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Nach dem Protest ist vor dem Protest

Von Bahman Nirumand *


Auf den Straßen Irans ist es ruhiger geworden. Neun Monate lang hat das demokratische Iran der Brutalität des Regimes die Stirn geboten. Doch am Ende ist es den Machthabern gelungen, durch den Einsatz massiver Gewalt, durch tausende Festnahmen, durch Folterungen in den Gefängnissen, durch Schauprozesse und erzwungene Geständnisse, durch Hinrichtungen und langjährige Haftstrafen, die Protestierenden von der Straße zu verdrängen. Für die «erfolgreiche» Unterdrückung der Protestbewegung im Anschluss an die Wahlen im Jahr 2009 bezahlt der islamische Staat einen hohen Preis. Sie hat zu Spaltungen und zur Zersplitterung des gesamten islamischen Lagers geführt. Der Publizist Bahman Nirumand zieht ernüchtert Bilanz. Ohne Organisation und Strategie wird die «Grüne Bewegung» allerdings wirkungslos bleiben.

Tiefe, bis weit in die Reihen der Konservativen reichende Risse deuten auf einen verstärkten Zerfall jenes Staates, den Ayatollah Khomeini mit Unterstützung beinahe des gesamten Volkes vor nun mehr als dreißig Jahren gegründet hatte. Treue Anhänger des klerikalen Staates, die über Jahrzehnte das Schicksal des Landes mit gelenkt haben sowie Inhaber von Schlüsselpositionen haben die Loyalität zu der Staatsführung aufgegeben. Gewichtige religiöse Instanzen und renommierte Großayatollahs sind auf Distanz gegangen. Journalisten, Kulturschaffende, die überwiegende Mehrheit der Studierenden und Millionen Angehörige der Zivilgesellschaft haben – weit mehr als zuvor – dem Regime den Rücken gekehrt. Zu all dem kommt der unersetzbare Verlust der Legitimität. Denn das Regime kann nach dem unfassbaren Wahlbetrug und den offenkundig gewordenen Verbrechen der letzten Monate gegen Kritiker und Andersdenkende seinen Anspruch, ein islamischer Staat bzw. eine moralische Instanz zu sein, längst nicht mehr aufrechterhalten. Die Turban tragenden Gottesmänner und ihre zivilen Weggefährten können sich schon lange nicht mehr auf die breiten Massen, auf das gläubige Volk stützen. Sie können ihre Ziele nur noch mit Waffengewalt und Terror erzwingen. Das ist für einen Staat, der die Bezeichnung «islamisch» trägt und dem es über lange Jahre gelungen war, die Mehrheit des Volkes ideologisch an sich zu binden, nicht tragbar, ja geradezu tödlich. Dass das Regime nicht einmal imstande war, zum Jahrestag der Revolution in der vierzehn Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt Teheran einige hunderttausend Anhänger zur Teilnahme an der Jahresfeier zu mobilisieren, zeigt das Ausmaß des Machtverlustes. Die Regierung sah sich gezwungen, Leute mit Bussen, Eisenbahnen und Lastwagen aus der Provinz herbeizuholen, um breite Unterstützung im Volk vortäuschen zu können.

«Die ‹Grüne Bewegung› steht mit leeren Händen einem repressiven Regime gegenüber.»

All dies kann wiederum die Opposition als Erfolg für sich buchen. Objektiv betrachtet, könnte man die hier kurz geschilderte Lage für eine Systemveränderung oder zumindest einen politischen Kurswechsel als äußerst günstig bezeichnen. Doch in Wirklichkeit ist die Opposition, die «Grüne Bewegung der Hoffnung», von diesen Zielen noch weit entfernt. Denn sie steht mit leeren Händen einer gut organisierten und zu jeder Brutalität bereiten Militärmacht gegenüber. Das Regime verfügt trotz erheblicher Verluste an seiner Basis im Volk nicht nur über das Militär, die Polizei und die Sicherheitskräfte. Auch die Milizen der Basijis und eine ganze Reihe paramilitärischer Organisationen und Geheimdienste stehen unter seinem Befehl. Gerade diese Kräfte, die sich aus den untersten Schichten der Gesellschaft rekrutieren und sich sowohl ideologisch als auch materiell dem Regime existenziell verbunden fühlen, gehören zu den Hauptstützen der herrschenden Macht. Diese ungleichen Machtverhältnisse bilden für die Opposition eine Hürde, die sich so leicht und vor allem kurzfristig nicht überwinden lässt. Sie ist aber nicht die einzige Hürde, die der «Grünen Bewegung» im Wege steht.

