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"Die Besatzung läßt die Zeit für Afghaninnen stillstehen"

Gespräch mit Elaheh Rostami-Povey. Über die Kriegsdrohungen gegen Iran und die Folgen eines weiteren Militärschlages für die gesamte Region, die Situation von Frauen am Hindukusch, deren Instrumentalisierung in der NATO-Kriegspropaganda und Perspektiven der Befreiung

Dr. Elaheh Rostami-Povey ist gebürtige Iranerin. Sie lehrt an der School of Oriental and African Studies der University of London und ist aktiv in der britischen Antikriegsbewegung.



In den Medien ist immer häufiger von Angriffsdrohungen gegen Iran zu lesen und zu hören. Wächst die Gefahr eines Militärschlages?

Die Kriegsgefahr ist sehr stark. Die USA und Israel planen, Iran anzugreifen. Bei den Demokraten und speziell bei ihrem designierten Präsidentschaftskandidaten Barack Obama kann man einen Sinneswandel beobachten. Zuerst sagte der, er würde einen Militärschlag ausschließen. Nachdem er seine parteiinterne Konkurrentin Hillary Clinton im Vorwahlkampf besiegt hatte, erklärte Obama das Gegenteil. Das ist Folge des Drucks der Neokonsvervatien und der Medien in den USA, die über die Situation im Iran lügen. Sie haben eine Welle der Islamophobie und Iranophobie geschaffen. Und sie verbreiten dieselben Lügen – Stichwort: Besitz von Massenvernichtungswaffen bzw. das Streben danach – wie damals, als es um einen Angriff gegen den Irak ging.

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) hat immer wieder berichtet, daß Teheran kooperativ und offen für Verhandlungen ist. Und laut IAEO stimmt es nicht, daß Iran über Atomwaffen verfügt.

Nun wird hierzulande immer wieder gesagt, Iran wolle Israel auslöschen.

Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad hat das nie gesagt. Das zeigt wieder einmal wie die westlichen Medien mit ihm und anderen Staatschefs aus der sogenannten dritten Welt umgehen. Ahmadinedschad hat gesagt, daß der zionistische Staat ein unterdrückerischer Staat ist, ähnlich dem Faschismus und des sowjetischen Kommunismus, und daß diese unterdrückerischen Staaten ausgelöscht wurden. Wenn Israel weiterhin Palästinenser tötet und aushungert, wird es nicht überleben.

Ich stimme nicht mit dem historischen Vergleich überein und auch nicht damit, daß Ahmadinedschad behauptet, die Ermordung von sechs Millionen Juden im Holochaust wären historisch nicht belegt. Aber Israel ist ein kolonialer, rassistischer Staat, der Palästinenser tötet und verhungern läßt. Der Angriff auf den Libanon 2006 hat gezeigt, daß Israel eine Gefahr für seine Nachbarstaaten ist.

Der Vergleich mit dem Apartheid-Staat in Südafrika ist heute zutreffender als zuvor. Das Apartheidssystem hat nicht überlebt, Israel als Apartheidsstaat wird nicht überleben. Israels Zukunft liegt in der Kooperation mit den Menschen in der Region, nicht als Bündnispartner der USA.

Wie würde ein Angriff auf Iran ablaufen, und welche Folgen hätten die Militärschläge?

In meiner Universität wurde eine wissenschaftliche Studie zu der Frage ausgearbeitet. Dafür wurden alle Websites der Neokonservativen durchsucht. Das Ergebnis: Die Neokonservativen wollen den Iran an rund 10000 Orten mit sogenannten intelligenten Waffen angreifen. In einigen Fällen wollen sie Nuklearbomben nutzen, weil die Kraftwerke auf die sie zielen, unter der Erde liegen. Nach Schätzung der Forscher könnten innerhalb der ersten fünf bis sechs Stunden bis zu zwei Millionen Menschen sterben. Weitere Millionen würden verletzt.

Der US-Enthüllungsjournalist Seymour Hersh und andere belegen, daß US-amerikanische Agenten bereits in Iran operieren. Sie versuchen, die Iraner über politische und nationale Fragen zu spalten. Sie nutzen zudem legitime zivilgesellschaftliche Organisationen für einen Regimewechsel. Sie bezahlen und trainieren eine Reihe von Gruppen im Irak und der Golfregion, damit diese den Regimewechsel für sie erledigen.

Der Schaden, den ein Militärschlag anrichten würde, wäre katastrophal. Iran ist in der Lage, die Ölfelder anzugreifen. Nicht nur die iranischen, sondern auch die in der Golfregion. Das ist der Grund dafür, warum selbst Saudi-Arabien und die Golfstaaten gegen einen Krieg sind.

