachte. In Island steht nun mit dem ehemaligen Premierminister Geir Haarde erstmals ein Staatspolitiker wegen seiner Mitverantwortung für den Finanzcrash vor Gericht. Hierfür wurde ein vor über 100 Jahren installierter Sondergerichtshof zusammengerufen - das erste Mal.

Doch ob mit dem Konservativen von der Unabhängigkeitspartei der Richtige vor dem Kadi landet, ob sich mit Begriffen wie Pflichtversäumnis oder Fahrlässigkeit die Verantwortung für den Finanzcrash beschreiben lässt, das sind auch in Island offene Fragen. Dass die Politik gegenüber der Wirtschaft hilflos agiert, ist wohl eher eine Systemfrage als eine persönlicher Versäumnisse.

Das Mitleid der Bürger des Landes hält sich freilich in Grenzen; nach monatelangen Protesten hatte Haarde zurücktreten müssen, nur unter Polizeischutz konnte er im Januar noch seinen Amtssitz verlassen. Kurz darauf erklärte er den Rücktritt. Eine parlamentarische Kommission stellte anschließend die politische Verantwortung des Premiers, aber auch drei weiterer Minister fest. Geblieben ist allein das Verfahren gegen Haarde, schnell endete die juristisch-moralische Bewertung der Krisenumstände, und es begann die parteipolitische. Noch kurz vor Prozessbeginn am Montag war in der vergangenen Woche der Versuch des konservativen Parteichefs Bjarni Benediktsson gescheitert, das Verfahren niederzuschlagen. Das Parlament entschied mit 33 gegen 27 Stimmen gegen den Antrag.

Haarde selbst, der in den USA Wirtschaftswissenschaften und in der isländischen Zentralbank die Welt der Finanzen studierte, als sie noch heil schien, sieht sich zu Unrecht angeklagt. Als Sündenbock, der den Bürgern präsentiert werden soll. Während die positiven Wirtschaftsdaten inzwischen dem Land wieder Stabilität bescheinigen, gibt die Hälfte der Bürger an, gerade mal so über die Runden zu kommen.
Uwe Kalbe

** Aus: neues deutschland, 6. März 2012


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