Die große Masse der Teilnehmer an den Demonstrationen nach der Präsidentenwahl im vergangenen Jahr sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den Protesten nicht um einen Volksaufstand handelte, sondern um eine Protestbewegung, eine Bewegung, die nicht im klassischen Sinn organisiert ist, die keine eindeutige Führung, keinen klaren Plan und keine nachvollziehbare Strategie hat. Sie bildet eine heterogene Masse mit unterschiedlichen Zielsetzungen, Vorstellungen und Erwartungen. Sie ist ein mehr oder weniger locker zusammengesetztes Netzwerk, das sich nach der tiefen Enttäuschung über die Wahl des Präsidenten spontan gebildet hat. Die Forderung nach Annullierung der Wahl und Durchführung von Neuwahlen war zunächst das Ziel, auf das man sich einigen konnte. Doch bald, nachdem sich zeigte, dass das Regime zu keinerlei Zugeständnis bereit war und folglich die Forderung nach Neuwahlen sich nicht durchsetzen ließ, kamen immer mehr Differenzen zum Vorschein.

«Die ‹Grüne Bewegung› will Freiheit, Unabhängigkeit und Modernisierung»

Historisch betrachtet, ist die «Grüne Bewegung» die Fortsetzung jener Bewegung, die bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts zur konstitutionellen Revolution von 1906 führte, in den fünfziger Jahren unter der Führung von Mohammad Mossadegh durch die Bewegung zur Nationalisierung der Ölindustrie das Streben nach Freiheit und Unabhängigkeit zum Ausdruck brachte und schließlich 1979 im Volksaufstand gegen die Diktatur des Schahs ihren vorläufigen Gipfel fand. Im Laufe dieser mehr als hundertjährigen Kampfes, bei dem es stets um Freiheit, Unabhängigkeit und Modernisierung ging, hat sich eine Zivilgesellschaft gebildet, die trotz aller politischen Verheerungen, die das Land heimgesucht haben – zuletzt fünfundzwanzig Jahre Schah-Diktatur und nun über dreißig Jahre klerikale Diktatur – sich erhalten und weiter entwickelt hat. Es ist für radikalislamische Kräfte wohl eine bittere Erkenntnis, dass es ihnen niemals gelungen ist, die traditionsreiche iranische Zivilgesellschaft voll auszuschalten und ihren Gottesstaat zu etablieren. Sie hatten sich zwar im Verlauf des Volksaufstands auf den fahrenden Zug gesetzt, und die Revolution, die ursprünglich völlig andere Ziele im Sinn hatte, für sich monopolisiert. Aber sich voll durchsetzen, konnten sie nie. Das ist einzig und allein dem Widerstand der Zivilgesellschaft zu verdanken.

Die Bezeichnung für den neuen Staat – Islamische Republik – dem der damalige Revolutionsführer Ayatollah Khomeini wohl zähneknirschend zugestimmt hat, war ein Zugeständnis an die iranische Zivilgesellschaft. Damit haben die neuen Machthaber einen substanziellen Widerspruch hingenommen, der gravierende Folgen hatte. Wie sollte es gelingen, die Bezeichnung «islamisch», mit der ein Gottesstaat gemeint ist, der seine Anweisungen aus dem Koran empfängt, mit der Bezeichnung Republik, die sich nach dem Willen des Volkes richtet, in Einklang zu bringen? Dieser eklatante, nicht aufzulösende Widerspruch macht sich selbstverständlich auch in der Verfassung der Islamischen Republik bemerkbar. Neben Organen, die formal dem Volkswillen unterliegen und vom Volk direkt gewählt werden, wie das Parlament oder der Staatspräsident, stehen Instanzen, die aus republikanischer Sicht völlig absurd erscheinen. Der Revolutionsführer ist fast mit unbegrenzter Macht ausgestattet. Der Wächterrat kann jedes vom Parlament verabschiedete Gesetz zurückweisen. Zudem bestimmt er vor jeder Wahl, wer für einen Sitz im Parlament oder für das Amt des Präsidenten kandidieren darf. Weitere ernannte Organe sind ebenfalls in der Lage, jedes Volksbegehren zunichte zu machen.