Wenn die Ölfelder zerstört werden, wird das weitreichende Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben. Schon jetzt breitet sich eine Wirtschaftskrise über den Erdball aus. Man kann sich also gut vorstellen, was mit der Weltökonomie passiert, wenn Iran angegriffen wird. Und überall werden die einfachen Menschen die Leidtragenden sein.

Wie würde sich ein Militärschlag auf die politischen und sozialen Bewegungen in Iran auswirken?

Zunächst müssen die Menschen in der westlichen Welt begreifen, daß es im Iran nicht nur Mahmud Ahmadinedschad gibt, sondern auch eine Demokratiebewegung. Es gibt Gewerkschaften, Menschen, die sich für die Rechte von Frauen, Lesben und Schwulen einsetzen, Studentengruppen sowie nationale und religiöse Minderheiten, die sich engagieren. Angesichts eines drohenden Angriffes geraten all diese Bewegungen extrem unter Druck.

Ein Krieg wäre ohne zweifel schlimm für die gesamte Region. Im Irak gab es unter Saddam Hussein zwar Unterdrückung, aber zumindest Schulen, Strom, Wasserversorgung – und es gab keine Al-Qaida. Das ist jetzt anders. Ein Angriff auf den Iran würde dazu führen, daß auch in Iran der Extremismus explodiert. Zu befürchten ist, daß es in europäsichen Städten Terrorakte geben wird.

Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht: Iran garantiert heute die Sicherheit im Rest der Region. Wenn dieser stabilisierende Faktor nicht mehr da ist, wird es keine Sicherheit in der Region und im Rest der Welt geben. Im Fall eines Iran-Krieges werden die Taliban und Al-Qaida in Afghanistan in der Lage sein, mehr Menschen zu rekrutieren.

Was hat ein Iran-Krieg mit der Situation in Afghanistan zu tun?

Der Hintergrund der Afghanistan-Besatzung ist simpel: Die USA verlieren an ökonomischer Macht, sind aber gleichzeitig bemüht, ihren Einfluß gegenüber Konkurrenten wie Indien und China zu stärken. Nach dem 11. September 2001 haben die USA gedacht, daß sie den Nahen und Mittleren Osten unter ihre Kontrolle bringen können. Sie dachten, daß sie das Versagen des Neoliberalismus kompensieren könnten, indem sie mit Waffengewalt die Kontrolle über die Resourcen herstellen und Indien und China die Stirn bieten. Um nicht mehr und nicht weniger geht es in Afghanistan und Iran.

Aber die USA sind gescheitert. Sie sind im Irak gescheitert, sie sind in Afghanistan gescheitert und und sie werden im Iran scheitern – aber mit verheerenden Konsequenzen für die Menschen in den Ländern und die Ökonomie global.

Sie waren mehrfach in Afghanistan und bei afghanischen Flüchtlingen in Iran und Pakistan. Inwiefern hat sich die Situation der Afghaninnen seit der Invasion im Oktober 2001 verändert?

Viele Frauen in Afghanisten waren überglücklich über das Ende des Taliban-Regimes. Ich habe gesehen wie alle gefeiert haben. Aber was ist für die Frauen erreicht worden? Taliban und Al-Qaida kontrollieren wieder über 70 Prozent des Landes. Die westlichen Regierungen brüsten sich damit, daß Mädchen dank der NATO in Afghanistan wieder zur Schule gehen können, aber es gibt keine Schulen, zu denen sie gehen könnten. Die Sicherheitslage ist heute so schlecht, daß viele Frauen sich nicht trauen, aus dem Haus zu gehen.

Der Entwicklungsbericht der Vereinten Nationen stellt fest, daß Afghanistan das fünftärmste Land der Welt ist. 70 Prozent der Afghanen haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. In städtischen Regionen können 30 Prozent lesen und schreiben, in einigen ländlichen Regionen ist es ein Prozent. Die Lebenserwartung liegt bei gerade mal etwas über 40 Jahren.

Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch, weil die Ökonomie auf die Opiumproduktion konzentriert ist. Bauern, die in der Schlafmohnproduktion arbeiten, können bestenfalls ihre Lebenshaltungskosten decken, während die Warlords und Drogenhändler Millionen machen. Was für eine Befreiung ist das?

Es gibt eine kleine Minderheit von Frauen, die gebildet sind und Englisch sprechen. Sie arbeiten für Nichtregierungsorganisationen oder die Vereinten Nationen, das stimmt. Aber ist das Frauenbefreiung?

Oxfam und UN-Organisationen sagen, daß für die Mehrheit der Menschen in Afghanistan die internationale Gemeinschaft ein Teil des Problems ist. Das ist auch der Grund dafür, warum mehr und mehr Mitarbeiter von NGOs und der Vereinten Nationen angegriffen werden. Die Taliban und Al-Qaida sehen sie als Invasoren, und sie stehen damit nicht alleine da.

