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Die Isländer setzen auf Brüssel und den Euro

Parlament stimmte für Beitrittsgesuch zur Europäischen Union

Von André Anwar, Reykjavik *

Island setzt beim Kampf gegen Wirtschaftskrise und gigantische Staatsschulden endgültig auf die Mitgliedschaft in der EU. Nach einer einwöchigen Marathon-Debatte gab das Parlament (Althing) in Reykjavik am Donnerstag mit den Stimmen von 33 der 63 Abgeordneten gdie Zustimmung für ein Beitrittsgesuch.

Es war eine engagierte Debatte, die die isländischen Parlamentarier seit Montag im kleinen Althing über die Zukunft ihres durch einen Beinahe-Staatsbankrott arg in die Krise geratenen Landes führten. Die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Johanna Sigurdardóttir appellierte an die Volksvertreter, Verhandlungen mit der EU zuzustimmen, obwohl eine Mehrheit dafür schon gesichert schien. Das Land, dessen Währung nach Zusammenbruch und Zwangsverstaatlichung der drei größten Banken völlig am Boden liegt, sei nur noch durch einen Anschluss an die Europäische Union und vor allem an die Euro-Zone zu retten, sagte sie.

Tatsächlich gilt der Verfall der isländischen Krone, der kleinsten selbstständigen Währung weltweit, als größtes Problem für die rund 320 000 Einwohner zählende skandinavische Nordatlantikinsel. Weil die EU den Isländern den Euro nur zusammen mit einer Mitgliedschaft geben will und die Norweger eine Einführung ihrer Krone in Island ablehnten, sind viele der an sich EU-kritischen Isländer nun bereit, der Union beizutreten. Bisher herrschte Angst vor einer Gefährdung der Fischereirechte und der Agrarsubventionen vor, aber auch vor einer generellen Bevormundung durch Brüssel.

Der völlige Staatsbankrott Islands konnte im vergangenen Herbst nur durch Milliardenkredite vom Internationalen Währungsfonds und europäischen Ländern abgewendet werden. Sigurdardóttir will das EU-Beitrittsgesuch nun beim nächsten Außenministerrat der Europäischen Union am 27. Juli in Brüssel überreichen lassen. Nach den Verhandlungen müsste allerdings eine Volksabstimmung durchgeführt werden. »Frühestens Anfang 2011 kann Island EU-Mitglied werden, oder aber auch erst ein Jahr später. Wobei der Ausgang eines Referendums dann sehr unsicher sein wird, die Isländer sind launisch«, sagt der isländische Europaexperte Audunn Arnorsson.

Bei der an sich recht gelassenen und von früherer Vollbeschäftigung und Wirtschaftsboom verwöhnten isländischen Bevölkerung wird der Unmut in der Krise immer größer. Auch wer keine Kredite für Haus oder Auto zu laufen hat, muss den Gürtel sehr eng schnallen. Steuern wurden erhöht und auch die Lebenshaltungskosten sind in die Höhe geschossen – ein Großteil der Waren muss importiert werden. Der Export leidet, weil auch er von importierten Teilen abhängig ist. Zudem erlaubten die Gewerkschaften den in Not geratenen Arbeitgebern auch noch deutliche Lohnkürzungen. Innerhalb weniger Monate stieg die Arbeitslosenrate von rund einem Prozent auf fast neun Prozentpunkte.

Vor allem im noch kürzlich boomenden Bausektor stieg die Arbeitslosigkeit zuerst. Nun erstreckt sie sich aber auf alle Bereiche. Viele qualifizierte Leute verlassen derzeit das Land. Das bestätigt Frank Friedriksson vom Arbeitsamt in Reykjavik: »Es gibt eine größere Auswanderungswelle, vor allem nach Norwegen.« Auch von den rund 20 000 Arbeitsimmigranten haben tausende Island wieder verlassen. Islands Wirtschaft ist seit dem Zusammenbruch des Finanzsektors zu etwa je einem Drittel von Fischfang, Aluminiumexport und Tourismus abhängig. »Damit diese Bereiche weiter funktionieren, brauchen wir eine funktionierende Währung und die EU«, so EU-Experte Arnorsson.

* Aus: Neues Deutschland, 17. Juli 2009


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