Der Widerspruch zwischen Gottesstaat und Republik hat bereits in den ersten Jahren nach der Gründung des neuen Staates die iranische Gesellschaft zweigeteilt. Dennoch hat der Widerspruch zwischen Gottesstaat und Republik zum Bedauern der Strategen des Regimes in der Verfassung und der Gesetzgebung Lücken und Freiräume geschaffen, in denen die Zivilgesellschaft trotz aller Repressionen sich weiterentwickeln konnte. Frauen, Jugendliche, Künstler, Schriftsteller, Filmemacher und Journalisten bahnten ihren Weg, bildeten regierungsunabhängige Organisationen, planten Kampagnen und kämpften für ihre individuellen und gesellschaftlichen Rechte.

«Was ist aus den Idealen der Revolution geworden?»

Doch auch die geschlossene Gesellschaft im islamischen Lager begann im Laufe der Jahre zu bröckeln. Insbesondere nach dem Ende des achtjährigen Kriegs zwischen Iran und Irak und dem Tod Khomeinis, fragten sich viele, die dem Staat bis dahin ihre Treue erwiesen hatten, wie weit das, was aus dem islamischen Staat geworden war, mit ihren Idealen zur Zeit der Revolution zu vereinbaren sei. Aus dieser Fragestellung entwickelte sich die so genannte Reformbewegung. Viele geistliche und zivile Anhänger des islamischen Staates begannen sich mit dem Islam und iranischen Kultur, Geschichte und Tradition auseinanderzusetzen, was zu der Erkenntnis führte, dass zwar ein islamischer Staat nach wie vor zu erhalten sei, dies jedoch grundlegende Reformen des islamischen Glaubens, der Gesetzgebung sowie der Machtverhältnisse und Strukturen voraussetze. Mit diesen Ideen und Ansprüchen konnte Mohammad Khatami, der sich 1997 um das Amt des Staatspräsidenten bewarb, auch die Unterstützung größerer Teile der Zivilgesellschaft gewinnen. Doch Khatami, der dann acht Jahre lang regierte, scheiterte. Er wollte oder konnte die Spaltungen in der Gesellschaft nicht aufheben. Während die eigentliche Macht bei dem Revolutionsführer und den ihm unterstehenden Organe und Instanzen lag, verpasste Khatami die Chance, mit Hilfe der Zivilgesellschaft eine Gegenmacht aufzubauen.

Diese bittere und für Millionen enttäuschende Erfahrung wirkt noch bis heute nach. Nun sind in der «Grünen Bewegung» – wie damals bei der Wahl Khatamis – sowohl Anhänger eines islamischen Staates, als auch Reformer und laizistische Anhänger der Zivilgesellschaft vertreten. Die Grenzziehung ist nicht mehr so scharf. Zwischen den Lagern hat es spürbar eine Annäherung gegeben, was historisch betrachtet, von großer Bedeutung ist. Dennoch sind die ideologischen und politischen Differenzen längst nicht überwunden.

Reformen oder Systemwechsel

Vereinfacht gesagt, besteht die Protestbewegung aus zwei Strömungen, von denen die eine Reformen im Rahmen des islamischen Staats anstrebt und die andere ein Systemwechsel zum Ziel hat. Die bei der Präsidentenwahl unterlegenen Kandidaten Mir Hossein Musawi und Mehdi Karrubi, die seit Anbeginn zur Elite der Islamischen Republik gehörten und Träger von höchsten Staatsämtern waren, haben nie aus ihrer Loyalität zum islamischen Staat einen Hehl gemacht. Das gilt auch für den ehemaligen Staatspräsidenten Khatami und erst recht für Politiker wie Ex-Präsident Haschemi Rafsanjani. Was diese Politiker und ihre Anhänger wollen, ist nichts anders als eine Liberalisierung, soweit sie im Rahmen der bestehenden Verfassung möglich ist. Sie wollen den erwähnten Widerspruch zwischen dem Gottesstaat und einer Republik nicht lösen, was ohnehin nicht möglich wäre, sondern das Schwergewicht mehr auf das Republikanische legen. Somit sind auch ihre Forderungen nach freien Wahlen, Freiheit der Presse und Meinungsäußerung als Forderungen aufzufassen, denen durch die Verfassung enge Grenzen gesetzt sind.

Genau diese Grenzen veranlassen die andere Strömung dazu, einen Systemwechsel zu fordern. Demokratische Rechte und Freiheiten, wie sie in den UN-Konventionen verankert sind, ließen sich ebenso wenig wie freie Wahlen im Rahmen der islamischen Staatsordnung und der Verfassung realisieren, meinen die anderen. Das System der absoluten Herrschaft der Schriftgelehrten, die in der Verfassung festgelegten Machtstrukturen ebenso wie die Einheit zwischen Religion und Staat stünden im Widerspruch zu demokratischen Verkehrsformen, argumentieren die Systemgegner.

