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Rolle rückwärts

Irlands Bevölkerung soll nun doch über den EU-Fiskalpakt abstimmen

Von Uschi Grandel *

Wochenlang hatten EU- und irische Regierungsbeamte an den Formulierungen des Ende Januar in Brüssel beschlossenen Fiskalpakts gefeilt. Damit verpflichten sich alle EU-Mitgliedsstaaten außer Großbritannien und Tschechien, die den Vertrag nicht unterzeichnen wollten, zu drakonischen Sparmaßnahmen. Genau wurde darauf geachtet, daß die Formulierungen jeden Anschein eines Eingriffs in die nationale Souveränität Irlands vermeiden, weil laut Verfassung ein solcher Eingriff ohne die explizite Zustimmung der Bevölkerung nicht möglich ist.

Lange beharrte die irische Regierung gegen Forderungen nach einem Referendum auf dieser Position. Am Dienstag nachmittag vollzog jedoch der irische Taoiseach (Ministerpräsident) Enda Kenny vor dem Parlament in Dublin eine Kehrtwendung. Den Fiskalpakt ohne Befragung der irischen Bürger zu unterschreiben, war trotz der sicheren Mehrheit der Regierungskoalition aus konservativer Fine Gael und sozialdemokratischer Labour Party politisch nicht durchsetzbar.

Die größte Oppositionspartei im Dubliner Parlament, Sinn Féin, kritisiert den Kürzungskurs der Regierung seit langem und fordert gemeinsam mit unabhängigen Abgeordneten eine Volksabstimmung über den europäischen Fiskalpakt. Auch der neue irische Präsident Michael D. Higgins hatte letzte Woche angekündigt, er werde von seinem Recht, den Staatsrat einzuberufen, Gebrauch machen, falls die Regierung sich einem Referendum verweigere. Der Staatsrat bewertet die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung. Als dann noch Generalstaatsanwältin Máire Whelan, die oberste Rechtsberaterin der Regierung, für ein Referendum votierte, kapitulierte Kenna.

Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams begrüßte die neue Entwicklung und forderte eine offene und ehrliche Debatte über das Abkommen. Seine Partei sei »gegen diesen Vertrag und den Sparhaushalt. Es paßt nicht, daß die arbeitenden Menschen die Strafe für eine schlechte Regierung zahlen müssen, um die goldenen Zirkel, die Großbanker, die Aktionäre und die Immobilienspekulanten auszulösen«. Der Begriff »goldener Zirkel« steht in Irland für Netzwerke von Korruption und undurchsichtiger Bereicherung, gegen die in den letzten Jahrzehnten Dutzende Untersuchungen angestrengt wurden. Sinn Féin weist darauf hin, daß die Regierung nicht nur einer Sparpolitik zugestimmt habe, sondern auch einem Pakt zur Bankenrettung: »Die Vereinbarung schließt ausdrücklich künftige Wertberichtigungen von Schulden aus. Damit müssen alle Schulden toxischer Banken beglichen werden. Für die nächsten zehn Jahre sind dies jährlich 3,1 Milliarden Euro allein für die Anglo Irish Bank«, warnte der finanzpolitische Sprecher der Partei, Pearse Doherty.

Der Ausgang des Referendums ist offen. Im Juni 2008 hatte die irische Bevölkerung den Vertrag von Lissabon abgelehnt. Die Regierung hatte daraufhin im Oktober 2009 ein zweites Mal abstimmen lassen und knapp gewonnen. Die Gegner des EU-Pakts gehen davon aus, daß die Regierung wie damals versuchen wird, eine inhaltliche Auseinandersetzung zu vermeiden. Während Dublin es ablehnt, einen Zeitplan für die Durchführung des Referendums offenzulegen, gehen die Zeitungen des Landes von einem Abstimmungstermin im Mai oder Juni aus.

* Aus: junge Welt, 1. März 2012


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