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Kurz vorm Kollaps?

Hintergrund. Die Iran-Sanktionen der USA und der EU werden zum Wirtschaftskrieg gegen den Rest der Welt

Von Knut Mellenthin *

US-Amerikaner und Briten fragen: »Are the Iran sanctions working?« Deutsche Politiker und Journalisten begnügen sich meist mit der sehr viel dumpferen Fragestellung: »Zeigen die Sanktionen Wirkung?« Das ist durchaus nicht ganz dasselbe. Die englischsprachige Formulierung zielt nämlich nicht nur auf eine vordergründige Momentaufnahme, sondern bedeutet gleichzeitig auch: Funktionieren die Sanktionen, funktioniert das System der Sanktionen gegen Iran?

Auch in diesem Fall muß man immer noch unterscheiden, was eigentlich gemeint ist: Schädigen die Strafmaßnahmen lediglich die iranische Wirtschaft? Oder sind sie darüber hinaus geeignet, die Führung in Teheran zum Verzicht auf wesentliche Teile ihres Atomprogramms zu zwingen? Daß ersteres der Fall ist, wird sogar von iranischen Politikern eingeräumt, kann also als Tatsache vorausgesetzt werden. Umstritten ist hingegen das gegenwärtige Ausmaß der Schäden und ihrer sozialen Folgen. Die Bandbreite der Bewertungen liegt zwischen der Selbstauskunft der iranischen Führung, das Ganze sei nicht wirklich schlimm, und man habe schon viel üblere Zeiten durchgestanden, und dem Urteil, die Auswirkungen der Sanktionen seien bereits jetzt »dramatisch«, ja sogar »verheerend«. Das behaupten gleichermaßen bekennende Feinde Irans wie andererseits auch manche Menschen, die es gut mit Land und Leuten meinen und sich an die mörderischen Auswirkungen der Irak-Sanktionen zwischen 1991 und 2003 erinnern.

Hunderttausende irakische Kinder sollen damals infolge der Blockademaßnahmen ums Leben gekommen sein. Legendär ist der Dialog zwischen der Journalistin Lesley Stahl und US-Außenministerin Madeleine Albright am 12. Mai 1996 in der Sendung »60 Minutes« von CBS: »Wir haben gehört, daß eine halbe Millionen Kinder gestorben seien. Ich meine, das sind mehr Kinder als in Hiroschima starben. Und, was meinen Sie, ist der Preis es wert?« – Albright: »Ich denke, das ist eine sehr harte Entscheidung. Aber der Preis...Wir meinen, der Preis ist es wert.«

Verworrene Tiraden

Um auf die aktuelle Situation im Iran zurückzukommen: Funktionieren die Sanktionen über wirtschaftliche Beeinträchtigungen hinaus auch auf der politischen Ebene? Gibt es Anzeichen, daß sie die iranische Führung zu den vom Westen geforderten umfangreichen Verhaltensänderungen, die in Wirklichkeit weit über den Atomstreit hinausreichen, zwingen könnten? Die Beantwortung dieser Frage bringt westliche Politiker und Journalisten in Verlegenheit: Einerseits müssen sie angebliche Reaktionen der iranischen Führung konstruieren, die die »Strategie« der immer weiter verschärften Strafmaßnahmen als erfolgversprechend erscheinen lassen. Andererseits wollen sie aber auch an ihrer grundsätzlichen Darstellung festhalten, daß die Iraner verhandlungs- und kompromißunwillig seien. Schließlich muß irgendwie erklärt werden, daß der Westen die Verhandlungen im Juni abgebrochen und seither nicht wieder aufgenommen hat.

Dieses Dilemma produziert verschlungene Tiraden ohne innere Logik wie die von Richard Herzinger in Springers Kampfblatt Welt (vom 21.10.): »Das Teheraner Regime ist durch die Sanktionen im Atomstreit angeschlagen. Doch der Westen darf nicht davon ausgehen, daß es darum klein beigibt. Denn es folgt einer irrationalen Heilslehre. (…) Seit über einem Jahrzehnt hat das iranische Regime den Westen immer wieder mit Ankündigungen möglicher Zugeständnisse hingehalten. Tatsächlich hat es dann stets nur zum Schein verhandelt, um währenddessen seine Nuklearproduktion umso intensiver voranzutreiben. (…) Daß Teheran jetzt zur Abwechslung wieder einmal Kompromißbereitschaft signalisiert, besagt nicht mehr, als daß diese Strafmaßnahmen inzwischen dramatische Auswirkung auf die ohnehin morsche iranische Wirtschaft zeitigen.«

Aber wie morsch ist Irans Wirtschaft tatsächlich, und wie dramatisch sind die gegenwärtigen Auswirkungen? Steht gar Irans »Zusammenbruch« vor der Tür? Zumindest in absehbarer Zeit wohl nicht. Der Irak hat unter schlechteren Voraussetzungen sehr viel härtere Sanktionen über zwölf Jahre lang durchgestanden, vom August 1990 bis zum März 2003, ohne daß Saddam Hussein Anstalten machte, das Handtuch zu werfen. Eben das trug dann wesentlich zur amerikanisch-britischen Entscheidung bei, ihre Streitkräfte einmarschieren zu lassen.