Dabei verweisen sie auf die Khatami-Ära, in der es nicht gelungen war ein einziges Reformgesetz durchzubringen.

Trotz dieser grundlegenden Differenzen hat sich die Protestbewegung bislang nicht gespalten. Wären die Machthaber zu Zugeständnissen an die gemäßigten Reformer bereit gewesen, hätten sie möglicherweise einen tiefen Riss in der Opposition erzeugen können. Sie aber blieben hart. So hat ihr Absolutheitsanspruch die Opposition eher zusammengeschweißt. Zudem weisen zumindest die Realisten unter den Systemveränderern darauf hin, dass Forderungen nach freien Wahlen oder Freiheit der Presse ihren Zielen nicht entgegenstehen. Auch unter den Reformern gibt es aufgrund der Entwicklung der letzten Jahre immer mehr Stimmen, die sich gegenüber Vorschlägen zu möglichen Korrekturen der Verfassung nicht verschließen. Damit sind sie der Position der Gegenseite näher gekommen. Dies umso mehr, weil schon mit der ersten Amtszeit der Regierung Ahmadinejad 2005 sich im islamischen Gottesstaat eine Wandlung vollzogen hatte, die ein Wirken des Reformflügels innerhalb des islamischen Lagers zunehmend ausschloss. Man kann schon von einem schleichenden Putsch sprechen, der eine Militarisierung des gesamten Staatsapparats zufolge hatte.

Die zweite Generation

Hauptakteur bei dieser Wandlung war die Organisation der Revolutionswächter (sepah-e pasdaran). Ehemalige Kommandeure der Pasdaran übernahmen nahezu sämtliche Schlüsselpositionen im Staat. Sie stammten zumeist aus der zweiten Generation nach Khomeini. Während Khomeini und seine Weggefährten wie Rafsanjani, Khamenei und andere die Macht innehatten und alle damit verbundenen Privilegien für sich in Anspruch nahmen, sorgte die zweite Generation für Erhaltung des Gottesstaates. Sie liquidierte die Opposition, organisierte die Massendemonstrationen, trug die Staatsideologie in die entferntesten Dörfer, stand im Krieg gegen den Irak an vorderster Front und brachte die meisten Opfer, kurz, sie machte die ganze Drecksarbeit.

Die Regierungsübernahme durch Khatami war die letzte Warnung für diese Generation, deren Sozialisation vom Krieg und Märtyrertum und deren Ideologie von Verschwörungstheorien und Feindbildern geprägt waren. Diese jüngeren warfen den älteren Machthabern Verrat der Ideale der Revolution und Korruption vor und organisierten sich zur Übernahme der Macht, was ihnen schließlich auch 2005 mit der Amtsübernahme von Präsident Ahmadinejad gelang. Sie führten nicht nur eine gründliche Säuberung und Umbesetzung im Staatsapparat durch, sie setzten auch eine schleichende Entmachtung der traditionellen Geistlichkeit in Gang. Ideologisch orientierten sie sich hin zur Rückkehr des verborgenen Imam Mahdi, des islamischen Messias, und fühlten sich dazu berufen, dessen Rückkehr vorzubereiten. Erst dann werde überall auf Erden Gerechtigkeit herrschen, meinen die neuen Radikalen. Die Konsequenz aus dieser politischen und ideologischen Kursänderung war eine Monopolisierung der Macht. Während es unter Khomeini und auch in späteren Jahren immer wieder gelang, eine Balance zwischen den verschiedenen Strömungen im islamischen Lager herzustellen und nach außen Einigkeit zu demonstrieren, fühlen sich heute nicht nur die Reformer aus der Macht ausgeschlossen, sondern auch immer größere Teile der Konservativen und nicht zuletzt die traditionelle Geistlichkeit. Gegenwärtig sind die Revolutionswächter nicht nur politisch und militärisch, sondern auch ökonomisch die alles überragende Macht im Iran. Sie sind wesentlich am Öl- und Waffengeschäft beteiligt, führen die staatlichen Großaufträge durch, kontrollieren den Handel und den lukrativen Schwarzmarkt. Dass all dies zu einer wirtschaftlichen Katastrophe geführt hat, kümmert sie nicht. Solange das Öl fließt, steht ihre Macht nicht in Gefahr.

