Drei Anläufe
Großbritannien billigte Irland 1914 erstmalig Selbstbestimmungsrechte zu
Von Florian Osuch *
Seit fast einhundert Jahren ist Irland geteilt. Der Norden der Insel gehört zu Großbritannien, der Süden ist unabhängige Republik. Die Aufspaltung Irlands wurde mit der Gründung des »Irish Free State« im Jahr 1922 besiegelt (siehe jW vom 1.12.2012), die Grundlagen wurden allerdings früher gelegt. Am 25. Mai 1914 verabschiedete das britische Parlament ein Gesetz mit der Bezeichnung »Home Rule« (englisch etwa Selbstregierung) und übertrug Irland Rechte der Selbstbestimmung. Der nordöstliche Teil der Insel blieb von den Regelungen ausgespart. Über 40 Jahre war die Home-Rule-Bewegung für eine Teilautonomie eingetreten. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges durchkreuzte jedoch die Pläne, und in Irland erstarkten Forderungen nach einem radikalen Bruch mit England.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es in Irland verschiedene Strömungen, die sich für demokratische Teilhabe und Selbstbestimmung einsetzten. Die Bevölkerung fühlte sich als Bürger zweiter Klasse, bei Wahlen waren sie gegenüber ihren Landsleuten in England benachteiligt. Bei einer verheerenden Hungersnot zwischen 1846 und 1849 starben rund eine Million Menschen, Hunderttausende wanderten aus (siehe unten). Die kollektive Erfahrung von Verelendung, Tod und Migration ließen Unabhängigkeitsbestrebungen erstarken. Es bildeten sich Organisationen wie »Young Ireland« (1848) oder die »Irish Republican Brotherhood« (1858), unterstützt wurden sie von Exiliren in Nordamerika. Es gab Aufstände und Revolten, die jedoch allesamt niedergeschlagen wurden.
1870 wurde in Dublin die »Home Rule League« gegründet. Sie verfolgte das Ziel einer regionalen Selbstverwaltung innerhalb Großbritanniens. Bei Wahlen konnte die Partei bis zu 60 der einhundert Mandate erringen, die Irland ins Parlament von Westminster entsandte. Durch eine Reform im Jahr 1884 wurden englische und irische Wähler erstmals gleichgestellt, und die Zahl der Abstimmungsberechtigten in Irland verdoppelte sich. Dies brachte die Home-Rule-Partei in eine Lage, die sie zum Zünglein an der Waage machte. Fortan konnten weder die Liberale Partei noch die Konservativen ohne Unterstützung aus Irland eine Regierung in London bilden.
Der liberale Premierminister William Gladstone befürwortete staatsrechtliche Reformen und erarbeitete 1886 ein erstes Gesetz zur Home Rule. Der Entwurf sah eine weitgehende Autonomie der Insel innerhalb des englischen Königreiches vor. Das »First Irish Home Rule Bill« fand jedoch keine Mehrheit. Es gab Neuwahlen, und Gladstone mußte abtreten. Einige Jahre stellte die Liberale Partei erneut die Regierung, und der neue Premier war wieder der alte. Dieser startete eine erneute Initiative. Das »Second Irish Home Rule Bill« unterschied sich nur wenig von der ersten Auflage und wurde 1893 im britischen Unterhaus angenommen, später allerdings im von Konservativen dominierten Oberhaus abgelehnt.
Bis zu einem dritten Vorstoß vergingen 20 Jahre. 1912 wurde wieder eine Vorlage ins Parlament eingebracht. Sie sah eine irische Teilautonomie für innere Angelegenheiten vor, für die äußeren Belange sollte weiterhin das britische Empire zuständig sein. Gegen diese eingeschränkte Selbstverwaltung – nicht einmal Polizeihoheit war für das irische Parlament vorgesehen – formierte sich heftiger Widerstand im Norden Irlands. Dort lebten mehrheitlich Menschen, die im Bund mit der englischen Krone verbleiben wollten. Aus ihren Reihen formierte sich die Unionist Party. Es waren u.a. Großgrundbesitzer und Industrielle, die um ihre Privilegien fürchteten. Der Widerstand wurde von Edward Carson angeführt. Er propagierte, notfalls auch mit Waffengewalt zu kämpfen. Dementsprechend wurde 1913 die »Ulster Volunteer Force« gebildet.
