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"Die jetzige Strategie führt uns noch tiefer in die Krise"

Die Wirtschaftsprobleme eröffnen aber eine neue Chance, für eine vereinigte irische Republik zu argumentieren. Ein Gespräch mit Gerry Adams *


Gerry Adams ist seit 1983 Präsident der irischen Linkspartei Sinn Féin und zur Zeit Abgeordneter im Parlament der Republik Irland. Er gehört seit Anfang der 70er Jahre zu den führenden Persönlichkeiten der Irisch-Republikanischen Bewegung und gilt als einer der Architekten des irischen Friedensprozesses.


Wie sicher ist die von der Finanzkrise gebeutelte Republik Irland unter dem Euro-Rettungsschirm?

Sie ist nicht sicher, ich sehe für uns keinen Vorteil darin, die Finanzhoheit abzugeben. Irland wurde von den Engländern kolonialisiert, der Kampf gegen sie dauerte Jahrhunderte. Mit Verlaub, ich möchte nicht die englische gegen eine deutsche oder französische Herrschaft eintauschen. Auf gleichberechtigter Basis können wir durchaus zusammenarbeiten, aber wir brauchen ein anderes Europa, das die Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Wie kann Irland seine gegenwärtigen Schwierigkeiten überwinden?

Die jetzige Strategie funktioniert nicht und führt die irische Volkswirtschaft noch tiefer in die Krise. Die Europäische Zentralbank (EZB) fordert jedes Jahr drei Milliarden Euro für toxische Banken, worin ich weder einen ökonomischen Sinn noch eine Moral erkennen kann. Der Internationale Währungsfonds (IWF) verlangt gar, daß wir unser Staatseigentum veräußern und Ausgaben kürzen. Aber auch das wird der irischen Bevölkerung nicht helfen.

Es gibt sechs Millionen Iren, davon 4,5 Millionen in der Republik Irland. Eine halbe Million Menschen hat dort keine Arbeit, viele junge Leute wandern aus. Wir brauchen daher Wachstum – wofür das Geld aber nicht in Banken gesteckt werden darf. Vielmehr müssen wir es für die Schulinfrastruktur, die Breitbandkommunikation und für Krankenhäuser ausgeben. Das würde die Defizite in diesen Sektoren reduzieren und die Bauindustrie beleben.

Die Ökonomie muß den Menschen dienen, daher müssen wir Arbeitsplätze schaffen und erhalten. Allein in Waterford haben 575 Menschen kürzlich ihren Arbeitsplatz verloren. Das ist vielleicht für deutsche Verhältnisse eine unbedeutende Größe, aber ein großer Verlust für die Region.

Wie beurteilen Sie die ökonomische Situation in Nordirland?

Wir wollen, daß die britische Regierung die Finanzhoheit für Nordirland an die Regionalregierung in Belfast überträgt. Die angekündigten Kürzungen werden unsere Probleme nur noch verschärfen.

Die Republik Irland wurde angesichts ihres zeitweiligen wirtschaftlichen Aufschwungs als »keltischer Tiger« bezeichnet. In dieser Zeit nahm der gesellschaftliche Reichtum enorm zu, wenn auch nicht für jeden. Aber immerhin – die Menschen konnten auf eine Chance hoffen. Jetzt ist alles in Gefahr.

Wenn von Nordirland die Rede war, ist allerdings nie das Wort vom »keltischen Tiger« gefallen, dort gab es nie einen wirtschaftlichen Aufschwung wie im Süden. Wir brauchen auf unserer kleinen Insel nun ein gemeinsames Wachstum. Im nordirischen Friedensabkommen ist eine irlandweite Kooperation festgelegt, die in Zukunft verstärkt in allen Bereichen praktiziert werden soll.

Das Motto Ihres letzten Parteitags war aber »Für eine neue Republik« und nicht »Für ein vereinigtes Irland«.

Es wird keine neue Republik ohne die Vereinigung beider Teile Irlands geben. Aber es hat sich als Ergebnis des Kollapses der Ökonomie im Süden und der Entwicklung neuer politischer Verhältnisse im Norden eine neue Diskussion entwickelt, die uns die Möglichkeit bietet, für diese neue Republik zu argumentieren.

Interview: Uschi Grandel

* Aus: junge Welt, 19. September 2011


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