Antiimperialismus ist romantische Illusion

Diese Macht wird weder für nationale Interessen eingesetzt noch für soziale und erst recht nicht für antiimperialistische Ziele, sie dient einzig und allein dem Erhalt der eigenen Macht und der Durchsetzung einer vom Mahdi-Wahn geprägten Ideologie. In diesem Rahmen sind auch die Attacken gegen Israel und die USA einzuordnen. Wie sonst könnte eine Regierung den nationalen Ressourcen, insbesondere der eigenen Industrie und Landwirtschaft durch die grenzenlose Öffnung des iranischen Markts für ausländische Waren einen derart verheerenden Schaden zufügen? Zahlreiche Industrie- und Landwirtschaftsbetriebe sind in den letzten Jahren zu Grunde gegangen, weil sie mit billigen ausländischen Waren nicht konkurrieren konnten. Dass heute der iranische Markt aufgrund von Sanktionen nicht mehr vorwiegend von westlichen Produkten, sondern von Waren aus China und anderen ostasiatischen Ländern beherrscht wird und chinesische Unternehmen mit Abermilliarden in die Fußstapfen westlicher Investoren getreten sind, können wohl nur jene als antiimperialistischen Kampf deuten, die aus den Zeiten des Kalten Kriegs noch nicht aufgewacht sind.

Mittlerweile haben sich die Solidaritätsbekundungen Ahmadinejads für Arme und Entrechtete als pure Demagogie erwiesen. Die «Almosenwirtschaft», mit der Teile der Menschen in der Provinz ihr Leben fristen, dient einzig dem Erhalt des eigenen Fußvolks, das bei Wahlen oder Kundgebungen und Demonstrationen Gewehr bei Fuß steht. Jedem Iraner ist bekannt, dass Ahmadinejad bei den Wahlen im vergangenen Jahr in die Provinz reiste und mit Säcken von Kartoffeln Stimmen sammelte, was im Volksmund als «Kartoffelwahlkampf» die Runde machte.

Wie soll es weitergehen?

Für die «Grüne Bewegung» stellt sich die Frage, wie sie unter den gegebenen Umständen ihre Ziele, ob Reformen oder Systemwechsel, erreichen könnte. Jedenfalls – das hat sich im Verlauf der letzten zwölf Monate herausgestellt – nicht allein durch Straßenproteste, die man ohnehin nicht beliebig lang fortsetzen könnte. Zwei Strategien wären nach meiner Auffassung denkbar. Die erste wäre die klassische.

Zwar haben sich große Massen an den Protestdemonstrationen beteiligt, dennoch ist der Funke von der «Grünen Bewegung» nicht zu den Hauptzentren der Wirtschaft und des Handels übersprungen. Ihre Forderungen beschränkten sich auf demokratische Rechte, ihre Adressaten waren Teile der städtischen Mittelschicht, Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller, Journalisten, Frauen und Jugendliche. Gewerkschaften, Werktätige, Händler, Produzenten, Bauern und Landarbeiter wurden nur vereinzelt und nur am Rande einbezogen. Es wurde nicht einmal der Versuch unternommen, an den sporadischen Streiks der Fabriken in verschiedenen Landesteilen anzuknüpfen. Selbst als der Bazar, der als Schlagader der iranischen Wirtschaft gilt, einige Tage lang wegen angekündigter drastischer Steuererhöhung in den Streik trat, blieb die «Grüne Bewegung» davon nahezu unberührt. Die Bewegung muss versuchen, durch Aufklärungsarbeit und durch Aufnahme ökonomischer und sozialer Forderungen, die Massen für ihre Ziele zu gewinnen. Wenn es gelingen würde, landesweite Streiks in den Produktions- und Dienstleistungszentren oder in den Bazaren zu organisieren, wäre damit viel gewonnen. Begünstigt wird eine solche Strategie durch die katastrophale Wirtschaft, Armut und immer weiter steigende Arbeitslosigkeit und nicht zuletzt durch die Rechtlosigkeit der Arbeiter und Angestellten. Bei dieser langfristigen Strategie wäre es durchaus möglich, wie damals unter dem Schah, auch innerhalb der Streitkräfte, ja sogar unter den Revolutionswächtern und Basiji-Milizen eine Spaltung zu erzeugen.

Der Nachteil dieser Strategie ist, dass sie viel Geduld voraussetzt. Sie bringt die Gefahr mit sich, dass insbesondere Jugendliche, die die Bewegung zu einem bedeutenden Teil mittragen, die Geduld verlieren und sich nach und nach resignierend zurückziehen. Anzeichen dafür sind bereits heute spürbar.

