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"Wir danken der Besten Partei"

Über die notwendige Unterstützung für Bradley Manning und die isländische Präsidentschaftswahl an diesem Samstag. Gespräch mit Birgitta Jónsdóttir *


Birgitta Jónsdóttir (45) ist Künstlerin und Internetentwicklerin. 2009 zog sie mit der Partei »Hreyfingin« (Die Bewegung) ins isländische Parlament ein.


Nach dem isländischen Bankencrash sind im April 2009 neue Parteien und Aktivisten wie Sie ins Parlament gekommen. Die Liberal-Konservativen gehören erstmals seit 1944 nicht zur Regierung. Wie wirkmächtig sind die alten Strukturen noch?

Ich bin ein Hacker innerhalb des Systems, spüre seine Schwachstellen auf und nutze sie aus. Ich gehe da strategisch vor, bin zwar nicht gut im Verschlüsseln, aber habe begriffen, daß in Krisenzeiten die besten Möglichkeiten für fundamentale Änderungen des Systems gegeben sind. Hier ging all das den Bach runter, woran die Menschen geglaubt haben.

Das Treffen von Ronald Reagan und Michail Gorbatschow 1986 in Reykjavík gilt als Anfang vom Ende des Kalten Krieges. Ist Island die Geburtsstätte des neuen Turbokapitalismus?

Der Horror hat tatsächlich hier begonnen, und es gibt zur Zeit sicher keine größere Herausforderung. Island wurde aus guten Gründen zu einem Labor für gesellschaftliche Veränderungen gemacht. Inzwischen herrscht hier ein ziemliches Durcheinander. Demokratie ist eine Diktatur mit vielen Köpfen, und die meisten Menschen sind passiv. Sie wollen, daß jemand anderes für sie Sorge trägt, der Staat als ungeliebter Vater.

In Deutschland kümmert sich eine Frau, die von vielen »Mutti« genannt wird.

Es ist ein großer Irrtum von Teilen der Frauenbewegung, daß Frauen sich nicht selber orientieren, sondern so sein sollten wie Männer. Angela Merkel ist wirklich der schlimmste Macker!

Sie haben mit Noam Chomsky, Daniel Ellsberg und anderen gegen einen neuen Paragraphen im National Defense Authorization Act (NDAA) der USA geklagt. Mit welchem Ergebnis?

Dieser Vorsorge-Paragraph hätte die Inhaftierung von Menschen legalisiert, die mit terroristischen Organisationen wie »Wikileaks« in Verbindung stehen. Wir haben den Prozeß im Mai gewonnen.

Erstmals las ich Ihren Namen in einer deutschen Zeitung, als Sie im Januar 2012 den inhaftierten Soldaten Bradley Manning für den Friedensnobelpreis vorschlugen.

Bradley Manning gehört zu denen, die sich die Macht zurückholen. Er hat außergewöhnlichen Mut bewiesen und Informationen in die Öffentlichkeit gebracht, die unbedingt dorthin gehören. Wie sollen sich Menschen eine eigene Meinung bilden, wenn sie keinen Zugang zu den dafür notwendigen Fakten haben? Wenn ihnen mittels einer Geheimhaltungsmaschine zum Beispiel vorenthalten wird, was tatsächlich in Afghanistan oder im Irak geschieht? Wikileaks hat da wie ein Eisbrecher gewirkt und Blicke unter die Oberfläche ermöglicht. Mir geht es um das Recht auf Information, das in unserer Welt in großer Gefahr ist. Bradley Manning hat ganz einfach Zivilcourage bewiesen, gerade als Soldat. Hätte er sein Wissen über die Kriegsverbrechen für sich behalten sollen? Dafür, daß er es mit anderen teilte, hätte er niemals bestraft werden dürfen. Was er öffentlich gemacht hat, betrifft ja nicht einmal die höchste Geheimhaltungskategorie.

Die hauptberuflichen Vertreter der deutschen Schwulenbewegung und die mit ihnen verbundenen Medien haben über den schwulen Soldaten Bradley Manning nicht öffentlich diskutiert, genausowenig über den schwulen Neonazi, der die Mordwaffe der NSU besorgte. Sind die Schwulen in der Mitte der Gesellschaft angekommen?

Ich weiß, daß es für Schwule in den USA nicht immer leicht ist. Viele dort sind sehr religiös und glauben, Schwule müßten in der Hölle schmoren. Trotzdem hätte ich erwartet, daß die Schwulenbewegung hinter Bradley Manning stehen würde. Das war überhaupt nicht der Fall. Manning ist gerade mal 24 Jahre alt und seit zwei Jahren im Gefängnis. Ein Jahr lang wurde er gefoltert, mußte sich ständig nackt ausziehen. Er wurde verhöhnt, durfte nicht im Schlafanzug schlafen. Ein Aktivist aus den USA, der heute in Europa lebt, hat mich für seine Manning-Unterstützergruppe gewonnen. Ich war Administrator und habe mehrere ernsthafte Anschläge auf unsere Website erlebt. Wir wurden diffamiert, aber die Zahl der Unterstützer wächst, und Manning braucht das sehr.