Die Befürworter der Home Rule rüsteten ebenso auf. Aus ihren Reihen entstanden die »Irish Volunteers«. Die Miliz sollte im Falle einer Übertragung von Autonomierechten an Irland die britische Armee bei der Umsetzung entsprechender Regelungen unterstützen. Auch Gewerkschaften bildeten bewaffnete Verbände. Zu den Gründern der »Irish Citizen Army« gehörten der Marxist James Connolly und der Arbeiterführer James Larkin.
Vor diesem Hintergrund wurde das dritte Home-Rule-Gesetz im britischen Parlament debattiert. Ein Kompromißvorschlag des liberalen Premierministers Herbert Henry Asquith sah nun auch vor, sechs Landkreise im Nordosten Irlands vorübergehend von der Regelung auszunehmen. Später sollte entschieden werden, was mit der Region geschehe. Das dritte Home-Rule-Gesetz wurde am 25. Mai 1914 verabschiedet und mußte wegen einer wenige Jahre zuvor erfolgten Reform das Oberhauses nicht mehr passieren. Der englische König billigte die Vorlage, doch die Umsetzung des Gesetzes wurde wegen des Beginns des Ersten Weltkrieges verschoben.
Ein Teil der Home-Rule-Bewegung schloß sich im Ersten Weltkrieg der Armee Großbritanniens an – in der Annahme, durch Loyalität die Verwirklichung der aufgeschobenen Selbstbestimmungsrechte zu sichern. Ein kleinerer Teil lehnte es ab, für die englische Krone zu sterben, und revoltierte. Doch der Dubliner »Osteraufstand« von 1916 scheiterte. Die Reaktion der britischen Herrscher in Irland – führende Revolutionäre wurden hingerichtet – sorgte für eine Wende in der politischen Ausrichtung der Bewegung. Auf Ausgleich bedachte Kräfte verloren an Einfluß und radikale Forderungen nach Unabhängigkeit wurden populär. Davon profitierte insbesondere die 1905 gegründete Partei Sinn Féin, die fälschlicherweise mit der Osterrebellion in Verbindung gebracht worden war.
Als nach Ende des Ersten Weltkrieges in Großbritannien erstmalig wieder gewählt wurde, gewann Sinn Féin 73 von 105 möglichen Sitzen. Die Abgeordneten zogen jedoch nicht ins englische Parlament ein, sondern fanden sich 1919 in Dublin als demokratische Regierung Irlands zusammen und erklärten einseitig die Unabhängigkeit. Während des Anglo-Irischen Kriegs (1919–1921) konnte sich keine Seite durchsetzen. Mit dem »Government of Ireland Act«, auch als viertes Home-Rule-Bill bezeichnet, entließ Großbritannien den Süden Irlands in eine weitreichende Selbstverwaltung und zementierte zugleich im nordirischen Separatstaat die Diskriminierung der irischen Bevölkerungsminderheit.
»Great Famine« in Irland: Trauma über Generationen
Zwischen den Jahren 1845 und 1849 kam es in Irland zu einer Folge von Ernteausfällen. Pilzbefall zerstörte mehrere Kartoffelernten. Die Insel stand unter englischer Herrschaft, und britische Großgrundbesitzer ließen das Land bewirtschaften. Irische Kleinbauern bauten Kartoffeln und Weizen an und hielten kleine Mengen Vieh. Tierische Produkte und Getreide dienten zur Pachtzahlung und wurden nach England verbracht und dort gehandelt. Die Bevölkerung war fast vollständig von der Kartoffel als Nahrungsmittel abhängig.
Die Ausbreitung des Pilzes zerstörte die Lebensgrundlage der Bevölkerung. Es wurde weiterhin Getreide nach England verschifft, auch weil der Preis für Weizen infolge von Mißernten auf dem europäischen Festland kräftig gestiegen war. In Großbritannien herrschte eine strikte Politik des freien Marktes. Es gab keine staatliche Regulierung. Erst spät griff die Regierung in London ein und installierte Suppenküchen in Irland. Bis zu drei Millionen Menschen wurden auf diese Weise ernährt, doch Hunderttausende waren bereits verstorben. Es folgte eine Massenauswanderung, vor allem in die Vereinigten Staaten. 1840 lebten in Irland noch 8,2 Millionen Menschen, 1880 waren es nur noch 5,2 Millionen.
Die leidvollen Erfahrungen des »Great Famine« ließen bei vielen Iren die Ablehnung gegenüber Großbritannien in Haß umschlagen. Die Erinnerungen an das menschenfeindliche Gewinnstreben der englischen Großgrundbesitzer und die Passivität der Zentralregierung in London prägten die Menschen in Irland und im US-amerikanischen Exil über Generationen.
* Aus: junge Welt, Samstag, 24. Mai 2014
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