Islands Expremier Haarde verurteilt
Gericht erkannte auf Teilschuld für Finanz- und Wirtschaftskrach 2008
Von André Anwar, Stockholm *
Erstmals wurde am Montag (23. April) ein westlicher
Politiker wegen »grober Amtsfehler
« und »persönlicher Verantwortung
« verurteilt. Ein Gericht in
Reykjavik erklärte Geir Haarde, Islands
Regierungschef zu Zeiten des
finanziellen und wirtschaftlichen Einbruchs
2008, für teilschuldig. Eine
Strafe zieht das Urteil nicht nach sich.
Im Herbst 2008 war Island in wenigen
Wochen von einem der
reichsten Länder der Welt zu einem
sehr armen geworden. Die
drei damals zwangsverstaatlichten
Großbanken Kaupthing, Landsbanki
und Glitnir hatten durch
hochriskante Kreditgeschäfte einen
enormen Schuldenberg angehäuft.
Dem damaligen Regierungschef
Geir Haarde wurde vorgeworfen,
nicht angemessen auf
die Krise reagiert zu haben. Nicht
nur habe er zahlreiche Warnzeichen
ignoriert, sondern es überdies
versäumt, die rechtzeitig unterbreiteten
Vorschläge eines
Ausschusses zur Stärkung der
Wirtschaft umzusetzen.
Haarde selbst bezeichnete den
Prozess als »Farce« und als »politische
Verfolgung« durch die derzeit
regierende rot-grüne Koalition.
Er wies jegliche Schuld am
letztlich nur durch IWF-Kredite
und Finanzhilfen anderer Staaten
verhinderten kompletten Zusammenbruch
der isländischen Wirtschaft
zurück und kündigte an, in
Berufung zu gehen. »Keiner von
uns konnte voraussehen, dass etwas
so Krasses mit dem Bankensystem
passieren würde«, sagte er
bereits zum Prozessauftakt Anfang
März. Dass drei Banken zeitweilig
den elffachen Wert des ganzen
Bruttoinlandsprodukts Islands
angehäuft hatten, sei grundsätzlich
nichts Schlechtes, was das Beispiel
der Schweiz beweise.
Tatsächlich empfinden viele Isländer
den Prozess gegen den Expremier
heute als unfair, weil nur
er sich verantworten musste. Ein
Untersuchungsbericht hatte festgestellt,
dass neben Haarde drei
weitere Personen eine erhebliche
Verantwortung für die Katastrophe
trugen. Hinzu kommt, dass es vielen
Isländern wieder besser geht.
Die Wirtschaft hat sich überraschend
schnell erholt. Die deutliche
Abwertung der Krone hat zu
höheren Einnahmen durch den
Tourismus geführt, auch Fischund
Aluminiumindustrie konnten
einen Teil der Krise auffangen.
Zum anderen verweigerte Island
die vollständige Rückzahlung aller
Auslandsschulden der bankrotten
Banken. Auch für die Rückzahlung
von Geldern an Großbritannien
und die Niederlande hat Reykjavik
dank Präsidentenveto und folgendem
Referendum letztlich eine viel
bessere Lösung aushandeln können
als erwartet. Die Gläubiger
beider Länder sollen zwischen
2016 und 2046 insgesamt 3,9 Milliarden
Euro aus Island erhalten.
Da fällt das Vergeben leicht. Die
Anfang 2009 durch Straßenproteste
gestürzte konservative Unabhängigkeitspartei
Haardes gewinnt
sogar wieder an Zustimmung.
Dies auch dank einem Paradoxon:
Viele Isländer lasten der
rot-grünen Regierung schmerzhafte
Einsparungen an. Die für die
Krise verantwortliche Haarde-
Partei wird dagegen mit den goldenen
Zeiten vor 2008 verbunden.
Die Abwanderung zahlreicher
junger Isländer, die in ihrer Heimat
keine Zukunft mehr sehen, bleibt
aber trotz besserer Wirtschaftszahlen
ein großes Problem. Derzeit
verhandelt das Land über die EUMitgliedschaft.
Die hätte bei einer
Volksabstimmung jedoch kaum
Chancen auf Erfolg. Ursprünglich
wurde die EU-Bewerbung eingereicht,
weil Island seine Krone
gerne durch ein stabileres Zahlungsmittel
ersetzen würde. In
Anbetracht der Eurokrise, aber
auch traditioneller Ängste vor einer
Bevormundung durch Brüssel
sondiert Reykjavik derzeit die Einführung
des kanadischen Dollars
als Alternative.
* Aus: neues deutschland, Dienstag, 25. April 2012
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