Es werden Milliarden Dollar für Afghanistan ausgegeben. Aber die Menschen fragen sich: »Warum gibt es hier keine Krankenhäuser und Schulen?« Der Grund ist simpel: Die Afghanen sind nicht der Grund für den »Wiederaufbau« des Landes. Es geht um die Kontrolle über diese Region.

Drohen nicht Chaos und Bürgerkrieg, wenn sich der Westen zurückzieht?

Der Irak befindet sich doch bereits im Bürgerkrieg, und es gibt Krieg in Afghanistan. Der Bürgerkrieg ist die Folge von Einmarsch und Besatzung. Vor dem Irak-Krieg gab es Saddam Husseins Diktatur. Aber Sunniten, Schiiten und Kurden lebten zusammen. Das kann man allein daran sehen, daß der Grad der Heiraten zwischen den Bevölkerungsgruppen sehr hoch war. Nun bauen die amerikanischen Invasoren Mauern und unterstützen die eine Gruppe gegen die andere.

In Afghanistan hat es schon immer verschiedene ethnische Gruppen gegeben, und es hat schon immer Konflikte zwischen ihnen gegeben. Gewaltsam wurden diese Konflikte aber erst, wenn fremde Mächte intervenierten: Erst die Briten, dann die Sowjettruppen, nun die NATO und US-Armee.

Es ist eine absolut rassistische und koloniale Haltung zu sagen, »wenn wir nicht interventieren, werden sie sich gegenseitig an die Gurgel gehen«. Diese koloniale Haltung ist, so schreibt Edward Said, tief im Denken der westlichen Menschen verwurzelt. Sogar bei Liberalen, Linken und Sozialisten. Diese Geisteshaltung, daß wir der sogennanten dritten Welt überlegen sind, wirkt sich besonders im Verhältnis zu muslimischen Ländern und zur islamschen Kultur aus.

Aber sind Frauen nicht besonders unterdrückt in diesen Ländern?

Was ist Unterdrückung? Hat es etwas mit der Teilhabe von Frauen in der öffentlichen Sphäre zu tun? Im islamischen Iran können 94 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben. Das ist mehr als in Großbritannien und in den USA. 65 Prozent der Studierenden in Iran sind Frauen. Der Anteil von weiblichen Abgeordneten ist gering – vier Prozent oder 13 Frauen – aber das entspricht in etwa dem Anteil in der Türkei. Um die Türkei wird nicht so ein Aufheben gemacht. Das ist doch Heuchelei.

Iran hat den gleichen Anteil an Frauen im gehobenen Management und in Vorständen wie Südkorea. Es sind nur 13 Prozent. Aber wird davon gesprochen, daß Frauen in Südkorea besonders unterdrückt sind?

Gegen barbarische Bestrafungen wie Steinigungen mobilisieren in Iran immer mehr Frauengruppen. Dasselbe gilt für Afghanistan. Die Menschen dort wollen in Frieden leben, und sie können selbst für ihre eigenen Rechte kämpfen.

Woher nehmen Sie dieses Vertrauen?

Frauen haben unter den Taliban keinen einzigen Tag verschenkt und für ihre Rechte gekämpft. Sie haben Kinder und sich selbst unterrichtet, geheime Organisationen in ihren Häusern aufrechterhalten. Ihre Aktivitäten haben die Gemeinschaft zusammengehalten. Sie haben sich bereitgehalten für den Zeitpunkt, da die Taliban gestürzt wurden. Doch Krieg und Besatzung lassen die Uhr wieder still stehen.

Was erwarten afghanische Frauen vom Westen?

Viele afghanische Frauen sagten mir: Wir kennen die frauenfeindlichen Gesetze und Regeln in unserer Kultur. Wir wissen, wie wir sie überwinden können. Wir glauben nicht an eine Frauenbefreiung im westlichen Stil. Eine Frauenbefreiung, die die Männer ignoriert. Wir müssen den Krieg und die gewalttätigen Konflikte stoppen. Wir brauchen Hilfe, Afghanistan wieder aufzubauen. Aber das bedeutet vor allem wirtschaftliche Hilfe, Hilfe beim Aufbau eines Gesundheitssystems. Wir sind enttäuscht, daß das Anliegen von Frauen von den Neokonservativen und Frauen im Westen instrumentalisiert wird. Wir brauchen keine Ratschläge, was wir tragen und wie wir uns gegenüber unseren Männern verhalten sollen. Wir wissen, was wir zu tun haben im Einklang mit unserer Kultur.

Interview: Christine Buchholz

Elaheh Rostami-Povey: Afghan Women - Identity and Invasion. Zed Books, London/New York 2007, 164 Seiten, 24 Euro
Weitere Informationen: elahehrostamipovey.com


* Aus: junge Welt, 26. Juli 2008


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