Der Irak hatte, als der UN-Sicherheitsrat am 6. August 1990 nach der irakischen Annexion Kuwaits seine erste Sanktionsresolution verabschiedete, gerade einen für beide Seiten verheerenden Krieg gegen den Iran hinter sich, den Hussein selbst im September 1980 begonnen hatte und der erst acht Jahre später, im August 1988, durch einen Waffenstillstand beendet worden war. Anschließend zerstörten die USA und ihre Verbündeten im Kuwait-Krieg (17. Januar bis 28. Februar 1991) systematisch die gesamte irakische Infrastruktur durch Luftangriffe.

Die Resolution 661 vom August 1990 wurde ohne Gegenstimme verabschiedet; lediglich Kuba und Jemen enthielten sich. Der zentrale Punkt der Entschließung war die Verpflichtung aller Staaten, keine Produkte aus dem Irak zu importieren. So war das Land von einem Tag auf den anderen von allen Einnahmen aus dem Außenhandel, hauptsächlich aus dem Ölgeschäft, abgeschnitten. Dadurch standen, abgesehen von noch vorhandenen Reserven, keine Mittel für die Einfuhr von Gütern mehr zur Verfügung. Das sollte gelten bis zum Rückzug aus Kuwait und der Erfüllung weiterer Bedingungen.

Nach dem Kuwait-Krieg nahm der Sicherheitsrat am 3. April 1991 die Resolution 687 an, mit der das Embargo gegen Irak praktisch unbegrenzt verlängert wurde. Nun sollte es gelten, bis Irak alle chemischen und biologischen Waffen sowie alle Raketen mit einer Reichweite von mehr als 150 Kilometer »entfernt und zerstört« haben würde. Der Streit um diese Waffen, die teilweise gar nicht wirklich vorhanden waren, zog sich hin bis zum nächsten Krieg, den Washington und London am 19. März 2003 begannen. Gegen Resolution 687 stimmte nur Kuba; Jemen und Ecuador enthielten sich.

Die Lebenslage der Bevölkerung verschlechterte sich durch das Embargo in den nächsten Jahren so drastisch, daß der Sicherheitsrat im April 1995 durch die einstimmig angenommene Resolution 986 das Oil-for-Food-Programm einführte. Es erlaubte dem Irak, unter internationaler Überwachung genau festgelegte Mengen Öl zu verkaufen und für einen kleinen Teil davon dringend benötigte Lebensmittel, Medikamente und andere »humanitäre« Waren zu importieren. Der größte Teil der Erlöse floß in Kriegsentschädigung für Kuwait und Verwaltungskosten der UN-Kontrollen, denen das Land seit 1991 unterworfen war.

Dadurch, daß die damaligen Sanktionen gegen den Irak von den Vereinten Nationen, einschließlich Rußlands und Chinas, gemeinsam getragen wurden, unterschieden sie sich grundsätzlich von den gegenwärtigen Strafmaßnahmen, denen der Iran ausgesetzt ist. Zwar lautet die vereinheitlichte Sprachregelung des nordamerikanisch-europäischen Mainstreams, daß Iran einer geschlossenen Front der »internationalen Gemeinschaft« gegenüberstehe. Sachlich betrachtet ist das jedoch eindeutig eine Propagandalüge.

Zwar hat der UN-Sicherheitsrat von Dezember 2006 bis Juni 2010 insgesamt vier sanktionsbewehrte Resolutionen angenommen, die Iran unter anderem zum vollständigen und unbefristeten Verzicht auf die Anreicherung von Uran auffordern. Die damit verbundenen Strafmaßnahmen sind jedoch wirtschaftlich unerheblich. Sie betreffen im Wesentlichen nur Güter, die für das unterstellte militärische Atomprogramm und für die Entwicklung von ballistischen Raketen von Bedeutung sein könnten. Außerdem darf der Iran keine Waffen exportieren, was nie ein relevanter Faktor in seiner Handelsbilanz war, und zahlreiche Waffenarten dürfen nicht mehr in den Iran geliefert werden. Die UN-Sanktionen sind eine hübsche Dekoration für die Politik der USA und ihrer engsten Partner, weil sie die Lüge von der »internationalen Gemeinschaft« zu stützen scheinen, aber sie sind nicht effektiv.