Nun legt die besondere Lage im Iran einen zweiten Weg nah, der möglicherweise wesentlich schneller zum Ziel führen könnte: Es muss alles daran gesetzt werden, um den Zerfallsprozess des Staates, der bereits weit gediehen ist, zu beschleunigen. Bei dieser Strategie spielen die Reformer, allen voran Musawi, Karrubi und Khatami eine wichtige Rolle. Sie waren es, die von innen heraus den Zerfallsprozess in Gang gesetzt haben. Für diese Strategie gibt es genug Kampffelder, genauso viele, wie es Widersprüche im System gibt. Man könnte zum Beispiel neben freien Wahlen die Forderung nach Einschränkung der Befugnisse des Revolutionsführers, des Wächterrats oder anderer Organe, die nicht vom Volk gewählt werden, stellen oder die Einschränkung der Amtszeit des Revolutionsführers fordern. Man kann die wirtschaftliche und politische Monopolstellung der Revolutionswächter, unter der auch private Unternehmer und Händler stark zu leiden haben, in den Mittelpunkt der Kritik stellen. Weitere Angriffspunkte bieten die Wirtschaftspolitik und die Außenpolitik. Die Regierung Ahmadinejad hat die iranische Wirtschaft fast in den Ruin getrieben und mit ihrer starrköpfigen Außenpolitik dem Land erheblichen Schaden zugefügt. Die Sanktionen werden die Bevölkerung hart treffen und die Zahl der Armen und Arbeitslosen weiter in die Höhe treiben. Auch die Gefahr eines militärischen Angriffs rückt immer näher.

Mit konkreten Forderungen, die auf diese katastrophale Lage zielen, ließen sich nicht nur die betroffenen Massen mobilisieren, sondern auch größere Teile im konservativen Lager. Auch die Diskrepanz zwischen dem Selbstverständnis des Islam und der vom Staat geübten Praxis bietet ausgesprochen günstige Möglichkeiten zu weiterer Mobilisierung gerade der frommen Gläubigen, allen voran der Großayatollahs, die eine wichtige, ja unverzichtbare Säule der Islamischen Republik bilden. Das Ziel wäre mit einem Wort, den Machthabern immer mehr die Basis zu entziehen und sie soweit zu isolieren, bis der gesamte Machtapparat vollständig in sich zerfällt.

Die Frage der Oppositionsführung

Folgte man beiden Strategien gleichzeitig, käme man dem Ziel um wesentliche Schritte näher. Dies alles ist jedoch nur machbar, wenn die Bewegung über eine entsprechende Organisation verfügt. Die ist aber bislang nicht vorhanden. Die «Grüne Bewegung» ist ein locker zusammengefügtes Netzwerk, das weder ein einheitliches Programm noch eine eindeutige Führung besitzt. Zwar gelten die Oppositionspolitiker Musawi und Karrubi als mehr oder weniger anerkannte Repräsentanten der Protestbewegung. Als Führung finden sie keine allgemeine Anerkennung, zumal beide über Jahre und Jahrzehnte in hohen Positionen standen und somit die Geschehnisse der Vergangenheit über weite Strecken mit zu verantworten haben. Musawi war neun Jahre lang unter Khomeini Ministerpräsident und Karrubi stand zwei Perioden lang dem Parlament vor. Auch ihre ständigen Treuebekenntnisse zu der Verfassung, zum islamischen Staat und zu Khomeini als Vorbild und unantastbare Instanz sind zumindest für den linken Flügel innerhalb der Protestbewegung mehr als problematisch. Es wird befürchtet, dass es ihnen und ihren Anhängern eher um eine Machtbeteiligung oder einen Machtwechsel geht als um tief greifende Reformen.

In naher Zukunft ist weder eine Revolution noch ein Volksaufstand zu erwarten, wie es manche Utopisten hoffen. Was übrig bleibt, ist der Weg der Reformen, die ohne eine enge Zusammenarbeit mit den Reformern nicht durchsetzbar wären. Ein gemeinsames Programm und eine zuverlässige Organisationsform mit einer aus verschiedenen Fraktionen zusammengesetzte Führung wären dringend zu empfehlen.

* Bahman Nirumand, Publizist, Berlin.


Dieser Beitrag erschien in: INAMO (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Heft Nr. 63/Herbst 2010, 16. Jahrg., Seiten 4-7

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