In Nordafrika wurden Regierungen, die lange vom Westen hofiert wurden, auf unterschiedliche Weise gestürzt. Der Westen feierte das als Freiheitskampf. Worum geht es Ihrer Ansicht nach?

Da schaue ich mir Hillary Clinton an. Sie lobt die Freiheitskämpfer in Ägypten, dreht sich um und hilft der CIA dabei, sie zu verprügeln. Das ist die totale Doppelmoral. Den meisten aus den Freiheitsbewegungen ist das bewußt. Aber die USA werden vom Rest der Welt beobachtet. Sie befinden sich auf dem gleichen Level der Informationsunterdrückung wie China. Das ist beängstigend! Diese Kontrolle über die Massen. Ich erinnere mich noch an die Diskussion, ob man nicht Chips in Menschen implantieren solle. Aber über Mobiltelefone und Computer folgen sie dir jetzt schon überall hin. Die Überwachung wird nicht mit Gewalt in unsere Körper gepflanzt – wir kaufen sie freiwillig! Wir konsumieren die Freiheit zu Tode.

Kürzlich haben Sie den Dalai Lama getroffen. Was ist der politische Hintergrund seiner Mission? Oft wird auf die autoritäre, mittelalterliche Gesellschaft Tibets hingewiesen, die durch China abgeschafft wurde.

Das ist vor allem chinesische Propaganda! Auch die Isländer lebten lange im Mittelalter. Sie hätten sich ebenfalls sehr gewehrt, wenn andere Völker sie überfallen hätten, um ihnen ihre Fortschrittsideen und ihre Ansicht von Modernisierung aufzuzwingen. Wenn man sich die Aktivitäten des Dalai Lama anschaut, wird man feststellen, daß er die Demokratisierung der tibetanischen Gesellschaft immer gefördert hat. Das aus Freiwilligen bestehende tibetanische Exilparlament existiert seit 50 Jahren und ist weltweit vernetzt. Der Dalai Lama hat seine politische Macht an die Exilregierung übergeben. Wer sind wir eigentlich, darüber zu befinden? Sind unsere Demokratien so perfekt? Die freundlichsten und bescheidensten Politiker, die ich jemals kennengelernt habe, sind die der tibetanischen Exilregierung.

In Reykjavík regiert eine Spaßpartei, die »Beste Partei«, deren deutsches Äquivalent »Die Partei« ist. Bürgermeister Jón Gnarr ist Komiker. Was machen geniale Dilettanten besser als hauptberufliche Politiker?

Wir sollten im Parlament ganz normale Menschen haben. Repräsentative Demokratie funktioniert nicht. Was wir brauchen, ist eine direkte Demokratie, in der die Interessen aller berücksichtigt werden. In unserer Partei wollen wir niemanden, der in einer Jugendorganisation zurechtgebogen wurde, bis er ins Schema paßt. Wie viele professionelle Politiker gibt es in Island? Sehr wenige. Die repräsentieren nicht das Volk, sondern eine kleine, isolierte Politikerkaste. Wir danken der »Besten Partei«. Sie hat Menschen die direkte Demokratie nähergebracht und gezeigt, daß konkrete Veränderungen möglich sind.

Wie konkret?

Das neue Parlament hat mehr Vorschläge diskutiert als alle anderen Regierungen zuvor. Gerade habe ich eine Resolution mit zwölf Gesetzen eingebracht. Es ist ein Spiel, ein Theater des Absurden, sich um seine Interessen zu kümmern. Den Piraten in Deutschland würde ich raten, wirklich ins System zu schauen, in dem sie sich gerade befinden. Um zu begreifen, wie es funktioniert. Mir gibt es extreme Freiheit zu wissen, daß es mir egal ist, ob ich diesen Job im Parlament auch morgen noch habe. Jeder Tag ist eine wunderbare Möglichkeit. Aber wenn ich zu lange im Parlament bleiben würde, könnte ich genauso wie die Politprofis werden.

Der isländische Präsident Ólafur R. Grímsson steht an diesem Samstag nach 16 Jahren Amtszeit erneut zur Wahl.[1]

16 Jahre, das ist unverschämt! Mehr als acht Jahre lang sollte niemand so etwas machen. Seien wir ehrlich: Macht korrumpiert! Kein Präsident hat soviel für die direkte Demokratie gemacht, dafür verdient Grímsson meinen Respekt. Aber nicht dafür, daß er die Banker unterstützt hat. Ich bin mir noch unsicher, wen ich in diesem Affenzirkus wählen werde.

Interview: Wolfgang Müller

* Aus: junge Welt, Samstag, 30. Juni 2012

[1] Siehe: Isländer stimmten für EU-Gegner
Amtsinhaber Olafur Ragnar Grimsson gewann Präsidentschaftswahlen (3. Juli 2012)


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