Akteure und Opfer

Alle, buchstäblich alle gegen den Iran bisher verhängten Sanktionen, die für eine Debatte über wirtschaftliche Folgen überhaupt in Frage kommen, sind »einseitig«, wie das meistens dafür benutzte, aber nicht ganz zutreffende Wort lautet. Das bedeutet: Diese Maßnahmen wurden nicht von den Vereinten Nationen, sondern nur von einzelnen Regierungen oder von der 27 Länder umfassenden Staatengemeinschaft der Europäischen Union beschlossen. Sie richten sich zum Teil gegen den Iran, wie etwa das am 1. Juli in Kraft getretene Ölembargo der EU. Hauptsächlich zielen sie aber auf die Geschäftspartner Teherans, die durch wirtschaftliche und politische Druck- und Zwangsmittel dazu gebracht werden sollen, sich nach und nach völlig aus diesem Handel zurückzuziehen. Praktisch geht es um den historisch beispiellosen Versuch, eine umfassende internationale Blockade gegen ein Land durchzusetzen, ohne dabei die klassischen militärischen Instrumente anzuwenden. Das ist, neben allen anderen Aspekten, auch ein zukunftsweisendes Großexperiment, dessen Opfer irgendwann Rußland und China sein könnten.

Es sind nur wenige Regierungen, die als selbstgekrönte »internationale Gemeinschaft« hinter diesen sogenannten einseitigen Sanktionen stehen: Die USA, die EU, Kanada und – nicht zu vergessen – natürlich Israel – mehr sind es in Wirklichkeit nicht. Der Rest der Welt trägt diese als »Diplomatie« maskierte Erpressungsstrategie nicht mit, sondern ist ihr passiv ausgesetzt. Darunter sind auch Staaten, die zweifelsfrei zur »westlichen Allianz« gehören, wie Japan, Südkorea und die Türkei, und von den USA abhängige Länder wie Pakistan, Afghanistan, Irak und Ägypten. Selbst innerhalb der EU besteht keine Einigkeit über die Sanktionen, wie etwa der Widerstand Griechenlands und Schwedens gegen eine Reihe von Maßnahmen zeigt.

Die sogenannte »freie Welt« wird durch die Iran-Sanktionen in Akteure und Opfer differenziert. Daß sie dadurch auch geteilt oder gar gespalten würde, wäre angesichts der unangreifbar scheinenden Dominanz der USA freilich zu viel gesagt – nicht unbedingt für alle Zeiten, aber doch in der gegenwärtigen Phase. Langfristig stellt sich allerdings die Frage, wie lange die USA und der engste Kreis ihrer Juniorpartner dem Rest der Welt, vor allem Rußland und China, noch in dieser Weise ihren Willen aufzwingen können.

Die Regierungen in Moskau und Peking haben ihre Position schon wiederholt klar formuliert. »Wir erkennen die zahlreichen Sanktionen nicht an, die die USA unter dem Schleier der Besorgnis über das iranische Atomprogramm unautorisiert einführen und die dem internationalen Recht scharf widersprechen. Wir betrachten die Versuche, die inländische amerikanische Gesetzgebung auf die gesamte Welt auszuweiten, als völlig unannehmbar und unzulässig. Wir weisen die Methoden offener Erpressung zurück, die die USA gegen Unternehmen und Banken anderer Länder anwenden«, hieß es am 13. August 2012 in einer Stellungnahme des russischen Außenministeriums. China verurteilte am 1. August 2012 die wiederholten US-amerikanischen Strafmaßnahmen gegen chinesischen Firmen und Geldinstitute als »schwerwiegende Verletzung der Prinzipien der internationalen Beziehungen«. Das könne die bilaterale Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern negativ beeinflussen, warnte ein Sprecher des Pekinger Außenministeriums mit diplomatischem Understatement.

Die iranische Führung denkt vermutlich an solche Tendenzen zum Widerstand gegen das US-amerikanische Diktat, wenn sie sich nach außen hin zuversichtlich gibt, die Sanktionen zu überstehen und letztlich sogar ihre ehemals umfangreichen Handelsverbindungen zur EU wieder aufnehmen zu können. Iran ist dafür besser ausgestattet, als man aufgrund vieler vordergründiger Darstellungen meinen könnte. Dem von der CIA alljährlich erstellten Factbook of the World zufolge hatte das iranische Bruttosozialprodukt (GDP) nach Kaufkraftwert im Jahre 2011 eine Höhe von rund 930 Milliarden Dollar. Das entspricht dem Platz 17 oder 18 der Weltrangliste. Irans Außenhandel weist regelmäßig ein hohes Plus auf, das zu Reserven in Gold und Devisen zwischen 70 und 100 Milliarden Dollar geführt hat.

