Das Märchen vom Wurm
Aufregung um "Stuxnet" und das iranische Atomprogramm
Von Knut Mellenthin *
Am heutigen Freitag (21. Jan.) beginnt in Istanbul eine weitere Runde der Gespräche zwischen dem Iran und der Sechsergruppe, die aus China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Rußland und den USA besteht. Während diese sechs Staaten Teheran dazu drängen wollen, zentrale Teile seines zivilen Atomprogramms zu demontieren, haben iranische Politiker wiederholt angekündigt, daß man nur über internationale Zusammenarbeit und andere Fragen von gemeinsamem Interesse diskutieren wolle. Die Erwartungen an das zweitägige Treffen in der Türkei sind daher sehr gering.
In den vergangenen Tagen wurde in den Mainstreammedien wieder einmal behauptet, daß die Iran unterstellte Entwicklung eigener Atomwaffen durch Sabotageakte und andere »verdeckte Maßnahmen« – zu denken ist dabei an die Ermordung von Nuklearwissenschaftlern – »um einige Jahre zurückgeworfen worden« sei. In erster Linie geht es dabei um den Computerwurm »Stuxnet«, den Spiegel online als »großen Erfolg« feiert. Die
New York Times hatte am vorigen Sonnabend (15. Jan.) berichtet, »Stuxnet« sei in monatelanger Gemeinschaftsarbeit von den USA und Israel entwickelt worden. In einem unterirdischen Bunker des israelischen Reaktors Dimona sei sogar die Zentrifugenanlage von Natanz nachgebaut worden, um den Wurm zu testen. Die angebliche Wirkungsweise von »Stuxnet« sei so, daß er das Computerprogramm durcheinander bringt, das die Zentrifugen steuert. Dadurch würden diese abwechselnd extrem stark beschleunigt und dann jäh abgebremst. Das zerstöre die Maschinen schon nach kurzer Zeit.
Die Urananreicherung in Natanz wird von der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA ständig intensiv kontrolliert. Seit dort im Februar 2007 die Arbeit aufgenommen wurde, lag bei allen Inspektionen ein erheblicher Teil der installierten Zentrifugen gerade still. Die Zahl der arbeitenden Maschinen schwankte deutlich: zwischen einem Maximum von 4920 am 31. Mai 2009 und einem Minimum von 3772 am 29. Januar 2010. Bei einer Inspektion am 16. November 2010 sei sogar festgestellt worden, daß keine einzige Zentrifuge in Betrieb war. Allerdings liefen kurz vorher und kurz nachher rund 4800 Maschinen.
Das eigentliche technische Problem liegt offenbar darin, daß Iran in Natanz immer noch ausschließlich die veralteten, sehr störanfälligen Zentrifugen im Einsatz hat, die von der IAEA als IR-1 bezeichnet werden und ursprünglich aus Pakistan stammen. Selbst die Medien behaupten indessen nur, daß etwa ein Fünftel aller iranischen Zentrifugen vorübergehend durch Stuxnet lahmgelegt worden sei. Das kann also die iranische Urananreicherung unmöglich »um Jahre zurückgeworfen« haben.
Der Zweck der immer wieder verbreiteten Gerüchte über »Verzögerungen« des iranischen Atomprogramms liegt auf der Hand: Seit etwa 1990 behauptet die westliche Propaganda regelmäßig, daß Iran nur noch zwei, drei oder höchstens fünf Jahre von der Bombe entfernt sei. Wenn die Lüge weiterleben soll, und wenn sich der Westen nicht selbst unter militärischen Zugzwang bringen will, muß er von Zeit zu Zeit die Uhr wieder um ein paar Jahre zurückstellen.
* Aus: junge Welt, 21. Januar 2011
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