Grundlage dafür sind riesige Ressourcen an Öl und Erdgas. Bei den Ölvorkommen liegt Iran auf Platz drei der Weltrangliste hinter Saudi-Arabien und Kanada, beim Erdgas auf Platz zwei hinter Rußland. Iranische Experten haben die durchaus plausible These aufgestellt, daß ihr Land sogar die größten Hydrokarbon-Vorkommen der Welt besitzt, wenn man Öl und Erdgas zusammenrechnet. Anders als manche anderen ölreichen Länder, insbesondere auf der arabischen Halbinsel, hat der Iran schon vor Jahren damit begonnen, einen Teil der Profite in Industrieprojekte zu investieren. Angestrebt wird, daß das Land in Zukunft weniger Rohöl als andere Waren, einschließlich Produkten aus der Ölverarbeitung, exportiert. Ob dieses Ziel wirklich, wie von der Teheraner Regierung behauptet, schon in diesem Jahr realisiert werden kann, ist allerdings zweifelhaft.

Hauptziel der amerikanisch-europäischen Sanktionen ist, den iranischen Erdöl-Export drastisch zu reduzieren und letztlich ganz unmöglich zu machen, um dem Land die Mittel für den Import von Lebensmitteln und anderen Konsumgütern, ebenso wie zur Finanzierung der Staatsausgaben zu nehmen. Da die EU-Länder zuletzt nicht einmal ein Fünftel der iranischen Öl-Ausfuhr abnahmen und die USA als Importeur ohnehin schon seit vielen Jahren aus dem Spiel sind, war die Wirkung direkter Boykottmaßnahmen von vornherein gering. Im Jahr 2010 gingen 20 Prozent des iranischen Öl-Exports nach China, 17 Prozent nach Japan, 16 nach Indien und neun nach Südkorea. Außerdem ist die Türkei ein bedeutender Importeur sowohl von Erdöl als auch von Naturgas aus dem Iran. Vor allem auf diese Länder wollen also die USA und die EU Druck ausüben, um ihr Ziel zu erreichen.

Ein in diesem Jahr in Kraft getretenes Gesetz schließt alle Länder vom US-amerikanischen Finanz- und Gütermarkt aus, die weiterhin iranisches Erdöl einführen. Das Außenministerium kann einzelne Länder für jeweils sechs Monate von der Anwendung dieses Gesetzes ausnehmen, wenn sie »bedeutende« Einschränkungen am Ölimport aus dem Iran vorgenommen haben. Die ersten Sondergenehmigungen wurden im März erteilt, die zweite Welle hat im September begonnen. Bisher hat das State Department allen betroffenen Ländern, auch China, attestiert, daß sie die Einfuhr in zufriedenstellender Weise gedrosselt haben und sich, in der überheblichen Ausdrucksweise von Oberbewährungshelferin Hillary Clinton, »in die richtige Richtung« bewegen. Längerfristig muß dieses System dazu führen, daß die von Washington erpreßten Länder ihre Ölimporte aus dem Iran wirklich schrittweise gegen Null senken – oder irgendwann die Zwangsjacke sprengen.

Die EU assistiert der Führungsmacht der westlichen Allianz, indem sie es den Schiffsversicherungsgesellschaften – jahrhundertelang nahezu ein Monopol weniger europäischen Unternehmen – im Frühjahr verboten hat, im Zusammenhang mit iranischen Öltransporten tätig zu werden. Das hat jedoch dazu geführt, daß teils iranische und teils japanische, südkoreanische oder indische Versicherer eingesprungen sind. Nicht nur aufgrund expliziter Sanktionen, sondern auch, um Nachteile auf dem US-Markt zu vermeiden, haben sich viele westliche Reedereien inzwischen völlig aus dem Iran-Geschäft zurückgezogen. Einen großen Teil seines Öls transportiert der Iran, der die drittgrößte Tankerflotte der Welt besitzt, jetzt auf eigenen Schiffen. Um noch mehr Kapazität zu gewinnen, hat Teheran zwölf Riesentanker in China bestellt, deren erste schon geliefert wurden. Devisen und Gold sind schließlich immer noch genug in der Kasse.

Hebel Finanzmarkt

Ein weiterer Hebel der USA ist ihre nahezu diktatorische Stellung auf den internationalen Finanzmärkten. Inzwischen drohen sie allen Firmen und Banken, die noch Transaktionen mit iranischen Banken vornehmen, mit schweren Nachteilen und sogar mit hohen Geldbußen, um sich von unterstellten »Verfehlungen« freizukaufen. Einen großen Teil seines Außenhandels wickelt Iran mittlerweile über Landeswährungen der Partnerländer wie den chinesischen Yuan, die indische Rupie oder auch über Warentauschgeschäfte ab. So »zahlt« Pakistan zum Beispiel für iranisches Erdöl mit Weizenlieferungen. Es zeichnet sich ab, daß auf diese Weise nicht nur die traditionelle Stellung des Dollars als Weltleitwährung, sondern auch wesentliche Verfahrens- und Vertrauensgrundlagen des internationalen Handels durch die amerikanisch-europäischen Sanktionen zerstört oder mindestens schwer erschüttert werden. Daß Länder wie Rußland, China oder Indien daraus ihre praktischen und strategischen Schlußfolgerungen ziehen, auch wenn sich das bisher nicht in großen öffentlichen Polemiken und direkten Konfrontationen äußert, ist selbstverständlich. Die Iran-Sanktionen sind ein unübersehbares Dementi der Lüge, daß der kalte Krieg beendet sei.

Und der Preis, ist er es wert? Nach Angaben der Welthandelsorganisation (WTO) hatten Irans Exporte im vorigen Jahr einen Gesamtwert von 131 Milliarden Dollar. Über 100 Milliarden davon entfielen auf Erdöl. In diesem Jahr könnte die iranische Ölausfuhr nach westlichen Schätzungen auf 70 Milliarden Dollar sinken. Von einer Katastrophe, gar von einem wirtschaftlichen Zusammenbruch ist das jedoch weit entfernt.

Um das zu verstehen, sollte man die Entwicklung des iranischen Außenhandels betrachten. Zu Beginn des Streits um Teherans Atomprogramm, im Jahr 2003, hatten Irans Exporte lediglich einen Wert von knapp 30 Milliarden Dollar. 2006, als die erste Sanktionsresolution des UN-Sicherheitsrats beschlossen wurde, waren es etwas über 60 Milliarden. Im Jahr 2004 lagen Irans Einnahmen aus dem internationalen Ölgeschäft wegen der erheblich niedrigeren Preise nur bei 37 Milliarden. 2006 waren es dann 46 Milliarden, also immer noch deutlich unterhalb der westlichen Prognosen für das laufende Jahr. Von einer »dramatischen Lage« sprach damals kaum jemand.

Das Gleiche gilt, wenn man die Importseite betrachtet: Im Jahre 2000 führte Iran nur Waren im Wert von 13,7 Milliarden Dollar ein, 2009 waren es mit 55,2 Milliarden mehr als viermal so viel und 2011 schließlich 76,1 Milliarden. Zusammengebrochen ist der Iran vor zwölf Jahren trotz eines sehr viel niedrigeren Importvolumens bekanntlich nicht. Auch vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß das Land nicht so leicht und schnell auszuhungern ist, wie manche westlichen Sanktionsbefürworter glauben machen wollen – selbst wenn es noch mehr vom Außenhandel abgeschnitten würde.

Mark Dubowitz, Direktor der neokonservativen Foundation for Defense of Democracies in Washington, konstatierte am 15. Oktober in der Jerusalem Post: »Nach unserer Analyse der iranischen Zahlungsbilanz reichen Irans Devisenreserven unter gegenwärtigen Bedingungen noch mindestens zwei Jahre.« Das scheint indessen auf den negativsten, unwahrscheinlichen Fall berechnet, daß das Land sämtliche Exporteinnahmen verlieren würde.

Letztlich könnte es den USA und der EU vielleicht gelingen, die iranische Wirtschaft wirklich zu ruinieren. Immer vorausgesetzt, Rußland, China und andere Schwergewichte der Weltpolitik spielen weiter brav mit und lassen sich von Washington herumschubsen. Aber selbst dann würde es voraussichtlich einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren erfordern, um die Sanktionen zum »Wirken« zu bringen. Indessen ist der Druck in den Kesseln, die von der westlichen Propaganda ständig immer stärker angefeuert werden, schon jetzt gefährlich hoch. Das hysterische Alarmgeschrei, Teheran sei nur noch sechs oder höchstens zwölf Monate von der Bombe entfernt, wird sich kaum noch weitere zehn Jahre fortsetzen lassen.

* Aus: junge Welt, Montag, 29. Oktober 2012


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